17.01.2003

Vor Allah sind alle Somali gleich

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Vor Allah sind alle Somali gleich

Vor der somalischen Küste patrouillieren Schiffe der Bundesmarine im Kampf gegen den Terror. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs gibt es in Somalia keine anerkannte und funktionierende Staatsmacht mehr – das Land gilt als Bastion der Fundamentalisten und heimliche Basis von al-Qaida. Dabei ist die Geschichte des somalischen Islam eher von Toleranz als von Fundamentalismus, von heimischen Traditionen als von Dogmen geprägt.

Von ABDURAHMAN H. H. ADEN *

DER 11. September war der Auslöser für einen Vulkanausbruch, der sich zwar im Stillen angekündigt hatte, dessen Wucht jedoch nicht vorstellbar gewesen war. Seither steht der Islam unter Generalverdacht: Er wird in die Nähe des Fundamentalismus gerückt und der Fundamentalismus in die Nähe des Terrorismus. Ein solches Denken in Stereotypen und Feindbildern festigt das ohnehin bestehende Vorurteil, nach dem der Islam der Feind der Freiheit ist.1

Lange Zeit hat der Westen die islamische Welt mit dem Orient gleichgesetzt. Diese Vorstellung ist jedoch schon seit einigen Jahrhunderten überholt und wird in der Zukunft noch weniger haltbar sein. Es muss sogar die Frage erlaubt sein, ob man ohne Weiteres von „dem Islam“ sprechen kann. Tatsächlich sind unter dem Begriff Islam stark voneinander unterschiedene Richtungen, Länder und Zeitabschnitte versammelt. Von deren realistischer Einschätzung seitens des Westens kann jedoch nicht die Rede sein – differenziert wird, wenn überhaupt, meist nur zwischen der Zugehörigkeit zur schiitischen oder sunnitischen Glaubensrichtung.

Viel zu wenig bekannt sind Unterschiede der religiösen Praxis zwischen den islamischen Kernländern des Orients einerseits und Subsahara-Afrika andererseits. Was haben saudi-arabischer Fundamentalismus und zentralasiatischer Säkularismus, was das gemäßigte Marokko, das militaristische Pakistan und das prowestliche Ägypten gemein? Nicht viel mehr als das, was verschiedene christliche Länder miteinander verbindet. Zu den islamisch geprägten Ländern zählen einige der reichsten Länder der Welt, etwa Brunei in Fernost oder die Vereinigten Arabischen Emirate, aber auch einige der ärmsten Länder, zum Beispiel Somalia. Denn die islamische Welt von heute ist keine organische Einheit, sondern ein Komplex, der mehrere Hauptgemeinschaften und zusätzlich kleinere Gruppen umfasst. Zwischen ihnen besteht eine Abstufung, aber keine Hierarchie. Keine ist einer anderen untergeordnet, noch ist irgendeine gar der Gesamtheit untergeordnet.2 Überall lassen sich örtliche Besonderheiten feststellen, vor allem in den Randgebieten der islamischen Einflusszone, zu denen auch Somalia zählt.

Die Freiheit in der Auslegung des Korans geht weit: Es gibt nicht einmal eine eindeutige Aussage darüber, wie ein islamischer Staat auszusehen hat. Es heißt, Allah habe zeitgemäße Interpretationen zugelassen. Wo keine Regel existiert, ist die Initiative der Muftis gefordert (arab. Bab al Ijtihat).

Koran und Karawanen

DER Islam, „ein unverfälschter Wüstenglaube“, ist die Religion der Somali.3 So drückte es ein französischer Ethnologe aus. Nach der Überlieferung soll der Prophet Mohammed bei seiner Flucht nach Medina einem Teil seiner Anhänger empfohlen haben, im heutigen Äthiopien Schutz vor den Verfolgern zu suchen. Schon im Vorfeld der Islamisierung hatte Südarabien rege Beziehungen zu den Küstenstädten Somalias unterhalten. Mit der wachsenden Öffnung für den Islam aber kamen die Araber nicht mehr ausschließlich wegen des Handels, sondern ließen sich auch in großer Zahl in Afrika nieder. Das hohe Ansehen, das die Händler genossen, übertrug sich vermutlich auch auf ihre Religion.

