17.01.2003

Wo endet Europa

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Wo endet Europa

MIT dem EU-Gipfel in Kopenhagen ist die Erweiterung der Union von 15 auf 25 Mitglieder zum 1. Mai 2004 beschlossene Sache. Ob die geografische und historische Wiederbegegnung im großen Haus Europa gelingen wird, muss sich erst zeigen. Zunächst sieht es jedenfalls eher danach aus, als sei mit dem größeren Europa in erster Linie ein erweiterter Wirtschaftsraum beschrieben, von dem sich vor allem die USA einiges versprechen. Die „Gründerväter“ Europas – von Carlo Mazzini über Graf Coudenhove-Kalergi bis zu Robert Schuman, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer –, sie alle hatten wohl zugleich weniger und mehr im Sinn, als sie von einem vereinten Europa träumten.

Von BERNARD CASSEN

Der Aufbau des europäischen Hauses ist zu keinem Zeitpunkt nur Sache der Europäer gewesen. Zwar geht er als utopisches Projekt und politisches Ideal auf kluge Vordenker innerhalb der europäischen Eliten zurück. Entscheidend für die konkrete Umsetzung nach 1958 zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), aus der 1993 dann die Europäische Union hervorging, waren jedoch die Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Vom Wirken der Gründerväter einmal abgesehen – zu denen nicht nur Leute wie Jean Monnet oder Robert Schuman zählen – spielen die Absichten der USA bei der Gestaltung Europas eine größere Rolle als der Wille der Völker Europas. Dabei haben sich diese, wie es in den entscheidenden Verträgen (von Rom 1957 bis Nizza 2000) heißt, nach und nach in eine „immer enger werdende Union“ begeben – doch im Grunde sind sie bestenfalls Zuschauer geblieben. Abgesehen von den zaghaften Ansätzen der letzten Jahre waren sie nie die handelnden Akteure ihrer eigenen Integration in eine Gemeinschaft, die mit der Entscheidung des EU-Gipfels von Kopenhagen im Dezember 2002 vom Mai 2004 an aus 25 Ländern mit insgesamt mehr als 450 Millionen Einwohnern bestehen wird.

Geboren wurde der aktive Wunsch nach der „immer enger werdenden Union“ natürlich nicht erst in den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts und auch nicht in den Büros des State Department in Washington. Eine frühe schriftliche Spur findet sich, um nicht auf noch frühere Zeiten zurückzugreifen, schon in der Renaissance: Im Jahr 1464 (elf Jahre nach der Einnahme Konstantinopels durch die Türken) verfasste der böhmische König Georg von Podiebrad einen lateinischen Traktat, in dem er vorschlug, als Bollwerk gegen das vordringende Osmanische Reich einen Nichtangriffspakt zwischen den morgen- und abendländischen Völkern der Christenheit abzuschließen, der sogar zwei kollektive Organe schaffen sollte: einen übergeordneten Bundesgerichtshof in Basel und eine Art Parlament der Mitgliedstaaten, deren Repräsentanten für fünf Jahre entsandt werden sollten. Oft wird auch das „Projet politique du duc de Sully, ministre d‘Henri IV“ zitiert. Dabei handelt es sich um den erst 1788 in den Memoiren des Herzogs von Sully veröffentlichten Vorschlag des französischen Königs Henri IV. (1589–1610) zur Umgestaltung Europas in eine „christliche Republik“, den er in einem Brief gegenüber Königin Elisabeth I. von England geäußert haben soll. Auf der gleichen Linie schrieb 1693 der Quäker William Penn seinen Essay „Present and Future Peace of Europe“. Etwas später, 1713 und 1717, präsentierte der Abbé de Saint-Pierre, französischer Bevollmächtigter bei den Friedensverhandlungen, die den Spanischen Erbfolgekrieg beenden sollten und mit den Verträgen von Utrecht (1713–1715) endeten, einen „Plan zum ewigen Frieden in Europa“ sowie den „Plan zum ewigen Frieden unter christlichen Herrschern“.

