Moral und Tränen Incorporated
Eine Kritik der humanitären Selbstgewissheit von Bernard Hours
Erste Zweifel an den Zielen wie auch an der Moral des humanitären Engagements kamen erst mit den Verfehlungen auf, die der unvermeidliche Preis für große Erfolge sind. So wurde seit Ende 2007 die französische Kinderhilfsorganisation L’Arche de Zoé, der man zuvor stets nur „gute Absichten“ bescheinigt hatte, von den Medien in Grund und Boden kritisiert. Zuvor waren die NGOs bereits nach dem Tsunami von 2004 in Südostasien wegen ihrer organisatorischen Mängel bei der Verteilung der Unmengen an Hilfsgütern und Spendengeldern unter Beschuss geraten.
Das Konzept der humanitären Hilfe, das sich aus einer Reihe koordinierter Praktiken und einigen als moralisch und notwendig behaupteten Prinzipien zusammensetzt, ist eine Ideologie. Dieses Weltdeutungsraster ruht auf drei Säulen, die nähere Betrachtung verdienen. Die erste Säule ist die ebenso sympathische wie problematische Annahme universaler Menschenrechte. Die zweite ist die für den Rettungsauftrag erforderliche Konstruktion eines klaren Opfers. Die dritte ist die Behauptung, es gebe ein unstrittiges Recht auf Einmischung, also auf Zugang zu den Opfern.
Die Universalität der Menschenrechte ist ein Postulat, ohne das es keinen legitimen humanitären Einsatz gäbe. Doch wie soll das Subjekt aussehen, das diese Rechte angeblich besitzt, die ja mittlerweile in Bereichen wie Gesundheit, Bildung und Sicherheit immer mehr an Bedeutung verlieren? Es ist nicht etwa das Subjekt, das in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 als politisches Wesen vorausgesetzt ist, sondern das biologische Wesen, das Exemplar der Menschengattung, dessen Existenz bei Hunger, Epidemien oder Naturkatastrophen zu beschützen ist.
Dieses biologische Subjekt hatte die Katastrophenmedizin im Auge, deren weltbekanntes Label die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen geworden ist. Das Recht auf Leben ist ein Produkt des späten 20. Jahrhunderts und des humanitären Zeitalters, das mit der Gründung des Roten Kreuzes begann. Seine heutige Bedeutung gewann es aber erst in den 1980er-Jahren im Zuge eines allgemeinen Prozesses der Entpolitisierung und Moralisierung.
Man kann sich überdies fragen, inwieweit der Körper des Opfers Subjekt oder Objekt ist. Seine Würde ist abstrakt und wird – etwa in Flüchtlingslagern – durch die Umstände relativiert. Ein Mensch zu sein ist noch ein Status, ein Opfer zu sein ist bereits ein Zustand. Opfer sind per se unpersönlich und austauschbar. In den Postwurfsendungen der NGOs tauchen sie nur als passive Statisten des emotionalen Marketings auf. Das Verhältnis zwischen Rettern und Geretteten ist also ein ungleiches, dem das Element der Gegenseitigkeit völlig abgeht.
Die meisten Betroffenen begreifen sich übrigens nicht in erster Linie als Opfer, sondern als Individuen, die sich gerade in einer dramatischen Situation befinden. Seit grauer Vorzeit kämpfen die Menschen gegen die Gewalt der Natur, der Herrschenden, der Gesellschaft. Die Philippiner, die jedes Jahr von Taifunen, oder die Bangladescher, die immer wieder von Überschwemmungen heimgesucht werden, tragen ihr Schicksal als Menschen mit Würde, die sich gegen die Gefahren ihren Lebensraums zu behaupten versuchen. Zu Opfer macht sie erst der Blick eines fremden anderen. Der ärztliche Notfalldienst kommt nur dann, wenn er gerufen wird. Humanitäre Organisationen aber machen sich von selbst auf den Weg. Sie beschließen eigenmächtig, zu kommen und den Notstand auszurufen. Dabei retten sie fraglos viele Menschenleben, aber das geschieht nach Maßgabe ihrer eigenen Agenda.