Der Islam legte sich mit der Zeit wie Firnis über die ursprünglich vorherrschenden kuschitischen Glaubensvorstellungen. Dass er sich trotz der Sprachbarriere so selbstverständlich in Somalia durchsetzen konnte, verdankt er der Anknüpfung an verwandte Traditionen. Die Sprachkultur der Somali mit Gesängen zum Lobpreis Gottes, mit kultischen Dichtungen und Ritualen kam ihm entgegen.

Die ersten ausgebildeten Wanderprediger verbreiteten die neue Religion wie im Schneeballsystem bis ins Hinterland. Die Prediger beteten mit den Nomaden, segneten deren Tiere, berieten und beschwichtigten bei Streitereien und vollzogen Eheschließungen. Diese Wanderprediger waren oft selbst nicht sehr versiert in den Lehren des Islam und hatten den arabischen Text des Koran (114 Suren) nur auswendig gelernt.

Unter den Verbreitern des Islam bildeten sich Pioniergruppen unterschiedlicher Ausrichtungen heraus. Neben den Sheiks, die über Kenntnisse des islamischen Rechts verfügen, und den Ma‘alems, den Lehrern der Koranschulen, gibt es die Her, die man als mitwandernde Schüler bezeichnen könnte. Im Gefolge eines angesehenen Sheiks können sie sowohl mit ihm durch den Busch ziehen als auch in der Stadt unter seiner Leitung den Koran studieren, religiöse Angelegenheiten diskutieren und alle, die der Erleuchtung bedürfen, nach bestem Wissen belehren. Beim Volk werden alle wandernden Korangelehrten auch als Waddad (Würdenträger) oder Heilige bezeichnet, was dem Marabut der nordafrikanischen Länder entspricht. Die Waddads interpretieren den Koran, geben Ratschläge über Recht und Unrecht, so weit sie es verstehen, stellen Amulette her und heilen Krankheiten und Leiden durch stundenlanges Beten.

Ein Teil dieser Wanderprediger, genannt Uluma (arab. für „die Wissenden“), waren die ersten Verbreiter des Korans und dessen Auslegung (Tafsir). Die meisten von ihnen entstammten Familien mit starker religiöser Tradition. Bekannt ist dafür der Stamm Schikal, dessen Angehörige heute noch besondere Achtung genießen. Ein Ma‘alem kann hingegen jeder werden, der sich dazu berufen fühlt und den Koran in Gänze – auf Arabisch – auswendig kennt. Der Ma‘alem lebt als Privatlehrer von den Beiträgen der Eltern jener Kinder, die seine Koranschule besuchen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass der Ma‘alem oder gar seine Schüler verstehen oder wissen müssen, was sie rezitieren oder schreiben.

Die Somali sprechen Somal, eine Hamiten-Sprache, die vom Arabischen grundverschieden ist. Bis 1972 besaß die Somal-Sprache keine Schrift. Erst seitdem gibt es offiziell ein Somal mit lateinischen Schriftzeichen. Der Koran ist inzwischen ins Somal übersetzt, aber noch ist man nicht so weit, ihn auch auf Somal zu unterrichten. Man zieht noch immer das Arabische vor, weil dies die Originalsprache des Korans und die Sprache des verehrten Propheten Mohammed ist.

Durch die somalischen Uluma gelang die rasche Ausbreitung des Islam in Somalia. Deren Traditionsbewusstsein und Eifer für den neuen Glauben bildeten eine erfolgreiche Verbindung und führten zu einem Volksislam, der noch heute in Glaubensriten – und nicht in dogmatisch festgeschriebenen Glaubensinhalten – wirksam ist. Das islamische Recht ersetzte nicht das ungeschriebene Gewohnheitsrecht, sondern bildete eine Ergänzung dazu. Deshalb wurden islamische Vorgaben nur zum Teil angenommen.