Jean-Jacques Rousseau führte die Überlegungen des Abbé de Saint-Pierre in seinem „Urteil zum ewigen Frieden“ (1782) mit dem Entwurf einer Föderation oder Konföderation der Fürsten fort. Die entscheidende Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) ist von Immanuel Kant. Er argumentiert, nur republikanisch verfasste Staaten könnten den Frieden garantieren, weil eine Republik nur mit Zustimmung ihrer Bürger Krieg führen könne.

Im 19. Jahrhundert wurden Kants Ansätze weiter verfolgt, unter anderen von Claude Henri de Saint-Simon mit seinem Text „Von der Neuorganisation der europäischen Gesellschaft“ (1814), der sich an die Parlamente von Frankreich und England richtet. Darin wirbt er für eine Art britisch-französische Achse in Form einer erweiterungsfähigen Konföderation, die auch andere parlamentarische Regierungen einbeziehen und als Dach über einem europäischen Parlament die Einigung des Alten Kontinents vorantreiben sollte. Dieser Plan wurde sehr viel später und nur kurzzeitig realisiert, als Winston Churchill am 16. Juni 1940 auf Anregung von Jean Monnet der französischen Regierung Paul Reynauds die Bildung einer umfassenden französisch-britischen Union vorschlug, die Charles de Gaulle, damals noch nach London entsandter Unterstaatssekretär im Kriegsministerium, nicht ohne Zögern akzeptierte. Mit Reynauds Ablösung durch Marschall Pétain noch am selben Tag war die fast surrealistisch anmutende Initiative hinfällig. Zwei Tage vor dem berühmten 18. Juni 1940, als General de Gaulle in London seine Landsleute zur Fortsetzung des Widerstandes gegen die Deutschen aufrief und sich zum „Führer der freien Franzosen“ erklärte, hatte ihr Zweck vor allem darin bestanden, den Franzosen neuen Mut zu machen.1

Bekannter als der Vorschlag von Saint-Simon ist die europäische Vision, die Victor Hugo in seiner Eröffnungsrede zum Pariser Friedenskongress im August 1849 wachrief. Nicht nur, dass er nach dem Italiener Carlo Cattaneo wohl der Erste war, der von den „Vereinigten Staaten von Europa“ sprach. Er verkündete auch die Einrichtung eines „großen souveränen Senats, der für Europa das sein wird, was das Parlament für England und die Nationalversammlung für Frankreich ist“. Ein weiterer Name, der im 19. Jahrhundert nicht fehlen darf, ist Giuseppe Mazzini, der 1834 den Bund „Junges Europa“ gründete und 1857 eine Landkarte vom künftigen „Europa der Nationen“ entwarf. Nicht vergessen darf man auch die düster-pessimistischen Thesen des Baseler Gelehrten Jacob Burckhardt und die seines Schülers und Kollegen Friedrich Nietzsche: Sie kündigen jenen „Untergang des Abendlandes“ an, den Oswald Spengler 1918 in seinem gleichnamigen Buch heraufbeschwören sollte.2

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fand die europäische Idee in Richard Coudenhove-Kalergi und Aristide Briand zwei besonders eloquente Fürsprecher. Coudenhove-Kalergi ist eine ungewöhnliche Persönlichkeit: 1894 als Sohn eines österreichisch-ungarischen Diplomaten und einer Japanerin in Tokio geboren und schließlich französischer und österreichischer Staatsbürger geworden, hat er an der Wiener Universität promoviert. Familiäre Wurzeln hatte er in Flandern wie in Kreta, in Paris war er ebenso zu Hause wie in Prag, Wien oder New York. Er war ein echter Handlungsreisender der europäischen Idee, die er als Gründer der Paneuropa-Union mit aller Kraft propagierte: durch sein Buch „Paneuropa“ (Wien 1923), durch sein Paneuropa-Manifest (1924) und als Herausgeber der Zeitschrift Pan-Europa.

1926 wurde in Wien der erste Kongress der Paneuropa-Union einberufen. Die 2 000 Delegierten aus 24 Staaten billigten das Manifest und einigten sich in groben Zügen auf eine „föderative Organisation Europas“, die wohl eher eine Konföderation als eine Föderation darstellte. Das erklärt auch das Interesse, das de Gaulle dieser Idee nach seiner Rückkehr zu den Staatsgeschäften im Jahr 1958 entgegenbringen sollte, während er von den konsequenten Föderalisten der Europabewegung heftig befeindet wurde.

