12.09.2008

Kurze Geschichte der allgemeinen Schulpflicht

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Kurze Geschichte der allgemeinen Schulpflicht

Die Einführung der Schulpflicht gehört zu den in der Regel als Fortschritt beurteilten Ereignissen der Bildungsgeschichte der Moderne. Mag sie auch in Deutschland nicht so emphatisch gefeiert worden sein wie in Frankreich, wo sie zusammen mit dem Wahlrecht und der Wehrpflicht als Verkörperung des modernen Gleichheitsversprechens dargestellt wird1 , so gehört deren Durchsetzung auch hierzulande zu den wesentlichen Bestandteilen einer demokratischen Gesellschafts- und Bildungsverfassung.

Die „gesetzliche Schulpflicht“ bezeichnet dabei eine historisch keineswegs eindeutige Norm. Systematisch folgenreich war und ist vor allem die Unterscheidung von „Unterrichtspflicht“ und „Schulpflicht“. Das lässt sich exemplarisch für Preußen zeigen. Seit dem frühen 18. Jahrhundert wurde hier versucht, den Schulbesuch der Landeskinder zu regulieren. Bis zur Weimarer Republik blieben die Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794 verbindlich. So heißt es im 12. Titel – „Von niedern und höhern Schulen“: „Jeder Einwohner, welcher den nöthigen Unterricht für seine Kinder in seinem Hause nicht besorgen kann oder will, ist schuldig, dieselben nach zurückgelegtem fünften Jahre zur Schule zu schicken.“

Man muss hier von „Unterrichtspflicht“ sprechen, weil es in der Pflicht des „Hausvaters“ stand, für den Unterricht zu sorgen, und zwar „in seinem Hause“. Erst wenn er das nicht „selbst besorgen kann oder will“, entstand die Pflicht, die Kinder zur Schule zu schicken. Doch selbst dann bestand noch kein Zwang zum Besuch einer staatlichen Schule. So schickten die Wohlhabenden ihre Kinder selbstverständlich auf Privatschulen, vor allem in der Zeit vor dem Übergang in die höheren Schulen, die in kommunaler, kirchlicher oder staatlicher Hand lagen. Vor diesem Hintergrund war für die Kinder der unteren Schichten der Schulbesuch also nicht nur eine soziale Errungenschaft, sondern zugleich ein Indiz gesellschaftlicher Diskriminierung.

Im Schulzwang für Kinder aus nicht unterrichtsfähigen Familien fungierte der Staat als „Vormund“ – bis heute wird an der Überzeugung festgehalten, dass er die legitimen Ansprüche und Rechte der Kinder („das Kindeswohl“) gegenüber ihren offenbar bildungsunwilligen oder -unfähigen Eltern wahrnehmen muss. „Der Zwang wird nämlich nicht gegen das noch ganz bestimmungslose Kind, sondern gegen seine Eltern und Vormünder angewendet, welche aus Geiz oder Roheit im Begriffe sind, demselben einen ungeheuren Schaden zuzufügen. Der Staat tritt also lediglich als Obervormünder der Recht- und Schutzlosen abwehrend ein, um dem Kinde die Möglichkeit zu verschaffen, sich wenigstens die zur Entwickelung der Geisteskräfte und zum Fortkommen im Leben unentbehrlichste Bildung zu erwerben. Der eigene Wille des Kindes könnte, wäre es bestimmungsfähig, vernünftigerweise kein anderer sein; diesen ergänzt der Staat.“2 Daneben existiert erst die zweite Begründungslinie, nach der der Schulzwang auch dem „Gemeinwohl“ dient.

Das Ende der Hausväter-Herrschaft

Diese aufwendige Begründung war und ist notwendig, weil seit dem 18. Jahrhundert die Durchsetzung der Schulpflicht als schwerer Eingriff in die genuinen Rechte des Hausvaters begriffen wurde; die Kontroversen über das „Elternrecht“ belegen das bis heute. Aber selbst engagierte Verfechter der kirchlich-konfessionellen Rechte im Bildungswesen und liberale Bildungspolitiker fanden den „Eingriff in die bürgerliche Freiheit“ und die „Einschränkung der Elternrechte“3 immer gerechtfertigt, da die Schulpflicht das kindliche „Grundrecht auf eine humane Bildung“4 garantiere. Es war auch kein Bruch in der Argumentation, sondern nur Ausdruck für die breite Anerkennung der Schulpflicht, wenn gleichzeitig daran erinnert wurde, dass solche Eingriffsrechte gegenüber den Eltern keineswegs ein staatliches Schulmonopol begründeten; denn die Pflicht zum Schulbesuch tangierte bis 1918 noch nicht die Entscheidung darüber, unter welcher Trägerschaft eine Schule stand.

Erst in den Beratungen der Weimarer Verfassung und im Grundschulgesetz wurden seit 1919 die neuen und bis heute unveränderten Vorgaben formuliert und anstelle der Unterrichtspflicht für ganz Deutschland erstmals die Schulpflicht gesetzt. In Art. 145 der Verfassung von 1919 heißt es: „Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre.“ Ähnliche Formulierungen zur Schulpflicht finden sich noch heute in allen Schulgesetzen der Bundesländer. Gemeinsam mit dem Prinzip, dass die Grundschulzeit in der Regel in den Schulen des Wohnbezirks erfüllt werden musste, waren alle Freiheiten der sozialen Milieus zunächst beseitigt.