Eine entscheidende Barriere gegen die unkritische Übernahme fundamentalistischer Positionen in Somalia ist u. a. die tiefe Verwurzelung in Clan und Stamm – und die Vorstellung vom jeweiligen Leben als Teil einer unendlichen Kette. Diese Vorstellung findet ihren Ausdruck in der Ahnenverehrung. Zugrunde liegt ihr der Glaube, dass geheimnisvolle Kräfte aus der Vergangenheit auch auf das Schicksal der heute lebenden Menschen einwirken. Islam und somalisches Stammesbewusstsein verschmolzen zu etwas Neuem: Die führenden Stämme Somalias neigen entgegen aller historischen Wahrscheinlichkeit dazu, ihre eigenen Stammväter für leibliche Nachkommen des Propheten Mohammed zu halten. Auf diese Weise blenden sie ihre eigene vorislamische Kult- und Abstammungslinie aus und erheben die Stammväter, als Helden und Wundertäter verehrt, in den Rang von Heiligen. So sehr die Verehrung der Ahnen demnach die Verbreitung eines volkstümlichen Islam gefördert hat, so sehr immunisiert sie aber auch gegen die Übernahme eines fundamentalistischen Islam, denn für strenggläubige Fundamentalisten ist Ahnenverehrung Ketzerei und Götzendienst. Doch wenn Clanmitglieder zusammenkommen, um ihre verstorbenen Angehörigen zu feiern, wird nicht nur geschlachtet und ein Festschmaus gehalten, und es wird auch nicht nur von den Heldentaten der Vorväter erzählt. Zu diesem festlichen Anlass treffen sich vielmehr auch Verwandte, die sich sonst aufgrund ihrer nomadischen Lebensweise kaum sehen, sie bereinigen schwelende Familienkonflikte und suchen nach Auswegen für Familienmitglieder, die in wirtschaftliche Not geraten sind. Die Gedenkfeier (Huss) für die Vorfahren hat nicht nur eine religiöse, sondern durch den Informationsaustausch auch eine eminent praktische Bedeutung, die von Fundamentalisten nicht verstanden wird und für die sie keinen Ersatz bieten können.

Der Islam in Somalia scheint von Anfang an mit weitgehendem Ignorieren und stillschweigender Duldung, hie und da auch mit der Umdeutung auf die überkommenen Vorstellungen und Gebräuche reagiert zu haben. Es gibt deutliche Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Afro-Islam und dem Islam der arabischen Kernländer. Während in den Kernländern Allah der Schöpfer der Natur ist und die Natur nur als Objekt ohne eigene Dynamik gesehen wird, begegnet der Afro-Islam der Natur mit nicht geringer Ehrfurcht, und Naturwunder werden als göttliche Offenbarung gedeutet. Es gibt keine scharfe Trennung zwischen Gott und Natur.

Der Afro-Islam versetzte den Islam aus dem Elfenbeinturm der Abstraktion hinein ins Alltagsleben. Das betrifft Voodoo-Heilkunde, Ahnenkult, Beschneidung, das Feuerfest, Regen- und Erntefeste, die Verehrung von Pflanzen und Tieren und dergleichen mehr. Die Stärke des Islam verdankt sich zumindest teilweise der Tatsache, dass er Raum für solche traditionellen afrikanischen Ideen und Praktiken ließ. Dadurch wurde die Entwicklung eines volkstümlichen Islam gefördert, der zum Beispiel durch Heiligenverehrung, religiös-therapeutische Praktiken und Techniken des Umgangs mit Geisterbesessenheit gekennzeichnet ist, die in Afrika weit verbreitet sind. Der Afro-Islam nahm demnach die traditionelle Naturheilkunde in sich auf. Die alten Geister (böse und gute) erhielten islamische Namen und werden unter diesen Namen herbeigerufen oder ausgetrieben. Nach dem Tanz und dem Trancezustand werden als Abschluss der Behandlung Koranverse gelesen.

Die Aufnahme des Neuen bedeutete in Somalia niemals das Aufgeben des Alten. Der Islam vermochte nie dem Tanz und der Trommel ihre Spiritualität und Eigenständigkeit abzusprechen. Im Gegenteil: Der afrikanische Rhythmus wurde sogar zur Ausdrucksform des Islam selbst. Afrikaner trennen nicht zwischen Spiritualität und Sinnlichkeit, sie fassen den Islam als frohe Botschaft auf – nicht nur für das Jenseits, sondern vor allem für das Diesseits.

In den Kernländern des Islam wird der Afro-Islam nur unter Vorbehalt akzeptiert. Die viel beschworene Einheit aller Muslime vermag die unausgesprochene Kritik, die stets in der Luft schwebt, nur mühsam zu glätten.

An der alten Auseinandersetzung zwischen Judentum, Christentum und Islam hatte der Afro-Islam keinen Anteil. Missionieren und kulturelle Dominanz sind schwarzafrikanischen Verhältnissen fremd, daher eignet sich der Afro-Islam nicht zur politischen Instrumentalisierung.