Der Jurist, Journalist und Politiker Aristide Briand sollte zum ersten französischen Regierungschef werden, der die Idee einer europäischen Union nach Kräften förderte: Seit 1927 zugleich Ehrenpräsident der Paneuropa-Union, schlug er am 5. September 1929 der Völkerbundsversammlung in Genf vor, eine „föderative Verindung“ zwischen den Völkern des alten Europa zu schaffen. Sein Generalsekretär Alexis Léger (bekannter unter seinem Dichternamen Saint John Perse), am Quai d‘Orsay auch für Wirtschafts- und Handelsfragen zuständig, war der Verfasser des im Mai 1930 von der französischen Regierung veröffentlichten „Mémorandum sur l‘organisation d‘un régime d‘union fédérale européenne“.

Wenig Rückhalt in der Bevölkerung

DIE Regierungen der 26 europäischen Mitgliedstaaten des Völkerbunds nahmen diese Denkschrift überwiegend positiv auf. Interessanterweise wurde in den Antworten auf zwei Problemfälle hingewiesen: die beiden Nichtmitglieder des Völkerbunds, UdSSR und Türkei. Italien sprach sich für ihre Eingliederung aus. Griechenland, Bulgarien und Ungarn dagegen erklärten nur die Türkei für willkommen.

Die Wirtschaftskrise und der Aufstieg der autoritären Regime in Europa erstickten jede konkrete Perspektive des Briand-Projekts, noch bevor es 1932 endgültig begraben wurde. Während des Krieges gewann das Projekt Europa in den Widerstandsbewegungen verschiedener Länder neue Konturen, besonders bei den Nazi-Gegnern in Deutschland. So kam es am 31. März 1944 auf der Genfer Konferenz der Widerstandsbewegungen zu einer gemeinsamen Erklärung zugunsten einer föderalen Union für die europäischen Völker, die vorsah, Deutschland zu entnazifizieren und in das neue föderalistische Gefüge einzubinden.

Hochfliegende Ideen, getragen von den Eliten und beseelt vom Impuls des „Nie wieder!“ – vor allem zwischen Deutschen und Franzosen. Nur besaßen diese Ideen wenig Rückhalt in der Bevölkerung – ein Schicksal, das allen europäischen Zusammenschlüssen seit dem Mittelalter gemeinsam ist, vom Netz der Mönchsorden und Abteien über das Geflecht der Handelsstädte und Universitäten bis hin zu den Verbindungen der Intellektuellen im Zeitalter der Aufklärung oder der politischen Internationalen. Sie alle sind an der Frage der Nation gescheitert.

In den Nachkriegsjahren saßen dann die aus dem Widerstand hervorgegangenen Verfechter des europäischen Gedankens überall in Westeuropa an den Schaltstellen der Macht. Manche waren Christdemokraten wie Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schuman oder Paul Van Zeeland, andere Sozialdemokraten wie Paul Henri Spaak, André Philip oder Paul Ramadier. Einige gehörten auch keinem der beiden Lager an wie etwa Jean Monnet. Dieser Meister auf dem diplomatischen Parkett hat die europäische Gemeinschaft, die wir kennen, mit seinem Verhandlungsgeschick entscheidend vorangebracht, ja er wurde zu deren „geistigem Urheber“, wie es sein Biograf Eric Roussel formuliert.

In Frankreich stießen die Befürworter der europäischen Föderation auf zwei wichtige Strömungen, die sich beide auf den Widerstand gegen die Nazi-Besatzung berufen konnten – und die beide gegen das Konzept der Föderation eingestellt waren: die Kommunisten und die Gaullisten. In Großbritannien dagegen ließen sich weder die Labour Party noch die Konservativen je ganz auf die innere Logik des europäischen Bündnisses ein. Schon Winston Churchill hat in den Vierzigerjahren die britische Haltung formuliert – und die gilt ganz offensichtlich auch noch bis heute: „Wir stehen euch bei, gehören aber nicht dazu.“

