Die Heiligen und die Bösen
Rap, Protest und Nationalkultur in Frankreich von Jacques Denis
Man könnte meinen, hier spricht Nicolas Sarkozy: „Es gibt Themen, wie die Vorstädte zum Beispiel, da darf es keine Rolle spielen, welcher Partei man angehört. Hier muss die Republik als Ganzes zusammenstehen. Wir brauchen für die Vorstädte einen Marshallplan.“ Dies stammt mitnichten aus einer Rede des „Präsidenten aller Franzosen“. Tatsächlich flossen diese Zeilen dem Rapper Abd Al Malik aus der Feder, Sohn kongolesischer Immigranten und aufgewachsen in Straßburgs Problemviertel Neuhof. Als er dazu aufrief, „das Leidensgepäck“ abzulegen, den über die Jahrhunderte der Ausbeutung angesammelten Groll, wurde diese Anwandlung sufistisch geprägter Weisheit von allen französischen Medien, egal ob rechts- oder linksgerichtet, dankbar aufgegriffen – zumal nach den Novemberunruhen von 2005.
„Gibraltar“, das zweite Soloalbum des friedfertigen Dichters aus dem Jahr 2006, wurde denn auch wie geweihtes Brot empfangen und vielfach ausgezeichnet. Am 27. Januar 2008 verlieh die französische Kulturministerin Christine Albanel bei der heiligen Musikmesse Midem in Cannes dem Rapper sogar den Orden eines Chevalier des Arts et des Lettres1 und lobte ihn in ihrer Laudatio als „einen herausragenden Vertreter der Hiphop-Kultur, der einen bewussten und brüderlichen Rap predigt“. Darauf antwortete der Geehrte, Autor des Buchs „Qu’Allah bénisse la France!“ (Allah segne Frankreich!): „Der heutige Tag lässt mich mein Land noch mehr lieben. Meine Mutter hat mir einmal gesagt: Liebe Frankreich, und Frankreich wird deine Liebe erwidern. Ich habe das nie vergessen. Es lebe Frankreich!“2
Auf seiner Website hatte derselbe Abd Al Malik einige Tage zuvor sein neues Album, „Spleen et idéal“ (mit dem Kollektiv Beni Snassen), vorgestellt: „Wir wollen zum Ursprungsgeist des Rap zurückkehren, ihm seinen Adelsbrief zurückgeben, zeigen, dass diese Musik fähig ist, Intelligenz, Relevanz, eine Ästhetik zu transportieren, ohne die Menschen auseinanderzubringen. (…) Die Rapper können einen großen Teil der Gesellschaft beeinflussen. Diese Rolle verpflichtet uns zur Verantwortung.“3 Am Ende erklärte er, dass man den Hiphop nicht auf eine soziale Realität reduzieren könne. Das ist allerdings ein seltsamer Widerspruch zu den Ursprüngen dieser Subkultur als Forum der vom amerikanischen Traum ausgeschlossenen Minderheiten.
Al Maliks kluge Selbstinszenierung hat einiges gemein mit den Reden von Sarkozy: „Ich will Schluss machen mit der Reue, die nur eine Form des Selbsthasses ist, und mit der Rivalität der Erinnerungen, die den Hass auf die anderen nährt.“ Bei einer jungen Generation, die nach Antworten auf ihre Identitätskrise sucht, lösen solche Worten allergische Reaktionen aus, wie bei dem 34-jährigen Schauspieler und Slampoeten D’ de Kabal: „Dieser Satz ist so typisch. Leere Worte. Das ist kein Reden, es ist nur PR. Politiker sein bedeutet für diese Leute, Konsens auf Konsens zu häufen, um möglichst vielen zu gefallen. Ich will mit meiner Kunst genau das Gegenteil.“
D’ de Kabal, geboren auf Martinique, aufgewachsen in Bobigny, erprobt seit über zehn Jahren seine raue Stimme in allen möglichen Ausdrucksformen. Im Mai 2007 schrieb er für seine Performance „Écorce de peines“ (Rinde der Schmerzen): „Jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache, höre ich die Stimme unserer Väter … Jedes Mal, wenn ich schreie, höre ich den Schrei unserer Mütter …“
Wütende Bürger einer Bananenrepublik
Das lange Gedicht beginnt mit dem 18. Jahrhundert und endet in der Gegenwart im Alltag der Vorstädte, und es dreht sich um Sklaverei, deren Nachhall in den städtischen Jugendkulturen, um viel Ungesagtes. Woran auch immer D’ de Kabal mitwirkt, er vertritt eine klare Position. Seines neuestes Album heißt „La Théorie du K.O.“. Eine so radikale Stimme hört man nicht im Radio, wo eher weichgespülter Rap gespielt wird, der niemandem wehtut.