Für Somali ist der Islam ein verinnerlichter Glaube, der ihre Lebensweise – etwa im Hinblick auf die Stellung der Frauen, die Mischehe, die Erziehung der Kinder und anderes mehr – nicht in Frage stellt. Für die meisten ist der Islam selbstverständlich, ja: Teil ihrer Identität. Er steht über dem Bekenntnis zur Nation, die im Bewusstsein der Somali schwach ausgeprägt ist. Der Islam als Ganzes gibt Halt, verkörpert Ehre und Anstand. Nur mit der Einhaltung der Vorschriften hapert es. Vergleichbares findet man wohl in allen Religionen.

Islam, Alltag und somalische Identität

DER Islam, so heißt es immer wieder, sei eine zutiefst politische und alle Lebensbereiche umfassende Religion, die ihren Anhängern in jeder Lebenslage genaue Vorschriften mache. Doch ob sich die Muslime an diese Vorschriften halten, ist eine ganz andere Frage. Letztlich ist es die Alltagsrealität, die darüber entscheidet, wie der Islam praktiziert wird. Egal wie sehr ein Somali, der jeden Tag seinem Broterwerb nachgeht, an Allah und seine Gebote glaubt, letztlich handhabt er deren Befolgung äußerst flexibel.

Die aktuelle Frage lautet nun, ob die Somali durch die derzeitige islamistische Welle um ihre Traditionen und Kultur fürchten müssen. Für die somalischen Frauen bedeutet die Verhüllung gewiss den Verlust von Stimme, Gesicht und Horizont. Die Somali sind in der großen Mehrheit Hirtennomaden oder deren Nachkommen, woraus sich die traditionelle Stellung der Frauen erklärt: Die Suche nach Wasser und Weide erfordert Bewegungsfreiheit. Frauen, die mit der Herde gehen, müssen sehr selbstständig und wehrhaft sein.

Das Tragen des Schleiers war früher in Somalia hauptsächlich ein Erkennungsmerkmal für ausländische Frauen aus Pakistan und Jemen. Heute ist der Schleier im Straßenbild von Mogadischu verbreitet. Vermutlich zeigt sich darin eine Mischung von falschem Islam-Verständnis, Angst vor selbst ernannten Moralwächtern und Protest gegen den verhassten übermächtigen Westen. Fragt man die betroffenen Frauen selbst, bekommt man eine eher pragmatische Antwort: Sie tragen den Schleier als Umhüllung ihres Schmucks bzw. als Schutz vor Straßenräubern. Was das Kopftuch betrifft, so hat es mehr mit den modischen Traditionen Somalias zu tun. Ein Kopftuch ist für Frauen keine religiös motivierte Kopfbedeckung, sondern eher ein Schmuckstück, dessen Farbe darüber Auskunft gibt, ob eine Frau ledig, verheiratet oder Witwe ist. Deshalb gibt es auf Somal sogar drei verschiedene Wörter für Kopftuch. Auch die Art, wie es getragen wird, variiert je nach Alter und Absicht. Zuweilen wird das Tuch so gebunden, dass es nur einen Teil des Kopfes bedeckt und damit das Gebot des Propheten Mohammed, das weibliche Haar zu verhüllen, konterkariert. Mit einer Schleife oder raffiniertem Faltenwurf kann ein Tuch geradezu erotische Botschaften aussenden – man denke in der westlichen Kultur an Filme mit Audrey Hepburn oder Sophia Loren.

Frauen gehen ohne Begleitung auf die Straße. Flirten ist erlaubt, um mögliche Heiratskandidaten kennen zu lernen, noch ehe der Kandidat beim Vater des Mädchens vorspricht. Wenn die Familie dem Wunsch nach einer Beziehung nicht entgegenkommt, können die jungen Leute zum Mittel der Entführung der Braut greifen. Wohnungen sind nicht nach Männerbereichen und Frauenbereichen getrennt. Ehefrauen und Töchter dürfen einen fremden Mann in seiner Funktion als Boten empfangen, der eine mündliche Nachricht von Verwandten überbringt. Eine Frau darf einen Mann durch Händeschütteln begrüßen.

