Machtmensch und Machttier
Anmerkungen zu Machiavellis „Der Fürst“ von Jacques Derrida
In seiner berühmten Schrift „Der Fürst“1, achtzehntes Kapitel, behandelt Niccolò Machiavelli unter der Überschrift „Wie die Fürsten ihr Wort halten sollen“ eine Frage, die an Aktualität nicht zu überbieten ist. Sie betrifft nicht nur die Einhaltung von Waffenstillstand, Waffenruhe und Friedensverträgen, sondern auch – denn das ist Grundprinzip jedes Vertrags und jedes Eides – die Einhaltung der Verpflichtungen, die die Herrscher gegenüber Institutionen oder einem autorisierten Dritten eingegangen sind. Und darum geht es beispielsweise bei der Einhaltung oder Nichteinhaltung von UN-Resolutionen durch die USA oder Israel und bei allem, was damit zusammenhängt; aber auch bei den Maßnahmen, die die UNO im Hinblick auf den sogenannten internationalen Terrorismus (ein Begriff, der bei der UNO selbst für problematisch gehalten wird) trifft; und ebenso bei den Konsequenzen, die die UNO angesichts der gegenwärtigen Situation zieht, nachdem sie die USA ermächtigt hat, ihre Selbstverteidigung durch alle ihnen geboten scheinenden Mittel sicherzustellen.
Nun erscheint in dem Kapitel über das von den Fürsten zu haltende Wort die Frage „Wie die Fürsten ihr Wort halten sollen“ beziehungsweise „Ob die Fürsten ihren eingegangenen Verpflichtungen treu bleiben sollen“ untrennbar mit der Frage nach der „Eigentümlichkeit des Menschen“ verbunden. Und diese doppelte Frage, die in Wirklichkeit nur eine einzige zu sein scheint, wird auf interessante Weise behandelt. Man sieht darin den Wolf vorbeiziehen, aber auch etliche aus verschiedenen Tieren zusammengesetzte Wesen.
Die Frage nach der Eigentümlichkeit des Menschen steht in der Tat im Zentrum einer Debatte über die Gewalt des Gesetzes, zwischen Gewalt und Gesetz. In diesem Kapitel, das nicht nur als eines der machiavellistischsten überhaupt, sondern auch als typisch für Machiavelli gilt, räumt dieser zunächst eine Tatsache ein – und ich betone hier das Wort „Tatsache“: De facto wird es für lobenswert gehalten, wenn ein Fürst seinen Verpflichtungen treu bleibt. Und es ist auch lobenswert, das muss man zugeben. Nach diesem scheinbaren Zugeständnis (ja, es ist gut, es ist lobenswert, im Prinzip und von Rechts wegen sollte ein Fürst sein Wort halten) kommt Machiavelli auf die Tatsache zurück, von der er in Wirklichkeit nie abgewichen war: dass nur wenige Fürsten treu sind, nur wenige sich an die eingegangenen Verpflichtungen halten und die meisten von der List Gebrauch machen. Sie greifen fast immer zur List, wenn es um ihre Verpflichtungen geht. Denn de facto bleibt ihnen gar nichts anderes übrig.
Wir hatten gesehen, sagt er, wir haben feststellen können, dass die stärksten Fürsten, die siegreichen, den Sieg über jene davontrugen, die sich die Einhaltung ihres Eids zur Regel gemacht haben. „Ihr müßt also beachten (Machiavelli wendet sich sowohl an Lorenzo de Medici wie an den Leser), daß es zwei Arten des Kampfes gibt: einmal durch Gesetze und dann durch Gewalt.“2 Also manchmal durch das Recht, die Gerechtigkeit, die Vertragstreue, Achtung von Gesetzen, Verpflichtungen und Vereinbarungen, durch Treu und Glauben – und manchmal durch den Bruch der Verpflichtungen, die Lüge, den Meineid, die Missachtung von Versprechen, den einfachen, brutalen Einsatz von Gewalt („das Recht des Stärkeren“).
Hieraus zieht Machiavelli eigenartige Schlussfolgerungen. Mithilfe der Gesetze zu kämpfen (also gemäß der Treue gegenüber den Verpflichtungen, als aufrichtiger Fürst, der die Gesetze achtet) sei, so Machiavelli, die Eigentümlichkeit des Menschen. Das sind seine Worte, mit denen er ein im Grunde kantianisches Argument aufgreift: Nicht zu lügen, die Pflicht zu haben, nicht zu lügen und keinen Meineid zu leisten, macht laut Kant die Eigentümlichkeit und die Würde des Menschen aus.
