Big Brother ist kurzsichtig
Der zweifelhafte Nutzen von Überwachungskameras von Noé Leblanc
Durch Videoüberwachung lasse sich die Sicherheit im Alltag deutlich erhöhen, behauptete die französische Innenministerin Michèle Alliot-Marie. „Die Erfahrungen, die unter anderem in Großbritannien gemacht worden sind, belegen das zur Genüge.“ Damit rechtfertigte sie ihre Absicht, die Zahl der Überwachungskameras auf Frankreichs öffentlichen Plätzen von 20 000 auf 60 0000 zu erhöhen.1
Großbritannien verfügt über ein dichtes Netz von insgesamt mehr als 4 Millionen Kameras und wird in Sachen Videoüberwachung gern als Paradebeispiel angeführt. Aber auch Wissenschaftler, die nachweisen möchten, dass der Einsatz von Überwachungskameras für die Verbrechensbekämpfung wenig bringt, treffen hier auf eine ergiebige Forschungsmasse. Die Ergebnisse der größten vom britischen Innenministerium in Auftrag gegebenen Studie sind vernichtend. Drei Ursachen werden für die vollkommene Wirkungslosigkeit der Videoüberwachung angegeben: die technische Umsetzung, die überhöhten Ansprüche an diese Technologie und der Faktor Mensch.2
Es stellte sich heraus, dass viele Stadtverwaltungen im naiven Vertrauen auf diese neue Technologie, und weil sie sich die großzügigen Subventionen nicht entgehen lassen wollten, bei der Installierung der Anlagen viel zu hastig vorgegangen waren. Häufig wurden die Kameras nicht von den Technikern der Herstellerfirma installiert oder es wurden unvollständige oder zu allgemein angelegte Kriminalstatistiken zugrunde gelegt, weshalb etliche Kameras an sinnlosen Stellen angebracht wurden. Manchmal versperrten sogar Bäume oder Verkehrsschilder die Optik, und bei der Hälfte der überprüften Anlagen taugten die nachts aufgenommenen Bilder nichts, weil sie entweder zu dunkel oder überbelichtet waren.
Die Zielvorgabe, mithilfe der Videoüberwachung Kriminalität im Allgemeinen verringern zu wollen, ist als solche viel zu unklar und geradezu anmaßend. So denkt man gar nicht erst darüber nach, welche Untaten die Kameras eigentlich verhindern sollen. Videoüberwachung soll Wunder wirken: kein Diebstahl mehr, keine Einbrüche, keine Überfälle, keine Sachbeschädigung, kein Vandalismus, kein Drogenhandel, kein wildes Müllabladen und keine Störungen der öffentlichen Ordnung. Aber all diese Delikte werden eben nicht von denselben Personen, aus denselben Motiven oder unter ähnlichen Umständen begangen. Folglich kann es keine Allroundlösung geben, so überschwänglich die Videoüberwachung auch als solche angepriesen wird.
Ihre Aufgabe können die Kameras auch deshalb kaum erfüllen, weil der Faktor Mensch kaum berücksichtigt wird. Da in den Kontrollräumen längst nicht so viele Monitore3 stehen, wie draußen Kameras laufen, tauchen die meisten Bilder entweder gar nicht erst auf, und wenn, dann nicht zeitgleich mit der Aufnahme. Andererseits ist es illusorisch, zu glauben, dass die Leute im Kontrollraum mehr als je einen Bildschirm auf einmal im Auge behalten könnten. „Ich kann gar nicht sagen“, erzählt einer, „was uns schon alles durch die Lappen gegangen ist, während wir mit anderen Bildschirmen beschäftigt waren. Einbrüche, Autodiebstähle, Überfälle, alles Mögliche passiert, wenn man gerade auf einen anderen Bildschirm schaut … Das nervt wirklich.“4
Überdies hat das Überwachungspersonal keine polizeiliche Ausbildung. Ihm wird zwar eingeschärft, dass nur Personen, die „ein verdächtiges Verhalten“ aufweisen, intensiver mit der Kamera zu verfolgen seien, doch woran sie ein solches Verhalten erkennen könnten, hat ihnen niemand beigebracht. So ist es kaum verwunderlich, dass die Einschätzung der Bilder weitgehend auf Vorurteilen über den a priori kriminellen Charakter bestimmter Verhaltensweisen oder bestimmter Bevölkerungsgruppen beruht. Eine der wenigen Studien zu dieser Frage bringt ans Licht, dass 86 Prozent der Zielpersonen junge Leute unter dreißig sind, 93 Prozent männlichen Geschlechts, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schwarzer ins Visier genommen wird, ist doppelt so hoch wie bei einem Weißen.5
Und weil die Leute in den Kontrollräumen schlecht ausgebildet sind, zieht die Polizei eingehende Meldungen oft in Zweifel: Nur bei einem knappen Viertel der Kontrollräume, die Martin Gill und Angela Spriggs im Rahmen ihrer Studie untersuchten, bestand ein entspanntes Verhältnis zu den zuständigen Polizeistationen. Manchmal müssen sich die Mitarbeiter vor den Monitoren allen Ernstes sagen lassen, sie würden den direkten Draht missbrauchen und sollten doch gefälligst die öffentliche Notrufnummer wählen.