Es gibt noch ein paar mehr Rapper mit Studienabschluss – wie Ekoué, Magister der Politikwissenschaften, der genauso alt ist wie Al Malik und in Villiers-de-Bel aufwuchs. „Marx hat ein paar Sachen geschrieben, die heute aktueller sind denn je. Ja, eine Minderheit schadet der großen Mehrheit“, sagt er. Anfang der 1990er-Jahren gründete er mit Freunden die Gruppe La Rumeur.
„Sie wollten mein Schweigen mit den Bällen der Fußballelf erkaufen“, heißt es in einem ihrer Stücke. Ekoué glaubt nicht an „diese wohlfeilen und naiven Sprüche von wegen ‚gemeinsam leben‘ “. So einfach sei das nicht. „In den westlichen Gesellschaften gibt es einen strukturellen Rassismus.“ Sein Vater, ein Wirtschaftsprüfer, hat nicht die seinem Abschluss entsprechende Karriere gemacht. Ein Togoer zu sein, noch dazu ohne Kontakte zum Clan des Expräsidenten Gnassingbé Eyadéma, hat seinenPreis in der „Bananenrepublik“, wie er Frankreich nennt.
Auch Hamé, promovierter Soziologe und Mitglied von La Rumeur, verbindet die Gegenwart mit einer historischen Abrechnung: „Wenn Historiker über die schmutzige Vergangenheit Frankreichs sprechen, geht das durch, weil die breite Masse eh nichts davon mitbekommt. Wir wollen diese Debatte wieder auf die Straßen tragen. Das, was unsere Familien erlebt haben, gibt uns das Recht dazu. Klar, ist das unangenehm. Doch solche Fragen sind nicht eine Privatangelegenheit von La Rumeur. Es geht um ein Problem der gesamten Gesellschaft.“
Hamé, Sohn eines algerischen Landarbeiters, wurde vor Gericht gestellt4 , weil er polizeiliche Übergriffe und Verbrechen öffentlich angeprangert hatte, für die niemand je bestraft wurde – wie das Massaker vom 17. Oktober 1961 an Dutzenden Algeriern in Paris5 . Hamé, dialektisch geschult, zählte sich schon immer zur „Gegenmacht, kulturell und symbolisch. Und jetzt auch politisch.“ Wie Ekoué will er nicht in die Ja-ja-Predigten des Rappers Grand Corps Malade (Großer Kranker Körper) einstimmen. Hinter diesem Namen steckt Fabien Marsaud, der seit seinem 20. Lebensjahr infolge eines Schwimmunfalls teilweise gelähmt ist. Dieser Rapper wird geradezu messianisch verehrt: Geboren und aufgewachsen im Problemdepartement Seine-Saint-Denis, loben ihn die Medien als „positive“ Stimme, sicher auch, weil er die schweren Folgen seines Unfalls so gut meistert. Seine Texte handeln von Nächstenliebe jenseits der „politischen Farben“.
„Das ist das Ergebnis einer vagen Ideologie, die der Vorstadtjugend ihre Fehler vorhält und individuelle Verantwortung einfordert und dabei die sozialen und historischen Fakten ausblendet“, sagt Hamé. „Solche Gutmenschen verschaffen den Medieneliten symbolisch ein reines Gewissen und entschärfen die Probleme“ – ohne sie zu lösen. Krisenzeiten haben auch ihren Vorteil, sagt Hamé: Die Masken fallen. Und er betrachtet die Unruhen vom November 2005 als „die wichtigste soziale Bewegung in Frankreich seit zehn Jahren“.