Gegen Ende der Vierzigerjahre fanden zwei große Kongresse statt – einer 1947 in Montreux, der andere 1948 in Den Haag. Hier trafen sich alle Verfechter der Einigung, die Europa aufzubieten hatte, wenn man sich auch über die Modalitäten keineswegs einig war. Zwei grundlegende Konzepte scheiden bis heute die Geister: zum einen der „Unionismus“, der auf der Zusammenarbeit souveräner Staaten beruht und die Ideen von Coudenhove-Kalergi und Briand aus der Zwischenkriegszeit fortführt; zum anderen der Föderalismus, der die Bildung überstaatlicher Institutionen und damit die Aufgabe staatlicher Souveränität erfordert. Am Ende wurde ein Kompromiss zwischen beiden Positionen gefunden. Er markiert die Gründung der EWG.

Wortführer auf dem föderalistischen Kongress von Montreux, an dem im August 1947 konservative und christdemokratische wie auch sozialistische Bewegungen teilnahmen, waren der Schweizer Schriftsteller Denis de Rougemont und der französische Nobelpreisträger für Ökonomie (1988), Maurice Allais. Interessant ist dabei, dass sich innerhalb der Sozialistischen Bewegung für die Vereinigten Staaten Europas schon damals eine „linke“ Europastrategie abzeichnet, die auch heute noch gültig ist. Danach müsse man zuerst ein vereinigtes Europa schaffen und dann dafür kämpfen, dass es sozialistisch wird – ein vergebliches Bemühen, wie die Erfahrung zeigt.

Montreux war ein Schritt auf dem Weg zum Haager Kongress vom Mai 1948, der allgemein als Gründungsakt des europäischen Aufbaus gilt (allerdings jenseits der Regierungsebene). In Den Haag brachten über tausend Teilnehmer aus 19 Ländern ihre persönliche Meinung zum Ausdruck, unabhängig davon, ob sie Regierungsämter ausübten oder nicht (unter den insgesamt 168 Franzosen waren beispielsweise François Mitterrand und Raymond Aron).

Zwar konnte der Streit zwischen „Unionisten“ (zu denen wie alle Briten auch Winston Churchill gehörte, der in London jetzt Oppositionsführer war) und „Föderalisten“ auf dem Haager Kongress nicht entschieden werden. Dort wurde aber der Grundstein sowohl für die überstaatliche Institution des Europarats (Mai 1949) gelegt, dem derzeit 44 Länder angehören, als auch für eine föderalistisch orientierte europäische Bewegung, zu der Persönlichkeiten der Linken wie der Rechten zählen. Bei der Kampagne zum Maastricht-Referendum im Jahr 1992 konnte man zwei ihrer „Vorkämpfer“ am selben Rednerpult erleben: die sozialistische Ministerin Elisabeth Guigou und den jetzigen Vorsitzenden des Europäischen Konvents,Valéry Giscard d‘Estaing.

Die weitere Entwicklung vollzog sich in folgenden Schritten: die „Schuman-Erklärung“ vom 9. Mai 1950, von Jean Monnet inspiriert, die 1952 zur Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) führte; die Konferenz von Messina im Juni 1955, die auf die Römischen Verträge hinauslief; schließlich die Unterzeichnung dieser Verträge, mit der am 25. März 1957 sechs Länder die EWG und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) ins Leben riefen; die Einheitliche Europäische Akte zur Änderung der Römischen Verträge (1986); der Vertrag von Maastricht, durch den 1992 die Europäische Union geschaffen wurde; der Vertrag von Amsterdam (1997) und der von Nizza (2000). Wie lässt sich vor diesem historischen Hintergrund die am 13. Dezember 2002 auf dem EU-Gipfel von Kopenhagen beschlossene Erweiterung der Union um zehn neue Mitgliedsländer3 im Jahr 2004 sowie um Bulgarien und Rumänien im Jahr 2007 verstehen?