Somalische Frauen übernehmen die Verantwortung anstelle des Mannes, wenn kein männlicher Erwachsener zur Verfügung steht. Frauen können auch ihre eigenen Interessen vertreten und ohne männlichen Verwandten einen Vertrag schließen. Sie können Wirtschaftsgüter besitzen und darüber verfügen, etwa ein Stück Ackerland oder ein Taxi. Schneiderinnen und Bankangestellte, Ärztinnen und Lehrerinnen, ja sogar Soldatinnen und weibliche politische Abgeordnete sind in Somalia nichts Ungewöhnliches. Der Verkauf von Qat (kokaähnlichen Blättern) ist nahezu vollständig in Frauenhand. Beim Genuss von Qat sitzt man entspannt zusammen. Er bedeutet Unterhaltung, da ist auch Sex kein Tabu. Private Bordelle werden geduldet.

Bis zum Putsch gegen den Diktator Siad Barre, der seit Ende der Sechzigerjahre an der Macht war (und der im Herbst 1977 zum engen Freund der Bundesrepublik Deutschland mutierte) und dem Beginn des Bürgerkriegs war das Leben in Somalia in gewisser Hinsicht säkularisiert, es gab eine spürbare Öffnung und Gelassenheit.

Nostalgisch erinnert man sich heute an das bunte Straßenbild von damals. Trotz mancher Symptome von Armut und Mangel war das Zusammenleben weitgehend offen und locker, die Atmosphäre gekennzeichnet von Leben und Lebenlassen. Durch eine gewisse Üppigkeit und vielfältige Unterhaltungsmöglichkeiten – Nachtleben inklusive – erwarb Mogadischu den Ruf der „Perle Ostafrikas“. Es fehlte fast nichts, was an den westlichen Lebensstil erinnerte, besonders in Bezug auf Gemüt und Genuss, Glanz und Glitzer.

Mit der Zeit nahm im Straßenbild die blinde Nachahmung westlicher Metropolen überhand, und eine Art Möchtegernmentalität erfasste die Stadtjugend. Eine Clique von Emporkömmlingen stellte sich an die Spitze der Gesellschaft und protzte mit materiellem Luxus westlichen Stils. Die success story vom quick money öffnete Tür und Tor für Illusionen und Spekulationen. Werbeplakate und flimmernde Neonlichter lockten in eine Traumwelt von mehr Haben und besserem Sein. Geld und Gewinnstreben durchbrachen traditionelle Bräuche und Gewohnheiten und machten auch vor Scheu und Scham keinen Halt. Die Marktgesetze herrschten allüberall. Auf dem Altar von Angebot und Nachfrage fielen auch fest verankerte Hemmungen. Unmerklich vollzog sich der Prozess der Umwertung der Werte.

Der Luxus aus dem Westen hatte solche Zauberkraft, dass sich Somalia selbst vergaß, seine Kraft unterschätzte, seine eigenen Produkte verachtete. Merkwürdig ist, dass diese Unterlegenheitsgefühle weder Revolte noch schöpferischen Zorn hervorbrachten. Im Gegenteil, man begab sich in die Abhängigkeit vom Westen mit einer Selbstverständlichkeit, als gleiche sie Naturgesetzen. „Importware“ war ein Markenzeichen für Qualität. Westliche Muster und Moden galten als Inbegriff von Schick und Modernsein. Leise Kritik und verhaltener Spott waren zwar zu hören, aber sie vermochten den Nachahmern des Weißen Westens nicht Einhalt zu gebieten. Vor allem Perücken, Lippenstift, hohe Absätze, Cremes zur Hautaufhellung und Mittel zum Entkrausen des Haars wurden zwar nach außen verlacht, aber insgeheim gern gekauft.

Durch die übernommenen Idole und Ideale änderte sich auch der Maßstab des sozialen Ansehens: Reichtum wurde nicht mehr an der Zahl der Kamele und Söhne gemessen, sondern an den Nullen auf dem Bankkonto oder an unbeweglichem Besitz – wie Steinhäusern. Parallel dazu benötigte man für die Zugehörigkeit zur Pseudoelite des Landes auch eine veränderte Persönlichkeit: Bis in Gangart und Verhalten hinein verriet sie ihre halbherzig übernommene verwestlichte Mentalität, wodurch sie etwas Undefinierbares, Zwitterhaftes und Karikatureskes bekam. Diese seltsame Elite wurde gleichzeitig geachtet und belächelt, aber ihr Überlegenheitsgefühl, genährt durch Erfolg, ließ sie selbst das Belächeltwerden gelassen ertragen in dem Gefühl, dass die anderen nur neidisch seien.