Die Schule war in ihrem Alltag und in ihrem pädagogischen Konzept verstaatlicht, nicht mehr milieugebunden, sondern „allgemein“, also schichtunabhängig gleich. Vor allem machte die Aufhebung der privaten Vorschulen (Art. 147) den Bruch mit der preußischen Tradition der Klassenschule sichtbar. Zugeständnisse gehörten zum Kompromisscharakter der Verfassung, so wurde zum Beispiel der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach; und es gehörte zu den Bildungsprinzipien, dass bis heute die Errichtung von Schulen in privater Trägerschaft garantiert wird. Das Primat der Hausväter und ihrer Rechte wurde mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht abgeschafft.

Aktuell ist diese Vorgabe von 1919 nicht unumstritten, so wenig wie ihre klassische Begründung. In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2006 wird – anlässlich einer Klage hessischer Eltern, die unter Berufung auf Religionsfreiheit, Elternrecht und den besonderen Schutz der Familie den Besuch der öffentlichen Schule für ihre Kinder verweigert hatten –, die Schulpflicht heute mit einer auch schultheoretisch beachtlichen Begründung neu verteidigt.

„Die allgemeine Schulpflicht“, so zunächst das bekannte Argument, „dient (…) der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags. Dieser Auftrag richtet sich (…) auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger.“ Das Bundesverfassungsgericht nimmt – schultheoretisch plausibel – an, dass dafür Schulen „effektiver“ seien, weil hier „Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichen Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind“.5 Hinzu kommt heute aber: „Die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten ‚Parallelgesellschaften‘ entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. Integration setzt dabei nicht nur voraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung religiöse oder weltanschauliche Minderheiten nicht ausgrenzt; sie verlangt auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzen und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen nicht verschließen (…). Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren, ist eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Schule.“6 Deshalb sei „die mit dem Besuch der Schule verbundene Konfrontation ihrer Kinder mit den Auffassungen und Wertvorstellungen einer überwiegend säkular geprägten pluralistischen Gesellschaft trotz des Widerspruchs zu ihren eigenen religiösen Überzeugungen grundsätzlich zuzumuten“. Mit dieser Begründung ist zwar nicht die Privatschule, aber doch das Homeschooling ausgeschlossen.

Kann man aber den Effekt erwarten, den sich das Bundesverfassungsgericht erhofft? In der Bildungsforschung wird die Pflichtschule zum Teil auch als der Ort diskutiert, der Schulunlust, schlechte Leistungen, Drill statt Bildung und Desinteresse der Eltern erst erzeuge. Der Soziologe Ulrich Oevermann empfiehlt ihre Abschaffung, weil Pflichtschule verhindere, was sie verspreche.7 So schulkritisch-skeptisch sollte man aber nicht sein. Im internationalen Kontext liegen Studien vor, die deutlich dafür sprechen, dass sie nicht nur kognitiv, sondern auch normativ leistet, was man von ihr erwartet, und dass ihr positive Effekte angerechnet werden können, die sich tatsächlich aus der Tatsache der Beschulung und nicht nur über die soziale Herkunft oder Schulart erklären.8 Unsere Gesellschaften sind offenbar nur möglich, weil es Schulen gibt, die allen Kindern die notwendigen Voraussetzungen für die Kommunikation vermitteln, das heißt sowohl Kulturtechniken als auch die Orientierung an kulturellen Normen und Werten. Heinz-Elmar Tenorth

Fußnoten: 1 Jürgen Schriewer, „Weltlich, unentgeltlich, obligatorisch: Konstitutionsprozesse nationaler Erziehungssysteme im 19. Jahrhundert“. In: Francia, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 1985, S. 663–674. 2 Robert Mohl in: Ludwig von Rönne, „Das Unterrichtswesen des Preußischen Staates“, Erster Band, Berlin 1855, S. 559. 3 Johannes Tews, „Schulbesuch, Schulpflicht, Schulversäumnisse, Schulzwang“, in: Wilhelm Rein (Hg.), „Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik“. Bd. VIII, Langensalza 1908, S. 1–12, zit. S. 1. 4 G. Rümelin, „Ueber das Object des Schulzwanges“, in: Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, Heft 2 (1868), S. 311–332. 5 BVerfG, 2 BvR 1693/04 vom 31. 5. 2006, Abs. 16 aa. 6 Ebenda, Absatz 19. 7 Ulrich Oevermann, „Brauchen wir heute noch eine gesetzliche Schulpflicht und welches wären die Vorzüge ihrer Abschaffung?“, in: Pädagogische Korrespondenz, Heft 30, Wetzlar (Büchse der Pandora Verlag) 2003, S. 54–70. 8 Marcelo Caruso, „Der umgekehrte Pfeil. Analytische und politische Potenziale der Idee einer ‚Bildungsgesellschaft‘ “, in: Zeitschrift für Pädagogik, München (Beltz Verlag) 2006, S. 19–26.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Heinz-Elmar Tenorth ist Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2008, von Heinz-Elmar Tenorth