Massengräber am Straßenrand
NACH mehr als sechzig Jahren des Schweigens suchen Spanier nach den Überresten von rund 30 000 am Straßenrand erschossenen und im Terror des Bürgerkriegs (1936 bis 1939) „verschwundenen“ Republikanern. Brüder und Schwestern, Kinder und Enkelkinder von Opfern des Franquismus wollen die anonymen Massengräber öffnen und die Knochen exhumieren, um ihren Toten ein würdiges Grab zu geben und ihr Andenken zu ehren. Zur Aufarbeitung des erbarmungslosen Bruderkriegs hat unlängst ein Roman beigetragen, in dem ein Milizionär einen todgeweihten flüchtenden Franquisten im Dickicht auffindet, ihm fest in die Augen blickt – und ihn laufen lässt.
Von JOSÉ MALDAVSKY *
Seit 1937 kennt die fünfundachtzigjährige Isabel González die Stelle, wo ihr aus Palacios del Sil in der Provinz León stammender Bruder Eduardo in einem Massengrab verscharrt wurde. Ihre Freundin, die siebenundachtzigjährige Asunción Álvarez, hatte ihr damals eine Karte des vierzig Kilometer südlich von ihrem Dorf gelegenen Ortes Piedrafita de Babia gezeichnet. „Francos Falangisten haben ihn ermordet. Auch nach deinem Tod werden deine Nachkommen wissen, wo sich sein Grab befindet“, hatte sie ihr geschrieben.
Das Auftauchen der ersten Gebeine in Priaranza del Bierzo vor zwei Jahren gab Isabel Recht. Seit 1943 begibt sich die resolut dreinschauende Frau mit der kräftigen Stimme jedes Jahr am 1. November mit einem Strauß Blumen nach Piedrafita de Babia. „Um meinen Bruder zu ehren, den der Dorfpfarrer denunziert hat. Alles deutet darauf hin, dass es sich bei einem der Toten, die bei den Grabungen im vergangenen Jahr gefunden wurden, um Eduardo handelt“, sagt sie und hält den Blick auf die rote Erde des Massengrabes gesenkt.
Außer Isabel wagt kaum jemand in Palacios del Sil über die Vergangenheit zu sprechen. Die Mauer des Schweigens steht, in der Zeit erstarrt. Ihre Nachbarin Carmen, „die Falangistin“, geht an ihr vorüber, ohne zu grüßen. Seit sechsundsechzig Jahren. „Heute bin ich bereit, zu den Richtern zu gehen, die sich in Schweigen hüllen, zu den Politikern, die sich hinter der nationalen Aussöhnung verstecken, zu dem König, den wir nie gewählt haben, damit dem Andenken meines Bruders Genüge getan wird.“
Ein anderer Fall ist der von Emilio Silva Faba, der seit 1937 als vermisst gilt. Ein Nachbar aus Ponteferrada hatte Emilio Silva, dem Enkel des Verschwundenen, die Idee in den Kopf gesetzt: „Hier in Priaranza sind mehr Tote außerhalb als innerhalb des Friedhofs begraben.“ Mit einer Schaufel begann er zu graben, und am Fuß eines Walnussbaums kam der Leichnam seines Großvaters zum Vorschein … Emilio Silva Faba hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Er lebte eine Zeit lang in Argentinien, dann in den Vereinigten Staaten, bevor er 1925 nach Spanien zurückkehrte, in die Gegend von Bierzo, wo er geboren wurde. Elf Jahre später brach der Bürgerkrieg aus und Silva wurde zusammen mit zwölf anderen Republikanern bei Kilometer 8 an der Nationalstraße zwischen Ponteferrada und Ourense erschossen. Das geschah am 16. Oktober 1936. Heute ist er der „Verschwundene Nr. 2“ und gehört zu den dreizehn in einem anonymen Massengrab entdeckten Leichen aus Priaranza.
Der Gerichtsmediziner José Antonio Llorente hat bestätigt, dass der „Verschwundene Nr. 2“ ein Mann ist und dass sein Schädel von zwei Kugeln durchschlagen wurde. Dass man ihn identifizieren konnte, ist seiner Zahnprothese aus den Vereinigten Staaten zu verdanken. Die endgültige Bestätigung soll später mittels DNA-Analyse erfolgen. Bei der Untersuchung der in Priaranza aufgefundenen Leichen wendet Llorente die gleiche Methode an wie die, nach der in Chile die Leichen von Opfern des Pinochet-Regimes oder von 1968 in Mexiko ermordeten Studenten untersucht werden konnten.