Doch nach und nach begann es leise und kritisch zu knistern. Je mehr die Somali sich durch die Eliten provoziert fühlten, desto lauter wurde die Kritik – ein erster Vorbote der Krise. So wurde beispielsweise die erste Miss-Wahl in Somalia Mitte der Siebzigerjahre Anlass heftiger Auseinandersetzungen. Auf einer Versammlung der herrschenden Sozialistischen Einheitspartei protestierte ein Politiker: „Das Zurschaustellen von Hunden mit Preisverleihung für die besten Zuchtobjekte ist nichts Außergewöhnliches. Aber eine Veranstaltung, bei der Frauen wie Vieh gemustert und ausgezeichnet werden, sind mit unserer Kultur und ihrem Anspruch auf Menschenwürde unvereinbar.“

In einem Leserbrief an den October Star hieß es: „Im Westen kann man überall in allen möglichen Moden erscheinen, ohne dass dies anstößig wirkt. Aber hier leben wir in einer anderen Gesellschaftsform. Hier glauben wir noch an Anstand, und eine wahre Dame wird sich nicht vor anständigen Mitmenschen entblößen. Wir empfinden eine solche Mode als groteske, den Frauen schlecht anstehende Kleidung, die zur Demoralisierung des Landes beiträgt. […] Somalia ist kein Abladeplatz für dekadente fremdländische Moden.“

Aus der Überempfindlichkeit gegenüber dem Westen sind jedoch gewisse Widersprüche ablesbar: Auf der einen Seite will man die Traditionen erhalten, auf der anderen „modern“ sein. Die Stadtfrauen tadelt man, weil sie sich zu sehr verändern – die Stammesangehörigen aber, weil sie an archaischen Bräuchen festhalten.

Der Fundamentalismus gehört zu den Geistern, die erst die Warlords des Bürgerkriegs riefen und die sie jetzt nicht mehr loswerden. Bei der Teilung ihrer Beute konnten sie sich nicht einigen, und Somalia zerfiel in die ungeordneten Einzelteile eines verwirrenden Puzzles aus verschiedensten und wechselnden Einflusssphären rivalisierender Kriegsherren, Clans und Räuberbanden.4 In dieser Situation trat der Islamist Kadi Sheik Ali auf, der später als „Schlächter von Mogadischu“ in die Geschichte eingehen sollte. Nicht ohne Erfolg führte er in dem von ihm kontrollierten Wohnviertel von Mogadischu die Scharia ein. Niemand außer der islamischen Polizei durfte mehr Waffen tragen, und die Gerichte verhängten zum Teil drakonische Strafen: Finger- oder Handabhacken für Diebstahl. Diese Bilder gingen um die Welt und trugen zum Ruf Somalias als Bastion der Fundamentalisten bei. Doch war dem blutrünstigen Sheik, dessen Scharia mehr Rhetorik als Realität war, kein langfristiger Erfolg beschieden. Da er in der Anwendung der Gesetze eher Gewitztheit als Frömmigkeit bewies, geriet er in mehrfacher Hinsicht in eine Glaubwürdigkeitskrise.

Vor Allah sind zwar alle Somali gleich, nicht jedoch vor Gericht. Im Geheimen ließ der Sheik den Hintergrund jedes Verhafteten recherchieren. Es war ein offenes Geheimnis, dass eine drakonische Strafe nur demjenigen winkte, der keinen Rückhalt in Familie oder Stamm besaß. Denn der Sheik fürchtete sich, dass wenn er einen wichtigen Mann hart bestrafen würde, er mit Blutrache würde rechnen müssen. Also hielt er sich bei seinen Strafaktionen gegen Diebe nur an anonyme, entwurzelte Menschen, die in der Stadt herumlungerten, auf Mundraub angewiesen und ohne Rückhalt waren. Hinzu kam: Der Sheik selbst ließ zu, dass seine Milizen westliche Hilfsgüter raubten, verzehrten oder verkauften. Damit wurde die Bestrafung von Dieben vollends unglaubwürdig.