Die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten wie auch der baltischen Länder in die EU ist Abschluss einer Jahrhunderte langen Vorgeschichte, von einigen ihrer Etappen war oben die Rede. Wir haben gesehen, dass Wien und Prag von Podiebrad bis Coudenhove-Kalergi (und dessen Protektor, dem tschechischen Präsidenten Masaryk) als eine Art politischer Schmelztiegel von Großeuropa fungierten. Eine Union mit 25 Mitgliedern? Erinnern wir uns, dass schon 1930 ganze 26 europäische Staaten auf Briands Memorandum reagierten. Und auch die Türkei war auch schon früher in die Diskussion einbezogen, was nur zeigt, wie alt die verschiedenen Europa-Vorstellungen sind: Schon immer stand die Idee von der Bastion der Christenheit der anderen gegenüber, die idealistischer, laizistischer und von der Aufklärung beeinflusst war.

Während die öffentliche Meinung in Westeuropa die geografische und historische Wiederbegegnung von Kopenhagen weitgehend gleichgültig zur Kenntnis nahm, verwundert es nicht, dass das Ereignis in den intellektuellen und kulturellen Kreisen des Ostens eine gewisse Begeisterung auslöste. Allerdings stellt sich die Frage, ob es hier wirklich noch um ein gemeinsames Europa geht. Deshalb wollen wir noch einmal auf die Jahre 1947/1948 zurückkommen.

Das real existierende Europa wurde in der Tat im Kontext des Kalten Krieges aufgebaut. Dieses Europa ist ein Resultat des Marshall-Plans. Also des Projekts zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft, das der amerikanische Außenminister George C. Marshall am 5. Juni 1947 vorgeschlagen hatte und das die UdSSR und ihre Satelliten im Juli 1947 auf dem Kongress in Paris abgelehnt hatten. Auch der darauf folgende kommunistische Umsturz in Prag am 24. Februar 1948 spielte für die Entwicklung Europas eine wichtige Rolle. Treibende Kraft dieser Konstruktion war der Wille der USA, die sowjetische Gefahr zu bannen und den Einfluss der kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens in Schranken zu halten. Weil damals aber die auf Hochtouren laufende amerikanische Industrie in eine Überproduktionskrise abzurutschen drohte, ging es für die USA nicht zuletzt auch darum, freien Zutritt zu ungeschützten Märkten zu erlangen.

John Foster Dulles, der spätere Staatssekretär und Kreuzfahrer des Kalten Krieges, ein enger Freund von Jean Monnet, hat aus diesen Ambitionen damals keinen Hehl gemacht. In einer Rede vor dem Auswärtigen Ausschuss des Senats im November 1947 gab er zu Protokoll, was in seinen Augen als „von Grund auf schlecht“ anzusehen sei: „Von Grund auf schlecht ist der Zerfall Westeuropas in mehrere kleine Wirtschaftseinheiten […]. Europa hat immer unter der Geißel seiner Staatenvielfalt gelitten.“ Wie selbstverständlich schloss er mit dem Fazit: „Wir arbeiten gewöhnlich nicht mit dem Mittel des Diktats.“4 Und doch verlangte Washington von den Begünstigten des Marshall-Plans, dass sie ein gemeinsames Organ zur Verwaltung der Kredite schufen. So kam es am 16. April 1948 zur Gründung des Europäischen Wirtschaftsrates (OEEC) – einer Art Vorläufer der EWG.

Hier zeigt sich bereits das amerikanische Credo, das dem freien Handel absoluten Vorrang einräumt (vor allem, um die Märkte der anderen zu erobern). Dieses Credo sollte sich auch auf den Inhalt der Römischen Verträge bestimmend auswirken. In Artikel 110 wird an die gemeinsame Handelspolitik der Anspruch gestellt, „entsprechend dem Interesse der Allgemeinheit zur harmonischen Entwicklung des Welthandels beizutragen“. An diesem Projekt hält die Europäische Union in Gestalt ihres Außenhandelskommissars Pascal Lamy bis heute obsessiv fest.

Die USA verfügten bald über ein unvergleichlich mächtigeres Instrument, mit dem sie das im Aufbau befindliche Europa in die ihnen genehme Richtung steuern konnten: 1949 wurde die Nato (North Atlantic Treaty Organisation) gegründet, der eine nicht nur militärische, sondern auch politische Hegemonie gewährleisten sollte. Folgerichtig hat die Nato ihren Sitz seit 1966 in Brüssel. Auf das ausgeklügelte Zusammenspiel zwischen der in Kopenhagen beschlossenen EU-Osterweiterung und der drei Wochen zuvor im symbolträchtigen Prag ratifizierten Nato-Erweiterung ist bislang nie ausreichend hingewiesen worden.

