Einmischungsrecht und Einmischungspflicht
Es ist kein neuer Gedanke, Menschen in Not ohne Einwilligung des Staates Hilfe zu leisten. Schon 1625 erwähnte Hugo Grotius diese Möglichkeit in seinem Hauptwerk „De jure belli ac pacis“. Demgegenüber formuliert die Charta der Vereinten Nationen in Artikel 2 unter Punkt 7 das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates als friedenswahrende Maßnahme innerhalb der internationalen Beziehungen. Das internationale Recht regelt so den Zugang zu den Opfern im Fall bewaffneter Konflikte und macht ihn von der Zustimmung (oder dem fehlenden Einspruch) des betroffenen Landes abhängig. Ausnahmen vom Prinzip der Nichteinmischung sind streng begrenzt und werden in Kapitel VII der UN-Charta geregelt. Sie sind nur möglich, wenn die kollektive Sicherheit bedroht ist, was der UNO-Sicherheitsrat festzustellen hat.
Der Gedanke, dass es ein Recht auf humanitäre Einmischung gebe, kam nach dem Biafrakrieg auf. Eine Gruppe französischer Rotkreuzärzte, die beschlossen hatten, in Verletzung ihrer Schweigepflicht die Öffentlichkeit über die Gräuel dieses Konflikts zu informieren, gründete 1971 die Organisation Médecins Sans Frontières (MSF, Ärzte ohne Grenzen). In der Folge entstanden weitere humanitäre Nichtregierungsorganisationen. 1977 präzisierte das Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949 (Protokoll I über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte), die Hilfsangebote humanitären, unparteiischen Charakters seien nicht als Einmischung oder feindlicher Akt anzusehen (Artikel 70, Paragraf 1–2). Aber auch hier ist kein spezielles Recht auf Einmischung definiert.
Der Begriff „Recht auf Einmischung“ wurde 1987 von dem MSF-Vorsitzenden Bernard Kouchner und dem Juraprofessor Mario Bettati auf einer Konferenz zum Thema „Recht und humanitäre Moral“ formuliert. Heute gibt es die Ansicht, dass dieses Recht durch Resolutionen der UN-Generalversammlung gestützt wird, vor allem Nr. 43/131 vom 8. Dezember 1988 über „Humanitäre Hilfe bei Naturkatastrophen und anderen Notsituationen“ und Nr. 45/100 aus dem Jahr 1990, die zur Einrichtung von humanitären Hilfskorridoren ermächtigt.1
Die Generalversammlung der UNO hat jedoch lediglich die Staaten aufgefordert, die Weiterleitung von humanitärer Hilfe zu erleichtern, und keinesfalls dazu ermächtigt, diese mit Zwangsmitteln durchzusetzen. Und die Einrichtung von Hilfskorridoren hat im Einvernehmen mit der jeweiligen Regierung und den betroffenen Organisationen zu erfolgen. Kein Staat besitzt also ein unilaterales Recht, sich aus humanitären Gründen in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staats einzumischen, nicht einmal zum Schutz seiner eigenen Staatsbürger. Die meisten Völkerrechtler misstrauen dieser Option, weil sie eine Einmischung durch die Hintertür (einseitige Teilintervention) ermöglichen könnte.
Strenggenommen besitzt auch die UNO kein Recht auf humanitäre Einmischung. Seit den 1990er-Jahren hat der UN-Sicherheitsrat bestimmte Situationen unter humanitären Aspekten als „friedensbedrohend“ definiert und auf dieser Basis – zum Beispiel für Somalia und Bosnien-Herzegowina – friedenserhaltende Operationen beschlossen.2 Manche Kommentatoren argumentieren, damit sei das Recht auf Einmischung verankert worden. Allerdings wurde diese Interpretation von der UN-Unterkommission für Menschenrechte 1999 zurückgewiesen. Ein Jahr später jedoch plädierte UN-Generalsekretär Kofi Annan unter dem Eindruck der Massaker von Srebrenica und des Genozids an den Tutsi in Ruanda für „einen moralischen Appell an den Sicherheitsrat, im Namen der internationalen Gemeinschaft gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorzugehen“.3
Unter welchen Bedingungen das möglich wäre, erläutert Françoise Bouchet-Saulnier, die Leiterin der Rechtsabteilung von MSF: „Dem UN-Sicherheitsrat und den Organisationen für die regionale Sicherheit ist die Entscheidung vorbehalten, ob ein schwerer Verstoß gegen das humanitäre Recht zugleich den Frieden und die Sicherheit in der Welt bedrohen und damit eine militärische Intervention unter Berufung auf Kapitel VII rechtfertigen. Sodann müsste festgelegt werden, welche Art von Schutz die UNO der Bevölkerung in dieser Situation tatsächlich gewähren kann.“4
Das Recht auf Einmischung entbehrt also nicht nur der gesetzlichen Kodifizierung, es bleibt auch hinsichtlich der Akteure, die es praktizieren sollen (Staaten, internationale Organisationen, UNO) ein reichlich vages Konzept.
Caroline Fleuriot