Für eine starke religiöse Reglementierung des Lebens ist im harten Alltag von Viehzüchter-Nomaden kein Platz. Wenn einem Dieb die Hand abgehackt wird, kommt die Verwandtschaft und reklamiert: Wie kannst du meinem Bruder, der mich morgen beschützen muss, die Hand abhacken! Wer sich durch Reichtum und gute Taten, Heldenmut oder Popularität hervortut, der muss nach Volkes Meinung auch dann der Gemeinschaft erhalten bleiben, wenn er einen Diebstahl oder Totschlag begangen hat. Und selbst ein ganz unbedeutender Mensch kann Schonung beanspruchen, wenn er einem besonders bedeutenden Stamm angehört, der ihm Rückhalt bietet. Falls gar der Richter zum gleichen Stamm gehört wie der Täter, ist er befangen und wird die Scharia nicht anwenden. Beweise für die Schuld eines Menschen spielen unter Verwandten keine Rolle. Die Tradition sagt: „Stehe dem Bruder bei im Recht wie im Unrecht.“ Das Blut ist stärker als der Glaube. Im Dickicht eng verflochtener Beziehungen finden starre Dogmen keinen Nährboden.

Das islamische Recht der Scharia ist ein geschriebenes Recht und gründet sich auf die zwei Hauptquellen Koran und Sunna (Aussagen und beispielhafte Taten des Propheten Mohammed). Das bislang geltende somalische Gewohnheitsrecht dagegen besteht aus ungeschriebenen Gesetzen. Es gründet sich hauptsächlich auf Präzedenzfälle und zuweilen auf situationsbezogene Improvisation. Nicht Strafe, sondern Entschädigung steht im Mittelpunkt.

Leben nach dem Buchstaben des Gesetzes

DER derzeit in Somalia eskalierende Fundamentalismus hat zwei Ziele: Einmal geht es um die Rückbesinnung auf den alten Islam, und zum anderen soll die Scharia als einziges Gesetz im Lande durchgesetzt werden. Zerstört ist das Flair des großstädtischen Straßenbildes, die farbenfrohe Pracht durch dunkle Verhüllung überschattet. In Mogadischu ist – wenn auch nicht so extrem wie in einigen arabischen Kernländern des Islam – für die Frauen eine freudlose Zeit angebrochen. Auch außerhalb Somalias, bei den in westlichen Ländern lebenden Somali, findet zur Zeit eine Rückbesinnung auf den Islam statt.

Bei einigen meiner Bekannten, die mit ihren Familien seit Jahren in Amerika oder Europa lebten und sich im Lebensstil völlig angepasst hatten, scheint eine Veränderung vor sich zu gehen, die sich in Kleidung, Freizeitgestaltung, Kindererziehung und nicht zuletzt in der Wohnungseinrichtung zeigt. Früher europäisch gekleidet, zeigen sie sich nun wieder mit Kaftan, Häkelmütze und Gebetskette für den Mann und Kopftuch für die Frau. Anstelle des fröhlichen Kulturmix aus westlichen Gütern und Zeugnissen der traditionellen Kunst – Masken und Skulpturen, die von Weißen als typisch afrikanisch bewundert werden – findet man auf einmal nur noch vergoldete Koranbücher und Kalligrafien als Wandschmuck in den akurat aufgeräumten Zimmern, die mehr Gebetsnischen gleichen als Wohnräumen. Von morgens bis abends hört man islamische Klänge als Hintergrundmusik aus dem Recorder, und über allem hängt der Duft von Weihrauch. Statt Sport zu treiben, spazieren zu gehen oder sich sonst einen Freizeitspaß zu gönnen, hören die Männer nun Kassetten mit Koranrezitationen und tauschen die Videoaufnahmen populärer Prediger, die bald in keinem Haushalt mehr fehlen dürfen.

Ihre Kinder schicken sie wieder auf eine private Koranschule – Grund hierfür ist die Angst vor Identitätsverlust und vor dem Einfluss der staatlichen Schulen. Das Befremdlichste aber ist die Strenge, mit der die Familien in der Diaspora sich nun gegenseitig beobachten und kontrollieren, ob die religiöse Lebensweise auch eingehalten wird – denn davon werden die Heiratschancen der Jugendlichen, der zweiten Diaspora-Generation, abhängig gemacht. Der gute Ruf der Familie ist nun wieder wichtiger geworden als die Liebe zwischen den künftigen Partnern. Der Generationenkonflikt ist schon vorprogrammiert.