Die zweite Art zu kämpfen, nämlich durch die Gewalt, ist laut Machiavelli die der Tiere. Nicht mehr der Mensch, sondern das Tier. Die Gewalt und nicht das Gesetz, das Recht des Stärkeren, das macht die Eigentümlichkeit des Tieres aus. Nach diesem zweiten Schritt geht Machiavelli in einem dritten Schritt auf das Argument ein, dass die erste Art zu kämpfen – mithilfe des Gesetzes – in Wahrheit unzureichend ist, denn sie ist im Grunde machtlos. Deshalb muss man auf die andere Art zurückgreifen. Der Fürst muss demnach mit beiden Waffen kämpfen, dem Gesetz und der Gewalt. Er muss sich sowohl als Mensch als auch als Tier verhalten. Der Fürst muss es also „gut verstehen, Mensch oder Tier zu spielen“.3
Wenn das Handeln mithilfe des Gesetzes (der Treue zum Eid und so weiter) machtlos ist, nicht funktioniert, schwach, zu schwach ist, dann muss man sich wie ein Tier verhalten. Der menschliche Fürst soll sich verhalten, als wäre er ein Tier. „Das haben in verhüllter Form die antiken Schriftsteller die Fürsten gelehrt: sie erzählen, daß Achilles und viele andere antike Fürsten dem Zentaur Chiron zur Erziehung übergeben worden sind, der sie unter seiner Zucht behüten sollte. Das soll nichts anderes heißen, als daß sie zum Lehrer einen Tiermenschen hatten und daß es ein Fürst verstehen muß, beides zu sein; eines ohne das andere birgt keine Dauer.“4
Machiavelli legt den Nachdruck nicht so sehr auf den menschlichen Aspekt dieses zentaurischen Fürsten, dieses Herrschers, der Zögling und Schüler eines Zentaurs ist, der zugleich Mensch und Tier sein soll, sondern betont eher die Notwendigkeit, dass die animalische Seite selbst hybrid, zusammengesetzt, eine Mischung oder Verbindung zweier Tiere sein soll, des Löwen und des Fuchses. Nicht bloß ein Tier, sondern zwei in einem.
„Denn der Löwe ist nicht geschützt gegen die Schlingen und der Fuchs nicht gegen die Wölfe. Er muß also Fuchs sein, um die Schlingen zu kennen, und Löwe, um die Wölfe zu schrecken. Die sich nur auf die Löwennatur verstehen, sind nicht gut beraten.“5
Hier ist der Erzfeind immer ein Wolf. Das Tier, das verjagt, verdrängt, unterdrückt, bekämpft werden soll, ist der Wolf. Es geht darum, sich gegen die Wölfe zu wehren. Aber noch wichtiger und dringlicher ist es, den Wölfen Angst einzujagen: Denn der Fuchs ist nicht geschützt „gegen die Wölfe. Er muß also Fuchs sein, um die Schlingen zu kennen, und Löwe, um die Wölfe zu schrecken.“ Wenn der Löwe allein nicht ausreicht, um den Wölfen Angst einzujagen, muss man trotzdem, und zwar mit der Gewandtheit des Fuchses, die Terroristen terrorisieren, wie Charles Pasqua6 seinerzeit sagte. Das heißt, dass man sich fürchten lassen soll als jemand, der potenziell noch furchtbarer, schrecklicher, grausamer und noch gesetzloser ist als der die wilde Gewalt versinnbildlichende Wolf.
Ich will die gegenwärtigen und allzu offensichtlichen Illustrationen dieser Überlegungen nicht übermäßig strapazieren und lediglich an das erinnern, was auch Noam Chomsky in seinem Buch über die Schurkenstaaten7 feststellt: Das Stratcom (US Strategic Command)8 empfiehlt als Antwort auf die Bedrohungen des „internationalen Terrorismus“ der Schurkenstaaten (Englisch: Rogue States – ich erinnere daran, dass das Adjektiv „rogue“ auch Tiere bezeichnen kann, die die Regeln ihrer jeweiligen Tiergesellschaft missachten und sich von der Gruppe absetzen), dem Feind nicht nur durch die Drohung mit einem Atomkrieg Angst zu machen – was man sich immer reiflich überlegen sollte – oder gar durch Bioterrorismus, sondern vor allem dadurch, dass man ihm das Bild eines Gegners (eben der Vereinigten Staaten) vermittelt, der wie ein Tier immer zu allem bereit ist, der außer sich geraten und seine Beherrschung verlieren kann, der aufhören kann, rational und als vernunftbegabtes Wesen zu handeln, sobald es um seine vitalen Interessen geht.
