17.01.2003

Ein Rebell als Präsident

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Ein Rebell als Präsident

Von MARC SAINT-UPERY *

WIE sein venezolanischer Amtskollege Hugo Chávez ist auch Lucio Gutiérrez, der Sieger der Präsidentschaftswahlen vom 24. November in Ecuador, zunächst durch seine Teilnahme an einem militärischen Aufstand bekannt geworden. Am 21. Januar 2000 hatte eine Gruppe junger Offiziere, unterstützt von tausenden von Ureinwohnern und ihrer Organisation Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador (CONAIE – Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors), für ein paar Stunden das Parlamentsgebäude der 12,5 Millionen Einwohner zählenden Andenrepublik besetzt und dadurch den Sturz der Regierung Jamil Mahuad bewirkt.1

Auch schon bevor eine in der Klemme sitzende Exekutive die Einführung des Dollars als offizielles Zahlungsmittel beschloss, hatte 1999 die Rettung der Banken das Fass der Unzufriedenheit in der Bevölkerung zum Überlaufen gebracht. Rund 3 Milliarden Euro schenkte der Staat damals einer Finanzoligarchie, die illegal den doppelten Wert der ecuadorianischen Devisenreserve verschwendet und hunderttausende von Kleinsparern um ihre lebenslangen Ersparnisse gebracht hatte.2 Die Wahlparolen von Gutiérrez standen in scharfem Widerspruch zur Bibel des Neoliberalismus: Kampf gegen die Korruption, Verringerung der Armut, staatliche Investitionen in das Gesundheits- und Bildungswesen, Förderung der „fünf Sicherheiten“ (soziale, staatsbürgerliche, juristische, ökologische und Ernährungssicherheit) und Stimulierung eines Wettbewerbs um die Schaffung von Arbeitsplätzen. Auf dieser Grundlage hatte er 2001 seine politische Bewegung, den Partido Sociedad Patriótica 21 de Enero (PSP), gegründet und seine Allianz mit den Indianern erneuert.

Allerdings ist die Bewegung der ecuadorianischen Ureinwohner kein bloßes Anhängsel von Guitiérrez‘ Aktionismus. Seit der Gründung der CONAIE 1986 und vor allem seit der nationalen Erhebung 19903 haben es die Indianer verstanden, gesellschaftlichen Kampf und institutionelle Praxis miteinander zu verbinden. Nach einer Phase der Verweigerung dessen, was sie als „ausschließende Demokratie“ bezeichnete, hat die CONAIE beschlossen, das Wahlterrain nicht länger der traditionellen Oligarchie zu überlassen.

Gemeinsam mit anderen Teilen der Bevölkerung, die der Linken und den sozialen Bewegungen nahe stehen, gründete sie 1995 die Pachakutik-Bewegung (Movimiento de Unidad Plurinacional Pachakutik-Nuevo país; MUPP-NP). In den 27 Gemeinden, in denen sie heute das Sagen hat, praktiziert die MUPP-NP eine demokratische Politik der multikulturellen Mitbestimmung.4

Auf Grund ihrer positiven Einstellung zum Zusammenschluss der progressiven Kräfte hat Pachakutik schließlich im Frühling 2002 beschlossen, die Präsidentschaftskandidatur von Gutiérrez zu unterstützen. Die Wahlergebnisse des früheren Oberst in den Indianergebieten der Anden und Amazoniens wie auch die Zugewinne des MUPP-NP – von 6 auf 11 Abgeordnete5 – zeigen, dass das Fußfassen der Indigena-Bewegung Wirkung gezeitigt hat. Für Pachakutik bedeutet dieser Sieg, der so gar nicht dem Rhythmus des Aufbaus einer noch sehr jungen politischen Kraft entspricht, eine erhebliche Herausforderung und zugleich eine Erfahrung ohne Beispiel in Lateinamerika.

Die Diskussion über die Regierungsbildung hat zu den ersten öffentlichen Reibereien mit Gutiérrez‘ PSP geführt. Für Miguel Lluco, den nationalen Koordinator des MUPP-NP, muss die Mitverantwortung für die Politik der Regierung unter anderem darin Ausdruck finden, dass die Indigenas wichtige Ministerien erhalten. Statt innerhalb der Regierung an den Rand gedrängt zu werden, würde Pachakutik eine rein parlamentarische Koalition bevorzugen. Deren Dauerhaftigkeit hinge davon ab, wie weit Gutiérrez seine wesentlichen Versprechungen hält. So hat er sich unter anderem gegen die Integration in die Freihandelszone von Nord- und Lateinamerika6 ausgesprochen wie auch gegen die Verwicklung Ecuadors in den kolumbianischen Konflikt aufgrund der Interessen Washingtons, das in dieser Richtung erheblichen Druck ausübt.

Wie dem auch sei, Gutiérrez verfügt über keine parlamentarische Mehrheit (die PSP hat selbst nur sechs Abgeordnete) und muss nicht nur Einigung mit einer Sozialdemokratie (16 Abgeordnete) suchen, die sich zur Zeit abwartend verhält, sondern auch mit den Kräften der Mitte und der Populisten. Die werden sich ihre Unterstützung teuer bezahlen lassen, so etwa die Roldosistische Partei von Ecuador (PRE) unter Führung des ehemaligen Präsidenten Abdula Bucaram, der in Panama im Exil lebt. Doch am meisten Besorgnis erregt die wirtschaftliche Lage. 2003 wird der Schuldendienst für die Auslandsverschuldung des Landes (über 12 Milliarden Dollar, fast 80 Prozent des Bruttoinlandprodukts) Ecuador 2 Milliarden Dollar kosten.

