Der Einfluss des Islam
Während des Krieges war in den Medien viel von den ausländischen Mudschaheddin die Rede, die auf bosniakischer Seite mitkämpften. Einige dieser muslimischen Kräfte konnten tatsächlich bis Ende der 1990er-Jahre in entlegenen Landesteilen ihre „Mini-Emirate“ aufrechterhalten.1 Obwohl mit dem 11. September 2001 das Schicksal dieser Enklaven faktisch besiegelt war, leben in Bosnien bis heute noch etliche militante Islamisten aus dem Ausland, auch einige radikale Organisationen sind noch immer aktiv.
Die Führung in Sarajevo muss vor allem das Problem der Einbürgerung ausländischer Kämpfer lösen. Einige dieser Freiwilligen, die für ihren Einsatz mit der bosnischen Staatsbürgerschaft belohnt wurden, fanden sich später in Guantánamo wieder. Seitdem drängt Washington darauf, die Einbürgerungen rückgängig zu machen.
Die islamistischen „Implantate“ haben in der bosnischen Gesellschaft keine Wurzeln geschlagen. Allerdings wird der muslimische Glaube heute von mehr Menschen praktiziert als in der Zeit vor dem Krieg. Insgesamt nimmt der soziale Einfluss des Islam ständig zu. Das wird auch öffentlich sichtbar, schon weil die Bosniaken heute mehr als 50 Prozent der Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina ausmachen – gegenüber 43,5 Prozent vor dem Krieg.
Unter der Führung des sehr aktiven Großmuftis Reis-ul-Ulema Mustafa Efendi Ceric konnte die Islamische Gemeinschaft zahlreiche Vermögenswerte ihrer Stiftungen (vakuf)2 wiedererlangen. Es werden viele neue Moscheen gebaut und Religionsschulen gegründet. Gekrönt wird diese dynamische Entwicklung durch die Gründung einer Fakultät für islamische Religionswissenschaft in Sarajevo. Der Oberste Rat der Islamischen Gemeinschaft ist heute eine der mächtigsten Institutionen des Landes. Dass Haris Silajdzic 2006 zum bosniakischen Vertreter im Staatspräsidium gewählt wurde, verdankt er auch der eindeutigen Unterstützung durch den Großmufti und die Islamische Gemeinschaft.
Mustafa Ceric vertritt innerhalb des modernen Islam eine ausgeprägte eigene Position. Im Juli 2006 trug er einer Konferenz islamischer Würdenträger in Istanbul die „Erklärung europäischer Muslime“ vor. In dieser Topkapi-Erklärung wurde nicht nur explizit das Nebeneinander verschiedener Religionen anerkannt, sondern auch das Recht auf „Nichtglauben“.3 Damit könnte der machtbewusste und strategisch denkende Mustafa Ceric eine bedeutsame Öffnung des muslimischen Denkens einleiten.
Im sozialistischen Jugoslawien gab es nur eine Gemeinschaft der Muslime, an deren Spitze der Großmufti von Sarajevo stand. Nachdem diese mit dem Zerfall der Bundesrepublik aufgelöst war, gründete Mustafa Ceric 1993 die Islamische Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina. Gleichzeitig entstanden Islamische Gemeinschaften in Mazedonien und Montenegro. In Serbien bleibt die Situation unübersichtlich: Im Sandschak Novi Pazar rivalisieren zwei Organisationen um die Vertretung der Muslime, während sich die Islamische Gemeinschaft im Kosovo parallel zur staatlichen Unabhängigkeit ebenfalls für selbstständig erklärt hat.
Seit zwei Jahren nun bildet sich eine strategische Achse heraus, die auf eine Vereinigung der Islamischen Gemeinschaften von Mazedonien, dem Kosovo und Bosnien-Herzegowina hinauslaufen könnte. Und auch die stärkere der beiden rivalisierenden Organisationen in Serbien hat die geistliche Autorität von Großmufti Mustafa Ceric anerkannt.
Die Islamische Gemeinschaft von Bosnien-Herzegowina hat sich innerhalb des ehemaligen Jugoslawiens respektive in der gesamten Balkanregion eine unbestrittene Führungsrolle verschafft, verfügt sie doch über die größten Finanzmittel, über das stabilste Netz von Aktivisten und über etablierte Bildungseinrichtungen und Verlagshäuser. Ceric schwebt vor, unter seiner geistigen Führung alle islamischen Organisationen einer Region zu vereinigen, die den Beitritt zur EU anstrebt. Sollte es dazu kommen, würde er damit zu einem der wichtigsten religiösen Würdenträger im Europa der 27.
Die Idee eines europäischen Islam wird sich freilich nicht so einfach durchsetzen lassen. Für Mustafa Ceric beruht sie auf zwei Elementen: auf dem Bezug zu einer glorreichen Vergangenheit wie der Ära der muslimischen Herrschaft in Spanien oder in Sizilien, und auf die Erinnerung an das Massaker von Srebrenica im Juli 1995, das er in einem hochsymbolischen Diskurs zum „Auschwitz der europäischen Muslime“ erklärt. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob der autochthone Islam der Balkanregion, mit seiner osmanischen Tradition und seinem Bekenntnis zur hanafitischen Rechtsschule, und der sehr heterogene Islam der verschiedenen Einwanderergemeinschaften in Westeuropa sich überhaupt zusammenführen lassen.
Der Großmufti betreibt seit einigen Jahren das Projekt einer europäischen islamischen Universität im herzegowinischen Mostar. Das Personal und die Mittel, die ein Vorhaben dieser Größe erfordert, können allerdings nur aus den Ländern der arabisch-muslimischen Welt kommen. Damit ist Mustafa Ceric letztlich gezwungen, sein Projekt in doppelter Sprache darzustellen: Gegenüber dem einen Verhandlungspartner betont er die „Einzigkeit des Islam“, gegenüber dem anderen die „Besonderheit des europäischen Islam“.4
Jean-Arnault Dérens