Mit dem Beitritt der sieben ehemals kommunistischen Staaten – nach Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik, die 1999 aufgenommen worden sind, kommen nun Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien hinzu – erhöhte sich die Zahl der Nato-Mitgliedsländer von 19 auf 26. Eine solche Erweiterung ist als Verteidigungsbündnis gegen eine nicht mehr existierende Gefahr – die UdSSR – vollkommen unplausibel, erklärt sich allerdings unter dem Aspekt der verstärkten Kontrolle Washingtons über den Alten Kontinent. Denn Washington braucht Europa für seine Großmachtpolitik und als Bollwerk für seine eigene Sicherheit. Ein guter Coup ist die Nato-Erweiterung auch für die Lobby der US-Rüstungsindustrie, der sich im Namen der „Interoperabilität“ zwischen den Streitkräften der Nato-Mitgliedsländer neue Märkte öffnen.

Am 9. Dezember 2002, vier Tage vor Kopenhagen, hatte die International Herald Tribune nicht zu Unrecht auf der ersten Seite getitelt: „Washington ist der große Gewinner der EU-Erweiterung.“ In dem Artikel heißt es: „Einem deutschen Regierungsmitglied zufolge bedeutet der EU-Beitritt der äußerst amerikafreundlichen Länder Mittel- und Osteuropas das Ende jedes Versuchs der Union, sich selbst wie ihre auswärtige und Sicherheitspolitik gegen die Linie der USA auszurichten.“ Die Probe aufs Exempel steht mit dem programmierten amerikanisch-britischen Angriff gegen den Irak ins Haus. Die Kopenhagener Erweiterung scheint manchen Leuten übrigens noch nicht zu genügen. Hätte sich die US-amerikanische Diplomatie sonst so überzogener Druckmittel bedient, um die Mitgliedschaft der Türkei – Vorposten der Nato im Nahen Osten – zu beschleunigen?

Ironie der Geschichte: Durch ihren Beitritt in die EU tragen die mittel- und osteuropäischen Länder das Ihre dazu bei, dass der europäische Charakter, der doch der Grund ihres Beitrittswunsches war, bis zur Unkenntlichkeit verkommt. Ihre zum hemmungslosen Liberalismus konvertierten Regierungen betonen im Zusammenhang mit Europa stets die auf eine bloße Freihandelszone reduzierte Perspektive. Sie haben sich vom Begriff der Gemeinschaft weit entfernt, obwohl sie ihn doch für eine Umverteilung der Strukturfonds und eine gemeinsame Agrarpolitik in Anspruch nehmen wollen. Trotz aller wohlklingenden Reden wird der Gipfel von Kopenhagen unserer Nachwelt vielleicht als Testamentsvollstrecker des Strebens nach jenem Europa erscheinen, das die Visionäre der vergangenen Jahrhunderte im Sinn hatten, unter ihnen de Gaulle mit seinem Ausspruch: „Ich jedenfalls will Europa, damit es europäisch und nicht amerikanisch sei.“5

dt. Grete Osterwald

Fußnoten: 1 Zu den Einzelheiten dieser erstaunlichen Initiative siehe Eric Roussel, „Jean Monnet“, Paris (Fayard) 1996. 2 Siehe Elisabeth du Réau, „L‘idée d‘Europe au XXème siècle“, Brüssel (Complexe) 1996. Réau verweist häufig auf Jean-Baptiste Duroselles Buch „L‘Europe. Histoire de ses peuples“, Paris 1993 (Perrin), sowie für einige schwer zugängliche Texte auf Jean-Pierre Faye, „L‘Europe unie. Les philosophes et l‘Europe“, Paris (Gallimard) 1992. 3 Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern. 4 Zitiert von Eric Roussel (Anm. 1), S. 489. 5 Alain Peyrefitte, „C‘était De Gaulle“, Paris (Fayard) 1994, S. 61.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von BERNARD CASSEN