Man dürfe sich nicht als zu „rational“ zeigen, heißt es in dieser Richtlinie, wenn es um die Bestimmung dessen geht, was dem Feind am kostbarsten – und folglich zu bedrohen ist. Mit anderen Worten, man soll sich seiner Sinne nicht mächtig zeigen, zu verstehen geben, dass man seiner Sinne nicht mächtig sein und in der Bestimmung seiner Ziele wie ein Tier agieren kann, nur um Angst zu erzeugen und glauben zu machen, dass man zu allem bereit ist, dass man wahnsinnig wird, wenn vitale Interessen berührt sind. Man muss vortäuschen, dass man wahnsinnig, verrückt, irrational, also zum Tier werden kann. Es sei „schädlich“ („it hurts“), lautet eine der Stratcom-Empfehlungen, uns selbst als zu rational und beherrscht darzustellen. „Dagegen ist es für unsere Strategie ‚nützlich‘ (beneficial), gewisse Elemente als ‚außer Kontrolle‘ (out of control) erscheinen zu lassen.“
Diese Fähigkeit zur Täuschung, diese Macht des Scheins soll der Fürst erwerben, um sich mit den Eigenschaften sowohl des Fuchses als auch des Löwen auszustatten. Die Verwandlung ist selbst eine menschliche List, eine List des Fuchsmenschen, die vortäuschen soll, keine List zu sein. Das ist das Wesen der Lüge, des Märchens oder des Trugbilds, nämlich sich als Wahrheit oder Wahrhaftigkeit darzustellen, zu schwören, dass man treu ist, und das wird immer die Voraussetzung für die Untreue sein. Der Fürst soll nicht nur ein Fuchs sein, um listig wie der Fuchs zu sein, sondern um vorzutäuschen, etwas zu sein, was er nicht ist, und nicht das, was er ist. Also um vorzutäuschen, kein Fuchs zu sein, während er in Wirklichkeit ein Fuchs ist. Unter der Bedingung, dass er ein Fuchs ist oder zum Fuchs wird oder wie ein Fuchs wird, kann der Fürst zugleich Mensch und Tier, Löwe und Fuchs sein.
Nur ein Fuchs kann sich auf diese Weise verwandeln, kann sich daran machen, einem Löwen ähnlich zu sein. Ein Löwe kann das nicht. Der Fuchs muss hinreichend Fuchs sein, um den Löwen zu spielen und so weit zu gehen, dass, ich zitiere Machiavelli, „das Wesen des Fuchses verschleiert wird“. Ich lese Ihnen jetzt einige Zeilen vor, bei denen Sie sehen werden, dass Machiavelli ein bestimmtes Beispiel im Sinn hat. Er hält eine listige Lobrede auf einen fuchsgleichen Fürsten seiner Zeit:
„Es kann und darf ein kluger Fürst sein Wort nicht halten, wenn eine solche Treue ihm schädlich ist und wenn die Gründe wegfallen, derentwegen er sein Versprechen gegeben hat. Wenn alle Menschen Engel wären, wäre dieser Vorschlag kein guter; aber sie sind es leider nicht und würden dir nicht Wort halten; daher brauchst du es ihnen auch nicht zu halten. Es fehlen einem Fürsten niemals gute Gründe, seinen Wortbruch zu bemänteln. Man könnte zahllose Beispiele der jüngsten Zeit dafür anführen und zeigen, wie viele Verträge, wie viele Versprechungen durch die Untreue der Fürsten eitel und vergeblich geworden sind; wer am besten sich auf die Fuchsnatur versteht, ist am besten gefahren. Aber man muß dieses Wesen gut beschönigen und im Heucheln und Verstellen Meister sein: die Menschen sind so einfältig und gehorchen so den Bedürfnissen des Augenblicks, daß der Betrüger immer solche findet, die sich betrügen lassen.“9
Ist es noch nötig, an die zahllosen Beispiele aus unserer Moderne zu erinnern, in der, wie Hannah Arendt betonte, ausgerechnet die mächtigsten Staaten, indem sie das internationale Recht nach ihren Interessen gestalten und beugen, den schwächsten Staaten die Grenzen ihrer Souveränität aufzeigen und diese de facto auch festschreiben. Manchmal gehen sie sogar so weit, das internationale Recht, das nicht zuletzt durch ihren eigenen Beitrag in institutionelle Formen gegossen wurde, zu verletzen oder zu missachten, während sie zugleich den schwächsten Staaten vorwerfen, es zu missachten und Schurkenstaaten zu sein. Diese mächtigen Staaten, die für die anderen und sich selbst immer Gründe parat haben, mit denen sie sich rechtfertigen, und die trotzdem nicht unbedingt recht haben, nun, sie setzen sich über ihre ohnmächtigen Gegner einfach hinweg – und reißen sich manchmal wie grausame, wilde oder wutschnaubende Tiere von ihren Ketten los.
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Jacques Derrida (1930–2004) lehrte Philosophie an der École des hautes études en science sociales. Zu seinen Hauptwerken zählen die „Grammatologie“ und „Die Schrift und die Differenz“. Der hier abgedruckte Text ist ein leicht gekürzter Auszug aus dem im Herbst 2008 postum bei Editions Galilée (Paris) erscheinenden Band „Séminaire La bête et le souverain, volume 1 (2001–2002)“. Die deutsche Übersetzung des Buches erscheint voraussichtlich 2011 beim Passagen Verlag (Wien).