17.01.2003

Kein Land in Sicht

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Kein Land in Sicht

SO wie es aussieht, wird der amtierende israelische Ministerpräsident Ariel Scharon und seine Partei bei den Wahlen am 28. Januar den Sieg davontragen. Doch der offensive Wahlkampf von Amram Mitzna, dem Bürgermeister von Haifa und Vorsitzenden der Arbeitspartei, hat den Likud-Block bereits geschwächt. Hinzu kommt, dass Scharons Chancen, zukünftig ohne die Arbeitspartei zu regieren, durch den Korruptionsskandal weiter sinken.

Von AMNON KAPELIOUK *

Die Lage im derzeitigen israelischen Wahlkampf ist paradox. Um die Sicherheit und die Wirtschaft steht es schlecht, die Stimmung in der Bevölkerung hat einen Tiefpunkt erreicht. Israel verhandelt nicht mehr mit den Palästinensern, sondern setzt im Westjordanland und im Gaza-Streifen seinen Feldzug zur Vernichtung der palästinensischen Institutionen und sozialen Strukturen fort. Ein Ende der Intifada und der Selbstmordanschläge in israelischen Städten ist nicht in Sicht.

Verantwortlich für diese katastrophale Lage ist zweifellos der Likud, die Partei der nationalen Rechten, die seit zwei Jahren unter General Ariel Scharon die Regierung stellt. Doch Scharon, der mittlerweile den Beinamen „Vater des Scheiterns“ hat, liegt in allen Meinungsumfragen deutlich vorn, obwohl er sein Wahlversprechen vom Februar 2001, dem Land Frieden und Sicherheit zu bringen, keineswegs eingelöst hat. In seiner Amtszeit kamen mehr Israelis ums Leben denn je (außer in Kriegszeiten): etwa 700, und zwar überwiegend Zivilisten. Auf Seiten der Palästinenser starben dreimal so viele Menschen.

Auch die Wirtschaft hat unter Scharon gelitten. Negative Wachstumsraten über zwei Jahre in Folge – das gab es seit 1953 nicht mehr. Offiziell beträgt die Arbeitslosigkeit 10,4 Prozent (tatsächlich 13 Prozent, weil viele Langzeitarbeitslose nicht mehr gemeldet sind). Die Inflationsrate, jahrelang konstant, liegt wieder bei 7 Prozent pro Jahr. Der Tourismus ist um zwei Drittel zurückgegangen. Und mehr als 18 Prozent der Israelis leben inzwischen unterhalb der Armutsgrenze. Das Land ist marode. Tausende junge Familien verlassen ihre Heimat, und die Einwanderungszahl ist deutlich rückläufig – von 2000 bis 2001 ist sie um 28 Prozent gesunken.

Man sollte meinen, dass sich in dieser Situation trotz aller internen Differenzen neue Chancen für die israelische Friedensbewegung eröffnen müssten. Doch das Gegenteil ist der Fall: In den Meinungsumfragen ist die Friedensbewegung weit abgeschlagen.

Dabei sprechen sich zwei Drittel der Bevölkerung (und mehr als die Hälfte der Likud-Anhänger) für einen Palästinenserstaat aus und 63 Prozent für eine Räumung der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten als Beitrag zu einer friedlichen Lösung. All dies steht im Widerspruch zu Scharons Positionen. Als Jehuda Lancry, Israels Botschafter bei den Vereinten Nationen, am 29. November 2002, genau 54 Jahre nach dem UN-Teilungsplan für Palästina, in der UN-Vollversammlung erklärte, sein Land unterstütze die Schaffung eines palästinensischen Staates, wurde er von seinem Dienstherrn sofort zurückgepfiffen. Es handele sich um die Privatmeinung des Botschafters, ließ Scharon wissen. Der Ministerpräsident ist überzeugt, dass der Konflikt nur militärisch zu lösen und dass die Siedlungspolitik von entscheidender Bedeutung für die Sicherheit des Landes ist.