Wie auch immer die neue islamistische Welle sich auswirkt – die älteren afroislamischen Vorstellungen werden sich in Somalia als zählebig erweisen. Bezeichnend für die Träger des gegenwärtigen Fundamentalismus ist ein großes Bildungsdefizit in Bezug auf die unterschiedlichen neueren Interpretationen des Islam. Das bedeutet, dass dieser Kreis nicht in der Lage ist, das islamische Gesetz, die Scharia, im Lichte der sozialen Veränderungen zu überdenken und den Koran und die Sunna neu zu interpretieren. Re-Islamisierung bedeutet für sie die Rückkehr zu den politischen und wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen, die im islamischen Reich des Mittelalters geherrscht haben. Sie setzen sich hinweg über die Umwälzungen, die das Land durchgemacht hat. Psychologisch und kulturell mag der Wandel sich nur in den Städten vollzogen haben, doch ökonomisch ist er überall hingelangt. Eine Zurückweisung der Moderne ist nicht mehr möglich.

Somalische Fundamentalisten aber haben kein Gespür für den Zeitgeist, nehmen keinen Anteil an der Diskussion islamischer Denker über die Alternativen zwischen Erneuerung, Rückwärtsbewegung oder Selbstzweifel. Zahlenmäßig bilden sie eine winzige, aber sehr lautstarke Minderheit von kleingeistigen Schreihälsen. Ihr Vorgehen bei der Koranauslegung ist das Klammern an einzelne Buchstaben und das Unvermögen, größere Zusammenhänge zu erkennen. Wird die Handamputation von heute zur Hirnamputation von morgen? Schon der Prophet Mohammed hat gewarnt: „Es gibt keine größere Bedrohung für die Gemeinschaft der Muslime als einen unwissenden Beter und einen unmoralischen Gelehrten!“

So besteht die Gefahr, dass Geistliche das Monopol für die Durchsetzung von Law and Order in einem Land ohne funktionierende Staatsgewalt an sich reißen. Viele Somali sind jetzt hin und her gerissen zwischen ihrer emotionalen Loyalität zum Islam einerseits und den Herausforderungen des urbanen Alltags andererseits. Werden sie den Islam zu einem geschlossenen System kristallisieren lassen und sich von allem Neuen zurückziehen in einen Fanatismus von lähmender, isolationistischer Heftigkeit? Oder werden sie ihn so interpretieren, dass er zu einer offenen, reichen, in die Zukunft gerichteten Vision wird, zu einer wirkungsvollen Inspiration für gegenwartsnahes Leben? Niemand kennt die Zukunft, doch es ist damit zu rechnen, dass der Säkularismus auf die eine oder andere Weise in zunehmenden Maße in der gesamten muslimischen Welt Eingang finden wird.

Die neue somalische Regierung versucht vorsichtig den Einfluss der Scharia-Anhänger zu begrenzen und zwischen dem gemäßigten Teil dieser Kräfte und den reformorientierten Juristen zu vermitteln. Da sie alle an der Macht interessiert sind, wird es zur Zusammenarbeit zumindest auf dem Gebiet des Rechtswesens kommen. „Die schlimmste Eigenschaft der schwachen Staaten ist“, das wusste schon Machiavelli, „dass sie zu keinem Entschluss kommen können. Was sie unternehmen, unternehmen sie unter Druck, und geschieht es, dass sie etwas recht machen, so tun sie es, weil es ihnen die Zwangslage vorgeschrieben hat, und nicht, weil sie es so wollten.“5 Wie immer der Ausgang auch sein wird, die Bevölkerung wird nur die Lösung mit dem größten Nutzeffekt für ihr Leben akzeptieren. In seiner Einführung zum Koran warnt Hazrad Mirza Tahir Achmed, ein erwachsenes Volk nicht in einen Rock zu pressen, der ihm einst in der Kindheit zugeschnitten wurde.6

Dieser Text erscheint nurin der deutschsprachigen Ausgabe.

* Geschäftsträger der Botschaft Somalias a. D., Jurist und Publizist. Lebt bei Bonn.

Fußnoten: 1 Politik und Zeitgeschichte B 30–31, 2001, S. 33. 2 Wilfried Cantwell Smith: „Der Islam in der Gegenwart“, Frankfurt am Main und Hamburg 1963, S. 282. 3 Carlo Beckwirth, Angela Fischert: „Unbekanntes Afrika“, Köln (DuMont) 2000. 4 Michael Birnbaum: „Krisenherd Somalia“, München (Heyne) 2002. 5 „Machiavelli“, Auswahl und Einleitung von Carlo Schmid, Frankfurt am Main und Hamburg 1956, S. 100. 6 „Der Koran“, Übersetzung und Einleitung von Hazrad Mirza Tahir Achmed, Schweiz 1989.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von ABDURAHMAN H. H. ADEN