„Es ist Eile geboten“, sagt Emilio Silva, „denn das Auffinden von Massengräbern ist an die Erinnerung einiger weniger, sehr alter Zeugen gebunden, die den Terror von Francos Leuten während des Krieges und danach noch miterlebt haben. Sie pilgern schon seit langem zu den Massengräbern, schweigend, aus Angst, denunziert zu werden. Aber nicht einmal die Sozialisten, von deren einstigen Kämpfern noch immer ein Großteil als vermisst gilt, wollen darüber sprechen.“
Eduardo González Lozada und Emilio Silva Faba sind zwei der rund 30 000 „unbekannten Soldaten“, die auch sechsundsechzig Jahre nach Kriegsende noch an irgendwelchen Straßen ohne ein Grab, das diesen Namen verdiente, unter der Erde liegen. Die Überreste der Gegner der Franco-Diktatur ruhen bis heute in verborgenen Massengräbern. Dabei ist der Bürgerkrieg seit dem 1. April 1939 beendet. Doch wo die Angst zur zweiten Natur wird, verurteilen sich die Leute zu einem Leben im Schweigen. Einem Schweigen, das alles andere als Vergessen bedeutet und das von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Die Verschwundenen von damals, die in der letzten Zeit entlang Spaniens Straßen wiedergefunden werden, erlitten das gleiche Schicksal wie der Dichter Federico García Lorca, der im Juli 1936 in der Nähe von Granada ermordet wurde und dessen Leichnam bis heute nicht gefunden wurde. Die in der Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica (ARMH – Organisation zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses)1 organisierten Familien der Opfer sind entschlossen, das Schweigen zu brechen. Im August 2002 haben sie bei der UNO-Arbeitsgruppe über „Verschwundene“ einen Antrag eingereicht. Sie verlangen, dass der spanische Staat die Exhumierung der Leichen anordnet, sie mittels DNA-Analysen identifizieren lässt und, wo das nicht möglich ist, eine Grabstätte und ein Denkmal für die anonymen Opfer errichtet.
„Zum ersten Mal wird ein Land der Ersten Welt beschuldigt, ein solches Kollektivverbrechen totzuschweigen“, erklärte Monserrat Sans, Rechtsanwältin und Enkeltochter eines in einem deutschen Konzentrationslager ums Leben gekommenen spanischen Republikaners, gegenüber den Vereinten Nationen. „Ganz abgesehen von der Frage der Gerechtigkeit sind wir der Meinung, dass man eine Demokratie nicht auf den Phantomen der Vergangenheit errichten kann“, betont die französisch-spanische Juristin. Die größten Massengräber befinden sich in Mérida (3 500 Tote), Oviedo (1 600), Gijón (2 000), Sevilla (2 500) und Teruel (1 005). Frau Sans wirft den spanischen Behörden vor, „nichts zu tun, um die Öffnung der Massengräber zu ermöglichen“.
Die Regierung von José María Aznar hat verlauten lassen, dass sie alles tun werde, um die Forderungen der Vereinten Nationen zu erfüllen. Doch ungeachtet dieses Lippenbekenntnisses bremst die Regierung, wo und wie sie nur kann.2 Während der zweiten „Tage der historischen Verpflichtung der Demokratie: Wege des Gedenkens“, die am 27. und 28. September 2002 in Ponferrada stattfanden, forderte die ARMH von der Regierung Maßnahmen zur Rehabilitierung des Andenkens der Opfer sowie die Auszahlung der den ehemaligen Kämpfern zustehenden Pensionen. „Außerdem sollen die franquistischen Symbole und Denkmäler an Straßen und auf Plätzen entfernt werden. Noch heute beweihräuchern sie die Urheber schwerster und systematischer Verstöße gegen die Menschenrechte als Befreier“, forderte Emilio Silva.
„Auf die Idee, seine Gegner verschwinden zu lassen, kam der Franquismus selbst. Später haben sich die Nazis und die lateinamerikanischen Diktaturen dieses Rezept zunutze gemacht. Es galt, die Opfer zu bestrafen und ihren Familien Angst einzujagen und sie einzuschüchtern“, erklärte Xoán Carlos Garrido Couceiro, Professor für Politikwissenschaft an der Madrider Universität, bei einem Vortrag vor einem hochbetagten Publikum. Der Historiker Sergio Rodríguez, Autor einer Doktorarbeit mit dem Titel „Ein Gefängnis unter der Erde: Die Verschwundenen“, meint: „Selbst die CIA hat die Archive über die Unterdrückung in Lateinamerika freigegeben. Nur in Spanien liegen die Akten über den Bürgerkrieg leider bis heute bei der Guardia Civil und der Armee unter Verschluss. Unter solchen Bedingungen wird jede Forschungsarbeit zum Hindernislauf.“
Laut Rafael Torres, Autor eines Aufsatzes über die Verschwundenen des Spanischen Bürgerkriegs3 , ist das durch die transición (den Übergang zur Demokratie nach Francos Tod) geschaffene Amnestieabkommen „der jüngste Versuch, die spanischen Opfer des Bürgerkriegs noch einmal verschwinden zu lassen“4 . Wann immer innenpolitische Konflikte aufbrechen, wird versucht, einen Schleier über die Vergangenheit unserer Demokratie, über ihre Ursprünge und Auswüchse zu breiten. Das ist ebenso schändlich wie Ausdruck falscher Scham, weil man glaubt, Vergessen schaffe die Voraussetzung für Versöhnung. Das ist ein Irrtum. Der Weg zur Aussöhnung führt über die Wahrheit und die Anerkennung der Verbrechen.
dt. Christian Hansen
* Journalist