Mit Blick auf die internationale Gemeinschaft und die gemäßigte Fraktion der rechten Wählerschaft hat auch Scharon schon erklärt, dass er bereit sei, einen Palästinenserstaat zu akzeptieren. Allerdings soll dieser Staat nicht über eigene Streitkräfte, sondern nur über eine Polizei mit leichter Bewaffnung verfügen. Und vor allem soll er sich nur auf die Zonen A und B der Osloverträge1 erstrecken ( d. h. 41 Prozent des Westjordanlands), ein Gebilde aus Enklaven, die durch Tunnel oder Brücken verbunden werden könnten. Israel würde die Kontrolle des Luftraums und der äußeren Grenzen beanspruchen; zudem sei die gegenwärtige palästinensische Führung abzusetzen: Scharon hofft auf neue (kollaborierende) politische Kräfte, die sich mit einer dauerhaften Besetzung und Besiedlung Palästinas abfinden.

Soll man überhaupt noch mit Arafat verhandeln? Nach Meinungsumfragen sprechen sich mehr als zwei Drittel (68 Prozent) der Befragten – Anhänger der Arbeitspartei, des Likud und der Schinui (Zentrum) – für Gespräche mit dem Palästinenserführer aus.2 Aber sie erklären zugleich mehrheitlich, dass sie vermutlich Scharon wählen werden. Ein Widerspruch, den man sich im Gespräch mit Israelis etwa so deuten lassen kann: „Natürlich ist die Situation unerträglich, aber gibt es eine Alternative? Welche neue Regierung könnte uns denn aus der Sackgasse herausführen? Deshalb werde ich doch wieder für Scharon stimmen …“ Und so geht alles seinen Gang, als sei die letzten beiden Jahre nichts gewesen.

Fraglos hatte die Friedensbewegung lange bevor Scharon an die Macht kam, bereits verloren. Der Niedergang setzte schon in den ersten Jahren nach den Osloverträgen (1993–1996) ein, und damals bestand die Regierung noch aus einer Koalition von Arbeitspartei und Meretz (linke Zionisten). Im Mai 1996, sechs Monate nach der Ermordung von Jitzhak Rabin, gewann der Likud-Block unter Benjamin Netanjahu die Parlamentswahlen. Der neue Regierungschef ließ keine Provokation aus – von der Öffnung eines Tunnels unter dem Heiligen Bezirk der Moscheen auf dem Tempelberg (September 1996) bis zum Bau einer jüdischen Siedlung (Har Homa) im palästinensischen Dschebel Abu Ghuneim an der Stadtgrenze von Jerusalem (Februar 1997). Auch blockierte Netanjahu drei Jahre lang die Verhandlungen mit den Palästinensern. Damals machte das politische Lager der Friedensbewegung mobil, organisierte Proteste – und der Machtwechsel wurde tatsächlich geschafft: Ende Mai 1999 war Ehud Barak, der Vorsitzende der Arbeitspartei, neuer Ministerpräsident.

Das Scheitern des Camp-David-Gipfeltreffens vierzehn Monate später, im Juli 2000, war für die Anhänger einer Friedenslösung ein schwerer Schlag, zumal Barak, um sein Scheitern zu legitimieren, eine Kampagne gegen Arafat startete: „Arafat ist kein Partner mehr für den Frieden.“ Von den Befürwortern einer Lösung im Geiste von Oslo kamen kaum Proteste, nicht einmal von Schimon Peres. In der israelischen Öffentlichkeit gewann die Regierungspropaganda die Oberhand.

Am 28. September 2000 besuchte Likud-Führer Ariel Scharon den Heiligen Bezirk der Moscheen (Haram asch-Scharif) auf dem Tempelberg in Jerusalem. Auf die wütenden Proteste junger Palästinenser reagierten die Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger Härte. Innerhalb von drei Tagen gab es 28 Tote und 500 Verletzte – darunter 13 arabische Israelis. Unmittelbar darauf begann eine Kampagne gegen Jassir Arafat, dem man vorwarf, er habe „blutige Unruhen angestiftet, um auf der Straße durchzusetzen, was er am Verhandlungstisch nicht bekommen“ habe. Aus Regierungskreisen hieß es sogar, der Palästinenserpräsident versuche jetzt, „den jüdischen Staat zu vernichten“. Die Gemäßigten und die Pazifisten blieben stumm – das Lager der Friedensfreunde schrumpfte.