Aufschlussreich ist zudem der Umgang mit den Opferzahlen, mit denen eine Intervention gerechtfertigt wird. Manchmal sind sie zu niedrig, häufig zu hoch veranschlagt. 1998 meldeten die lateinamerikanischen Staaten Nicaragua, Honduras, Guatemala und El Salvador nach dem Wirbelsturm „Mitch“ tendenziell überhöhte Opferzahlen, um humanitäre Hilfe aus aller Welt anzuziehen, dagegen gaben Birma – oder vielleicht auch China nach dem Erdbeben 2008 – eher zu geringe Opferzahlen an.
Mit der Forderung, im Namen einer kaum bezweifelbaren Interventionspflicht freien Zugang zu den Opfern zu erhalten, schufen die humanitären Organisationen des 20. Jahrhunderts ein „Recht auf Einmischung“ (siehe Kasten), das die Staaten offenbar eher als einen Stachel im Fleisch empfinden und weniger als einen Sieg der Menschlichkeit. Inzwischen wird dieses meist in beschwörender Lyrik beanspruchte Recht verstärkt angezweifelt. Denn die westlichen Vorstellungen, die noch Ende der 1980er-Jahre als universell galten, sind dies nicht mehr.
In dem Maße, in dem sich das globale Wirtschaftswachstum in andere Breiten verlagert, finden die Lektionen des Westens in Sachen Moral immer weniger Abnehmer. Von den autoritären Regimen in China und Russland, aber auch in vielen anderen Staaten wird die humanitäre Einmischung als Störfaktor wahrgenommen, der unnötige politische Spannungen hervorruft. Heute werden humanitäre Helfer zusehends angefeindet und für die lokalen Unruhen verantwortlich gemacht. Das gilt vor allem in Regionen, wo die Staatsgewalt schwach ist oder die dem Protektorat multilateraler Gruppen (NGOs, humanitäre Organisationen, Militär) unterstehen. Wenn sich hier am Elend nichts ändert, wie etwa in Haiti, werden die gut bezahlten Ausländer in ihren Geländewagen schon mal mit Steinen beworfen oder auch entführt, um ein Lösegeld zu erpressen.
In Afghanistan wurden im Juli 2008 zwei Mitarbeiter der französischen Hilfsorganisation Action contre la Faim (ACF, Aktion gegen den Hunger) verschleppt und gegen Lösegeld wieder freigelassen. Mitarbeiter derselben Organisation waren 2006 in Sri Lanka getötet worden. Seit 2005 wurden mehrere Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen in Dagestan und der Demokratischen Republik Kongo gekidnappt. Die meisten Entführungen kommen dort vor, wo NGOs mit dem Militär oder den UN-Blauhelmen zusammenarbeiten. In Ländern wie Palästina, Eritrea, Sudan, Jemen oder Sri Lanka und deutlicher noch im Irak oder in Afghanistan ist humanitäres Engagement immer weniger eine Garantie für Bewegungsfreiheit.
Der Kern des Problems liegt darin, dass dieses Engagement jeder politischen Legitimität entbehrt. Die humanitären Akteure unterstellen die Existenz einer globalen Zivilgesellschaft, die es nicht gibt, und verleihen sich ein universelles Mandat, als seien ihre Nationalität, ihre Ressourcen und ihre Ideologie wie durch Zauberhand neutralisiert oder ausgeblendet. Der humanitäre Einsatz im Ausland missachtet die Territorialität der menschlichen Existenz, die Einbindung der Menschen in geografische und politische Bezüge, und damit auch die staatliche Souveränität.