Die Rapper von La Rumeur sind nicht die Einzigen, die in ihren Texten mit der Armutsstatistik arbeiten.6 Auch die Solisten Rocé und Dgiz schneiden das Thema direkt an. Die beiden Rapper surfen auf Worten und Widrigkeiten, verbinden Schwung mit der Grammatik des Free Jazz und tauchen mit ihren Texten in das Rassentrauma ein, das sie täglich als Diskriminierung erleben. Das Kollektiv Fada aus Bordeaux stimmt mit düsteren Tönen ein und rappte anlässlich des Jahrestags der Abschaffung der Sklaverei 2005, als eine Büste des Befreiers von Haiti, Toussaint, enthüllt wurde: „Bordeaux, Stadt der Sklaven und Galeeren / Denkst du wirklich noch an deine großen Neger, die sich wehren / Du willst sie vergessen, doch Toussaint wird aufbegehren / Immer wird es wer bewahren, uns erinnern, wer wir waren.“
In der Protestfraktion gibt es nicht wenige Frauen. „Eine Revolte ist eine Reaktion, ein instinktiver Impuls. Eine Revolution ist eine Umwälzung, eine Bewegung wie eine große Welle.“ Die 25-jährige Keny Arkana, Tochter argentinischer Immigranten, die in Marseille aufwuchs, erzählt von den piqueteros (abgeleitet von dem Wort piquete, Streikposten), die Mitte der 1990er-Jahre im Süden Argentiniens mit Straßenblockaden gegen Entlassungen und Rationalisierungsmaßnahmen protestierten. Sie unterstützt – nicht ohne Vorbehalte – den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und steht in Kontakt mit alternativen Bewegungen, allerdings „nicht gerade mit solchen, die nur die verlängerten Arme der Regierungen sind“. Sie hat in Bamako am Weltsozialforum teilgenommen und ihre Schlüsse daraus gezogen. „Das ist eine vertikale Ausübung von Macht, nicht eine radikale, von den Wurzeln her. In Nairobi konnten die Einheimischen nicht mitdiskutieren!“
Gerade hat sie ihre lange Tournee „Der Kopf im Kampf“ beendet und dabei lokale Foren organisiert. Vor kurzem erschien ihr zweites Album „Désobéissance“ (Ungehorsam). Ist sie eine Utopistin? „Nein, pragmatisch. Das Volk hat keine Wahl mehr. Wir müssen uns die Werte und die Worte zurückerobern. Auch unser eigenes Herz wurde vom Kapitalismus kolonisiert.“ Natürlich werden Zyniker einwenden, dass diese Träumerin sich mit ihren etwas zu kurzen Texten aufführt, als wäre sie eine zweite Pasionaria. Sie aber sagt besonnen, auch sie wisse sich als Teil des Systems zu verhalten. Aber man müsse auch „aufbrechen, sofort“ – so schrieb sie in ihrem Blog am Abend von Sarkozys Wahlsieg.
Brief an den Präsidenten
Die Rapperin Princess Anies nahm als unmittelbare Reaktion auf den Erfolg des Front National bei den Präsidentschaftswahlen am 21. April 2002 den Song „HipHop Citoyen“ (Hiphop-Bürger) auf und gründete auch die gleichnamige Organisation. Fünf Jahre später schrieb sie „Lettre au président“ (Brief an den Präsidenten). „Keine Antwort!“ Danach wurde ihr Blog bei Skyrock gesperrt, „weil ich die Inhaltsregeln nicht beachtet hatte“. „Es gibt Zensur. Man muss sich nur anschauen, was mit La Rumeur passiert. Wenn du den Sachen auf den Grund gehst, hast du zu den großen Medien keinen Zugang mehr.“ Princess Anies ist bekannt für ihr Engagement gegen Homophobie und macht ihren Weg getreu ihrem ersten Szenenamen Attila, einer Anspielung sowohl auf ihre asiatische (taiwanesische) Herkunft als auch auf ihren Hang zum Hardcore.
Das Gleiche gilt für Bams, eine aus Kamerun stammende Rapperin, die mehrsprachig im Untergrund arbeitet. Und dann gibt es noch Casey (eigentlich Cathy Palenne) aus Martinique, die ebenfalls in Seine-Saint-Denis aufgewachsen ist. Sie rappt ihre Texte wie Faustschläge8 : „Es ist alles gleich in diesem schönen Frankreich / Mein Schmerz, mein Jetzt, mein Damals, alles gleich / Ob am Grund des Abgrunds oder oben, keine Wahl / Ich bin hier in jedem Fall, und man hasst mich total / Meine Narben sind voll Stress, voll blauer Flecken ist mein Rücken / Voll rassistischer Refrains, die mich jeden Tag bedrücken / Voller Zysten, voller Wunden, Quälerei und schwerer Ketten.“
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Jacques Denis ist Journalist.