Nach seinem Wahlsieg bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 6. Februar 2001 verschaffte sich Scharon durch seine Regierung der „nationalen Einheit“ die nötige Rückendeckung für die Wiederbesetzung der autonomen Städte und den Feldzug gegen Arafat und die Palästinensischen Autonomiebehörde.

Als am 13. Dezember 2001 die Belagerung der Muqataa, Arafats Hauptquartier in Ramallah, begann, ging es ganz eindeutig darum, Arafat loszuwerden – den einzigen nationalen Führer in der arabischen Welt, der demokratisch, in einer von 2000 internationalen Beobachtern überwachten Abstimmung, gewählt wurde. In den Medien diskutierte man ernsthaft die Frage: „Soll Arafat getötet werden, oder reicht es, ihn auszuweisen?“ Da sich auch Professoren, Journalisten und Politiker beteiligten und aus dem Lager der Friedensbefürworter kaum Gegenwehr kam, begann die psychologische Kriegsführung in der Öffentlichkeit Wirkung zu zeigen. Schimon Peres, der „Pate von Oslo“, reihte sich nach einigem Zögern ebenfalls in die Schar der Arafat-Gegner ein. Unter den Spitzenpolitikern der Arbeitspartei war allein der frühere Justizminister Jossi Beilin aufrichtig genug, sich an der Diffamierung Arafats nicht zu beteiligen.3

Das israelische Friedenslager ist gespalten. Einer gemäßigten, sozialdemokratischen Richtung, zu der die Arbeitspartei, Meretz und die außerparlamentarische Bewegung „Peace now“ gehören, stehen mutige radikale Gruppen gegenüber, darunter die von dem ehemaligen Abgeordneten Uri Avnery geführte „Gusch Schalom“ und die junge jüdisch-arabische Gruppierung „Taajusch“ („Koexistenz“); die einzige der radikaleren Gruppierungen, die Abgeordnete in der Knesset hat, sind die Kommunisten.

Die Differenzen zwischen den beiden Richtungen sind nicht unerheblich. Während die Gemäßigten undeutlich von einer „Korrektur der Grenzen von 1967“ und der Auflösung „eines Teils“ der Siedlungen sprechen und Vorbehalte gegen Verhandlungen mit Arafat äußern, treten die Radikalen ganz klar für die Rückkehr zu den Grenzen vor 1967 und die Auflösung aller Siedlungen ein. Einige ihrer Vertreter haben auch dem belagerten Palästinenserführer in Ramallah ihre Aufwartung gemacht.

In Israel gelten alle Friedensanhänger als „links“, obwohl sich unter ihnen einige finden, die sozial durchaus nicht zur klassischen „Linken“ zu rechnen sind, denn viele Mitglieder der Arbeitspartei und der Meretz-Partei gehören zu den höheren Einkommensschichten. In Israel bezeichnet „links“ heute fast ausschließlich eine einzige politische Orientierung: alle gemäßigten Kräfte, die für eine ehrenvolle Übereinkunft mit den Palästinensern eintreten. Mit Klassenkampf, dem 1. Mai und roten Fahnen haben sie nichts zu schaffen.

Die Arbeitspartei wird sich entscheiden müssen: Nur indem sie ihr Hin und Her aufgibt und zu einer klaren Position findet, kann sie wieder – wie in den ersten Jahren nach den Osloverträgen – zur führenden Kraft in der Bewegung der Friedensbefürworter werden. Dazu muss sie allerdings die drei Barak‘schen Behauptungen verwerfen: Arafat hat sich von uns abgewandt, „obwohl wir ihm alles gegeben haben“; „der PLO-Chef hat die bewaffnete Auseinandersetzung begonnen, um Vorteile gegenüber Israel herauszuschlagen“; „Arafat ist kein Partner im Friedensprozess, sondern ein Terrorist.“ Solange die Arbeitspartei dies nicht tut, stützt sie die politische Logik von Barak und Scharon.