Marketing mit dem Unglück
Im Gefolge der großen, auf die Globalisierung zurückgehende Krise erlangt die Nationalstaatlichkeit auf der internationalen Bühne aber wieder größere Bedeutung. Daher dürfte das „Recht auf Einmischung“ im Laufe dieses Prozesses zunehmend infrage gestellt werden – zumal humanitäre Hilfe in souveränen Staaten ohnehin Teil der staatlichen Leistungen ist
Die angedeuteten Widersprüche treten neuerdings immer klarer zutage. Die tragikomische Episode mit L’Arche de Zoé zeigt, wie zentral die Begründung, Menschenleben retten zu wollen (in diesem Fall völlig an den Haaren herbeigezogen), für die Legitimation humanitärer Einsätze ist. Die Affäre offenbart aber auch, welche absurden Folgen eine demagogische Verwendung des Einmischungsbegriff haben kann. Auch wenn die meisten Akteure durchaus seriös sind, kann humanitäres Engagement den Folgen seines eigenen missbräuchlichen und sensationsheischenden Umgangs mit dem Unglück der anderen nicht entkommen. Da die Spendenfreude infolge der ständigen Hilfeaufrufe, der Kurzlebigkeit von Betroffenheitsgefühlen und aus vielerlei anderen Gründen merkbar nachgelassen hat, versuchen die Hilfsorganisationen mit immer schamloseren Marketingstrategien ihre Kassen zu füllen.
Lange Zeit lag das humanitäre Engagement ausschließlich in den Händen der NGOs. Seit sich die Staaten stärker engagieren, also seit den 1990er-Jahren, hat sich vieles geändert. Seitdem ist Schluss mit der engelhaft unschuldigen Naivität der frühen Jahre. In Frankreich waren Bernard Kouchner und Claude Malhuret – der eine von links, der andere von rechts – die ersten Staatssekretäre für Menschenrechtsfragen. Die beiden Mediziner institutionalisierten die Rolle der NGOs und verpassten ihnen einen offiziellen Anzug. Als überzeugte Antitotalitaristen in der Zeit der sowjetischen Invasion in Afghanistan beriefen sich auf die Unveräußerlichkeit und Unbedingtheit der Menschenrechte, deren apolitische Interpretation mit dem Ende des Kalten Krieges sich als hinfällig erwies.1
Denn Anfang der 1990er-Jahre wurde offenbar, dass die USA diesen Antitotalitarismus kräftig unterstützt hatten und dass die humanitären Helfer, die inzwischen Ministerposten bekleideten, jetzt gezwungen waren, ihre idealistischen Ideen einzulösen. Seither hat die Bereitschaft der humanitären Hilfsorganisationen, sich bei „politischen Katastrophen“ zu engagieren, sich also mit totalitären Regimen anzulegen, deutlich nachgelassen. Allerdings zeigt sich bei den jüngsten Naturkatastrophen in Birma und den Ereignissen in Tibet, dass der antitotalitäre Impuls nach wie vor vorhanden ist.
Für die Staaten ist das humanitäre Engagement ein strategisches Feld, auf dem sie die humanitären Helfer – sehr zu deren Missfallen – vom Militär begleiten und beschützen lassen. Die multilateralen Organisationen, darunter die EU, finanzieren in großem Umfang humanitäre Hilfsprogramme, während zugleich andere Gelder, vornehmlich der UNO, in „friedenserhaltende Maßnahmen“ fließen. Beide Aktivitäten überschneiden sich allerdings häufig, sind schlecht koordiniert und überfluten die ärmsten Länder mit Helfermassen, die mehr Chaos als Ordnung schaffen.
Weder die Staaten noch die multilateralen Organisationen konnten das Monopol auf große Gefühle, Solidarität und großherzige Hilfe auf Dauer den humanitären Vereinigungen überlassen. So entstand eine eigene Welt des humanitären Engagements, in der ganz unterschiedliche Leute aufeinandertreffen: demagogische Politiker, erschöpfte und besorgte Fachleute, Technokraten aus multilateralen Institutionen mit ihrer Bürokratie- und Finanzlogik, argwöhnische oder blasierte private Geldgeber, die aus subjektiv-emotionalen Gründen helfen wollen.2 Diese Welt ist ein Zirkus, wo das Spektakel das Unglück der anderen ist und die Medienvermarktung dominiert, ohne dass es irgendjemanden aufregen würde.