Außerdem handelt es sich bei der Beobachtung der Kameraaufzeichnungen um eine ausgesprochen monotone Tätigkeit. Aus Wohngebieten berichten Gill und Spriggs von durchschnittlich sechs Zwischenfällen in einem Überwachungszeitraum von 48 Stunden.6 In den Kontrollräumen herrscht ein ständiger Kampf gegen die Langeweile. Man vertreibt sich die Zeit mit Kaffeepausen, Zeitschriftenlesen, Dösen oder der besonders eingehenden Beobachtung von Frauen, die ganze 15 Prozent der Beobachtungszeit in Anspruch nimmt.7
All diese Faktoren führen, gemessen an den Festnahmen pro Kamera, zu einer äußerst geringen „Rentabilität“ der Videoüberwachungsnetze. Die Soziologen Clive Norris und Gary Armstrong konnten nach 592 Stunden teilnehmender Beobachtung der Überwachungsarbeit in drei Stadtzentren feststellen, dass die Polizei bei 900 gezielten Observierungen nur 45-mal eingeschritten ist und am Ende insgesamt zwölf Festnahmen durchführte.8
Ein ähnlich mageres Ergebnis melden Jason Ditton und Emma Short aus Glasgow, wo es im gesamten Jahr 1995 nur 290 vorläufige Festnahmen gab, die mehr oder weniger direkt mit den 32 installierten Überwachungskameras zu tun hatten. (Natürlich lässt sich nicht sagen, ob es nicht auch ohne Kameras zu diesen Festnahmen gekommen wäre.) Im ersten Jahr ihres Einsatzes „sahen“ die Glasgower Kameras weniger als 5 Prozent der Vorfälle, die innerhalb der von ihnen überwachten Zone zu Festnahmen geführt haben.9
Die Videoüberwachung, oft als der Weisheit letzter Schluss in der Verbrechensbekämpfung gepriesen, ist und bleibt eine problematische Maßnahme. „Eine der Hauptschwierigkeiten besteht in den verwirrenden, wenn nicht gar gegensätzlichen Erwartungen, die an sie gestellt werden“, heißt es bei Ditton und Short. „Wenn es mit rechten Dingen zuginge, müsste die Anzahl der aufgezeichneten Vergehen dank der Videoaufnahmen eigentlich steigen. Andererseits müsste das bloße Vorhandensein des Kameraauges potenzielle Straftäter von ihrem Vorhaben abhalten – und die Anzahl der aufgezeichneten Vergehen verringern.“10
Sowohl eine sinkende als auch eine steigende Kriminalitätsrate auf den Straßen kann als Beleg für den Erfolg von Videoüberwachung gelten, je nachdem, ob man von ihrer abschreckenden oder aufdeckenden Wirkung ausgeht. Wo auf die abschreckende Wirkung der Kameras gesetzt wird, müssen diese möglichst sichtbar und auffällig angebracht sein (was im Übrigen auch oft gesetzlich vorgeschrieben ist). Das jedoch erlaubt potenziellen Straftätern, sich eine andere Taktik einfallen zu lassen oder ihre Pläne eben anderswo zu realisieren. Überdies lässt die Abschreckung schnell nach, wenn ohnehin nicht mit polizeilicher Verfolgung zu rechnen ist.
Und damit fordert man die Kritik geradezu heraus, die sich in einem Leserbrief an den Daily Telegraph vom 17. Januar 2008 folgendermaßen Luft macht: „Wie können die Leute nur meinen, sie wären sicherer, bloß weil irgendwo eine Kamera hängt? Das heißt doch nur, dass möglicherweise jemand dabei zuschaut, wie man überfallen, verprügelt, vergewaltigt oder ermordet wird.“
Um per Videoüberwachung vermehrt Straftäter in flagranti zu erwischen, müssten erstens zahllose Bilder zeitgleich über die Monitore laufen, zweitens müsste der Informationsfluss zwischen Kontrollpersonal und Polizei reibungslos funktionieren, und drittens müssten die Polizeikräfte sofort reagieren. Von all dem kann in der Praxis keine Rede sein: Dass nur selten ein Vergehen zeitgleich übertragen wird, hat sowohl technische als auch personelle Gründe; das Verhältnis zwischen den Leuten an den Monitoren und den Polizisten hängt angesichts der institutionellen Grauzone, in der es angesiedelt ist, ganz von individuellen Faktoren ab; und die Einsatzbereitschaft der Polizei richtet sich nach deren eigenen Prioritäten und nach ihrem – durch die Videoüberwachung auch noch eingeschränkten – Budget.11
Wird eine nachträgliche Verwendung der aufgezeichneten Bilder angestrebt, stellt sich das Problem der Lagerung. Aus Platzmangel bewahren die meisten Systeme weniger als 5 Prozent des Bildmaterials auf, was die Möglichkeiten einschränkt, später noch beweisfähige Abzüge zu bekommen.
Das Zusammenwirken all dieser Faktoren erklärt vielleicht, warum die in Großbritannien durchgeführten Studien keinerlei Zusammenhang zwischen der Aufklärungsrate und der Anzahl der installierten Kameras feststellen konnten – ein bemerkenswertes Fazit für ein Land, in dem auf 14 Einwohner eine Überwachungskamera kommt.
Noch also drohen keine Verhältnisse wie die in George Orwells berühmtem Science-Fiction-Roman „1984“. Wie Clive Norris und Gary Armstrong betonen: „Zwischen Menschen, die in der Videoüberwachung ein Allheilmittel gegen Kriminalität und Störungen der öffentlichen Ordnung sehen, und jenen, die sie als das Gespenst einer albtraumhaften Überwachungsgesellschaft verteufeln, besteht eine Gemeinsamkeit: Beide glauben an die Allmacht dieser Technologie.“12
Jahr für Jahr werden für die Videoüberwachung massenhaft öffentliche Gelder verschwendet. Chief Inspector Mick Neville, bei der Londoner Metropolitan Police für die Videoüberwachung zuständig, brachte es unlängst öffentlich auf den Punkt: „Ein vollständiges Fiasko.“13
Aus dem Französischen von Grete Osterwald
Noé Leblanc ist Journalist.