Es war Baraks entscheidender Fehler, das Vertrauen in den Friedensprozess erschüttert zu haben. Er zeigt im Übrigen keine Einsicht. Amram Mitzna, den neuen Vorsitzenden der Arbeitspartei, der schon im ersten Wahlgang einen klaren Sieg über Verteidigungsminister Benjamin Ben-Elieser errungen hatte, ließ er wissen: „Die Linke wird sich nur erholen, wenn sie deutlich erklärt, dass Arafat die Verantwortung für die blutige Eskalation des Konflikts trägt.“ Mitzna, Bürgermeister von Haifa, hat diesen Rat bereits in einem Zeitungsinterview mit Ha‘aretz zurückgewiesen.

Frage: „Arafat ruft Sie auf zu einem ‚Frieden der Tapferen‘. Werden Sie sich darauf einlassen?“ Antwort: „Im Falle meiner Wahl zum Ministerpräsidenten werde ich die Palästinenser zur Rückkehr an den Verhandlungstisch auffordern. Und selbstverständlich entscheiden sie, wen sie zu ihrem Verhandlungsführer wählen.“

Frage: „Werden Sie auch mit Arafat verhandeln?“ Antwort: „Wenn die Palästinenser Arafat schicken, dann verhandle ich auch mit ihm.“4

Die palästinensischen Selbstmordanschlage bringen die Linke in Rechtfertigungsnotstand. Das ist allen klar, auch der Autonomiebehörde, die sehr wohl weiß, dass die Anschläge ihr nicht nützen und die diese wiederholt verurteilt hat. Umfragen zeigen, dass 80 Prozent der Palästinenser ein Ende dieser Aktionen wünschen, unter der Bedingung allerdings, dass auch Israel seine Angriffe einstellt.5 Vielleicht wird das „Phänomen Mitzna“ zu einer Beendigung der Anschläge beitragen und das Friedenslager stärken.

Der neue Führer der Arbeitspartei steht unter Druck von allen Seiten, auch aus den eigenen Reihen. In der Mitte Dezember beschlossenen Kandidatenliste für die Wahlen finden sich reichlich „Falken“ aus der Fraktion von Ben-Elieser. Friedensfreunde wie Jossi Beilin, Jael Dayan und Tsali Reschef dagegen erhielten keine aussichtsreichen Listenplätze – Beilin und Dayan kandidieren inzwischen auf der Liste der Meretz-Partei. Amram Mitzna vertritt jedenfalls klare Positionen: In Abgrenzung zur Politik Scharons fordert er den sofortigen Rückzug Israels aus dem Gaza-Streifen, die Auflösung aller Siedlungen in diesem Gebiet und den Abbau der meisten Kolonien im Westjordanland. Und er tritt neben der sofortigen Wiederaufnahme der Friedensgespräche für einen lebensfähigen Staat Palästina ein. Kein Wunder, dass Arafat die Wahl Mitznas begrüßt hat – er appellierte an den neuen Führer der Arbeitspartei, „in die Fußstapfen Rabins zu treten“.

dt. Edgar Peinelt

* Journalist, Jerusalem.

Fußnoten: 1 In den Osloverträgen wurde Westjordanland in drei Zonen aufgeteilt: eine Zone unter palästinensischer Souveränität (A), eine unter gemischter Souveränität (B) und eine unter israelischer Souveränität (C). Zu Beginn der Al-Aksa-Intifada umfasste Zone A 17,2 %, Zone B 23,8 % des gesamten Gebietes. 2 Ha‘aretz (Tel Aviv), 29. November 2002. 3 Siehe Yossi Beilin, „Apprendre à vivre ensemble“, Le Monde diplomatique, April 2002. 4 Maariv (Tel Aviv), 23. November 2002. 5 Ha‘aretz, 28. November 2002.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von AMNON KAPELIOUK