Pillen für das gute Gewissen
Die humanitäre Hilfe ist ein zentrales Element der sich vollziehenden moralischen Globalisierung. Die Profite aus der weltweiten Ausbeutung müssen gewaschen werden. Es gilt, Kinderarbeit, Verdichtung der Arbeit, unbezahlte Überstunden zu kaschieren, wie all die anderen Verwerfungen einer allenthalben deregulierten Welt.
Von den zahllosen Ausgegrenzten, die von der sozialen Gewalt produziert werden, nehmen wir nur wenige als Opfer wahr. Das humanitäre Engagement der Staaten für diese Opfer bezeugt nicht etwa einen hohen Standard von Moral, Transparenz und Fürsorglichkeit, es ist vielmehr eine Art Generalabgabe für moralische Normalität, die dem Spender eine – wiederum moralisch definierte – Menschlichkeit bescheinigt. Mit anderen Worten: Das Universum der humanitären Hilfe ist ein postpolitischer Raum, in dem uns von NGOs alle möglichen Pillen für gutes Gewissen angeboten werden. Die NGOs sind internationale Unternehmen der Moralität, denen ihre Produkte neuerdings über den Kopf wachsen. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der sozialen Frage. Das 21. Jahrhundert wird mit zahllosen Opfern fertig werden müssen – von Naturkatastrophen wie der Marktökonomie, die im globalen Maßstab noch viel mehr Menschen marginalisieren wird.3
Humanitäre Helfer, Fachleute, Freiwillige und Funktionäre versuchen das Leck zu stopfen. Was sie tun, ist nützlich und großherzig, aber keine Lösung. Die humanitären Organisationen haben dazu beigetragen, die Entwicklung zu verdunkeln, indem sie vom „Kampf gegen die Armut“ reden, was nach Katastrophenmedizin klingt und die Armut als eine Art Krankheit erscheinen lässt.
Mit dieser Ideologie, die ungerechte Verhältnisse durch den Begriff der „Not“ maskiert, will man uns Minimalnormen für ein Leben andienen, das nur noch ein Überleben ist. Oder ist es etwa moralisch und human, wenn nur Moribunde die Bedingung für den Anspruch auf Hilfe erfüllen? Eine solche Ideologie steht – im Gegensatz zu den Intentionen der Aufklärung – für die Vorstellung von einer Welt, die zweigeteilt ist zwischen einer Welt der leistungsstarken, handlungsfähigen Menschen und einer Welt der Kranken und der Flüchtlinge. Indem derartige Katastrophenstrategien zur Errichtung eines solchen globalen Apartheidsystems beitragen, erschöpfen sie sich darin, die Vormundschaft der Helfer auf allen Ebenen zu etablieren.
Im Norden dagegen soll die Inszenierung von Katastrophen die Bürger dazu bringen, die sozialen Bewegungen von gestern zu vergessen. An deren Stelle tritt eine Welt des Mitleids und der flüchtigen Betroffenheiten, auf ein bloßes Gefühl also, das jedes Bewusstsein von Ungerechtigkeit erstickt.
Besiegte revoltieren, Opfer rühren nur zu Tränen. Besonders viele Tränen vergießen Menschen, die in den Opfern jemanden erkennen, denen es schlechter geht als ihnen selbst. Humanitäre Gefühle produzieren im besten Fall Empörung. Sie verhindern die Rebellion.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Bernard Hours ist Anthropologe und Forschungsdirektor am Institut de recherche pour le développement (IRD). Autor von „L’Idéologie humanitaire ou le spectacle de l’altérité perdue“ Paris (L’Harmattan) 1998 und mit Niagale Bagayoko Penone „Etats, ONG et production des normes sécuritaires dans les pays du Sud“, Paris (L’Harmattan) 2005.