Das Staatsdefizit wird für 2002 auf rund 250 Millionen Dollar geschätzt. Offensichtlich ist die absolut obskure Amtsführung des ehemaligen – zur Zeit flüchtigen – Wirtschaftsministers Carlos Emanuel nicht ganz unschuldig an dieser Situation, einem Streitpunkt zwischen der scheidenden Regierung und Gutiérrez, den die mangelnde Transparenz der offiziellen Zahlen alarmiert hatte. Doch das Schlimmste ist das wachsende Defizit der Zahlungs- wie auch der Handelsbilanz (zum Teil eine perverse Auswirkung der Dollareinführung), das über 1,7 Milliarden beziehungsweise 1,4 Milliarden Dollar beträgt.

Angesichts dieser katastrophalen Situation hat die Bewegung der Indigenas ihre Bereitschaft bekundet, keine überzogenen Ansprüche zu stellen, zugleich jedoch Konsequenz und Transparenz der Staatsgeschäfte gefordert. Auch Gutiérrez hat die Ecken und Kanten seines Programms immer weiter abgeschliffen. Darauf bedacht, sich – zumindest taktisch – von Chávez und sogar von Luiz Inácio „Lula“ da Silva abzugrenzen, hat er seine erste Reise nach den Wahlen Washington vorbehalten. Einen Besuch in Bogotá nahm er Anfang Dezember zum Vorwand, um eine Begegnung mit dem Präsidenten Venezuelas und Fidel Castro zu vermeiden, die zur Einweihung eines dem Maler Oswaldo Guayasamín gewidmeten Museums nach Quito gekommen waren.

Selbst der Wille zu einer einfach nur „sauberen“ und effizienten Regierung stößt auf beträchtliche Hindernisse. Dabei ist das Engagement des neuen Präsidenten gegen die Korruption durchaus glaubwürdig. Er hat bereits persönlich dafür bezahlt, als er seine militärische Karriere aufgab, und man kann ihm nicht unterstellen, den räuberischen Praktiken der traditionellen politischen Klasse Vorschub leisten zu wollen. Aber die Clans der Grundbesitzer und die mafiosen korporatistischen Interessen sind fest eingekapselt ins Staatsgefüge und besitzen eine ungeheure Fähigkeit zu Erpressung und Sabotage. Tief verwurzelt ist die Korruption außerdem in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, die häufig sehr schlecht entlohnt wird, was sich angesichts des Bankrotts der Staatsfinanzen kurzfristig auch kaum beheben lässt. Dass man sich dieser Schwierigkeiten bewusst ist, erklärt vielleicht, weshalb in Ecuador nach den Wahlen keine große Euphorie ausgebrochen ist. Die Anzeichen einer atmosphärischen Veränderung sind subtiler: die ein wenig gezwungene Ehrerbietung, mit der sich die Journalisten jetzt an indigene Führer wenden, die man noch nie so oft im Fernsehen gesehen hat; die plötzliche Sorge der Unternehmerverbände um die „soziale Verpflichtung“ des Landes.

Die gesellschaftlichen Sektoren wiederum, die den Oberst unterstützt haben, nehmen eine vorsichtig abwartende Haltung ein. Niemand stellt die Notwendigkeit einer Konkordanzregierung in Frage, aber viele betonen, dass diese nicht nur das Ergebnis einer einfachen Addition partikulärer Interessen sein kann. Für Kintto Lucas, den Chefredakteur der linken Zweimonatszeitschrift Tintají, muss sich der Oberst „darüber im Klaren sein, dass er es nicht allen recht machen kann. Die Übereinstimmungen und Differenzen müssen transparent sein, damit die Leute sehen, dass man ihnen nichts vormacht. Das Schlimmste, was der neuen Regierung passieren kann, ist, dass sich die Menschen betrogen fühlen. Das wäre der Schiffbruch für die Hoffnung von Millionen von Ecuadorianern.“

dt. Sigrid Vagt

* Journalist, Quito

Fußnoten: 1 Schätzungsweise 70 bis 80 Prozent der Ecuadorianer leben in Armut. 2 Die Rettung der Banken soll 24 Prozent des Bruttoinlandprodukts gekostet haben. Die Sozialausgaben betrugen 1999 7 Prozent des BIP, die für Erziehung und Bildung 3 Prozent, die für Gesundheit 2,2 Prozent. 3 Weitere nationale Märsche und Aufstände der Ureinwohner der Pazifikregion fanden 1992, 1994, 1995 und 2001 statt. 4 Die MUPP-PN hat auch 5 von 22 Provinzpräfekturen erobert. 5 Von 100 (123 in der vergangenen Legislaturperiode). 6 Pachakutik plädiert für eine Verstärkung der regionalen Wirtschaftszusammenschlüsse und eine Annäherung zwischen Andengemeinschaft und Mercosur.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von MARC SAINT-UPERY