17.01.2003

Von den Briten lernen

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Von den Briten lernen

EIN vom Militär gestütztes autoritäres Regime, das in Bagdad mit eiserner Hand regiert, wird zur akuten strategischen Gefahr für die Interessen der westlichen Großmächte in der gesamten Region. Eine Militärexpedition wird beschlossen, Bagdad nach einem schwierigen und kostspieligen Feldzug eingenommen; das Resultat ist eine neue staatliche Ordnung unter militärischer und politischer Kontrolle des Westens. Kaum hat es den Anschein, als werde die Zukunft des Irak fortan durch das Ausland bestimmt, bricht in den Straßen Bagdads und in den schiitischen Bevölkerungszentren im Süden des Landes eine von irakischen Offizieren geführte Rebellion aus. Das ganze Unternehmen scheint gefährdet.

Der Aufstand wird letztlich niedergeschlagen, doch der Aufwand ist so groß, dass ein radikales Umdenken bei den Besatzungsarmeen und den Protektoratsmächten einsetzt. Anstelle des zunächst so ambitionierten Vorhabens entwickelt die Besatzungsmacht einen bescheideneren und billigeren Plan. Der sieht angesichts des realen soziopolitischen Gefüges im Irak vor, die staatliche Kontrolle wieder an die administrativen und militärischen Eliten des alten Regimes zu übertragen, wenn auch unter Aufsicht des Westens.

Dies ist nicht die Prognose für das, was sich in den kommenden zwölf Monaten im Irak abspielen könnte. Es handelt sich vielmehr um die Schilderung dessen, was sich vor über 80 Jahren abspielte, als Großbritannien die drei osmanischen Provinzen Basra, Bagdad und Mosul besetzte und aus ihnen den neuen Staat Irak zusammenfügte. Dass die Ereignisse von damals eine gewisse Ähnlichkeit mit der Situation im heutigen und womöglich auch im künftigen Irak aufweisen, hat weniger mit einem spezifischen Problem der irakischen Geschichte zu tun als mit der Logik imperialer Macht. Wenn es zum Krieg kommt, könnten sich die USA vor ähnliche Entscheidungen gestellt sehen wie einst Großbritannien zwischen 1914 und 1921. Und im Rückblick auf die damaligen Ereignisse wird deutlich, dass die Ausübung imperialer Macht – im Zusammenhang mit einer staatlichen Umstrukturierung – heute einer ähnlichen Logik unterliegen könnte. Der Vergleich eröffnet zudem interessante Perspektiven, was die möglichen Entwicklungen in einem Irak unter US-amerikanischer Okkupation betrifft.

Als die Briten 1914 in Mesopotamien einfielen, hatten sie nicht unbedingt die Gründung eines neuen Staates im Sinn, sondern zunächst vor allem die Sicherung ihrer Position am Persischen Golf. Der militärische Erfolg weckte jedoch größere Ambitionen, und bereits 1918 war das gesamte Territorium des späteren Irak von britischen Streitkräften besetzt. Innerhalb dieses Gebiets wurde eine Zivilverwaltung nach dem Modell von Britisch-Indien errichtet, wo viele der Offiziere und Beamten ihre Erfahrungen gesammelt hatten. Es entstand eine Mischung aus direkter und indirekter britischer Herrschaft. Die Aufsicht über das Gebilde hatte ein vorwiegend britisches Ministerium in Bagdad, allerdings war die Verwaltung in den Provinzen auf die Zusammenarbeit mit den lokalen Gemeindevertretern angewiesen, denen es oblag, Steuern einzutreiben und die soziale Ordnung zu gewährleisten. Von dieser Ordnung ausgeschlossen waren die vorwiegend sunnitischen Araber und arabisierten Türken – die administrativen und militärischen Eliten des Osmanischen Reiches. So entstand eine Sonderform der britischen imperialen Ordnung, die ihr Zentrum in Bagdad hatte und nach und nach die ganze Gesellschaft durchdrang. Dieses Modell schien die britischen Interessen in der Region am besten zu wahren.

Nach dem Kriegsende im Jahre 1918 traten innerhalb der britischen Regierung zunehmend unterschiedliche Gewichtungen dieser Interessen zu Tage. Die Vertreter der stark imperial ausgerichteten Fraktion sahen es als Teil der Mission Großbritanniens, mit seinen Machtstrukturen die ganze Gesellschaft zu durchdringen und diese der neuen administrativen Ordnung anzupassen. Die Vertreter eines moderaten Konzepts hatten moralische Zweifel an dem imperialistischen Projekt und praktische Zweifel hinsichtlich der konkreten Möglichkeiten und Verpflichtungen der Besatzungsmacht. In ihren Augen sollte sich die britische Regierung auf zwei grundlegende Forderungen an eine neue Regierung in Mesopotamien beschränken: Eine kompetente Verwaltung zu stellen und die strategischen Interessen der Briten zu respektieren. Dieses Konzept setzte sich schließlich durch und wurde zur Basis des neu gegründeten Staates Irak.1

Ein preiswerter Imperialismus

DOCH der Verlauf der Geschichte wurde nicht nur im Irak bestimmt, sondern auch durch die Entwicklungen auf internationaler Ebene und in Großbritannien. 1920 wurde das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung in Form des Völkerbundmandats umgesetzt. Dieses Mandat bezog sich auf Territorien der im Ersten Weltkrieg besiegten Mächte, die sich unter der Obhut einer der Siegermächte zu unabhängigen, souveränen Staaten entwickeln sollten. Für dieses Konzept traten vor allem die Mitglieder der britischen Regierung ein, die den globalen Einfluss und die Herrschaft Großbritanniens zu minimalen finanziellen und militärischen Kosten wahren wollten. Da die wachsenden öffentlichen Ausgaben und alarmierende Prognosen der Regierung über die finanzielle Belastung durch das Empire inzwischen für einen Stimmungsumschwung bei der britischen Bevölkerung gesorgt hatten, schien damit die ideale Lösung gefunden.

Im Irak selbst gab es eine starke Opposition gegen das Mandat, das als Feigenblatt für die britische imperiale Kontrolle betrachtet wurde. Viele britische Beamte in Bagdad sahen in dem Völkerbundmandat dagegen ein gefährliches Abrücken von der eigenen Verantwortung.2 Der direkte Konflikt zwischen diesen beiden Seiten führte zur irakischen Revolte von 1920. Die Massendemonstrationen in Bagdad wurden sowohl von den sunnitischen als auch den schiitischen Teilen der Bevölkerung getragen, aber auch von verbitterten Offizieren des einstigen Osmanischen Reiches. Die Revolte erreichte ihren Höhepunkt, als sie auch die überwiegend schiitische Region des mittleren und unteren Euphrats erfasste. Gut bewaffnete Stammesführer, die sich über das Verhalten der Zentralregierung und gegen die „Herrschaft der Ungläubigen“ empörten, bekamen weite Teile des Südens unter ihre Kontrolle. Erst nach mehreren Monaten und unter hohen Verlusten konnten die Briten den Aufstand niederschlagen.3

Der Aufstand hatte zwei grundlegende Konsequenzen. Zum einen fanden die Briten den Preis für die Herrschaft im Irak zu hoch, zumal sie die Aufgabe hatten, eine funktionierende Regierung, Armee und Administration aufzubauen. Zum anderen merkten sie, dass sie in den Reihen der administrativen und militärischen Eliten des ehemaligen Osmanischen Reiches – die durch den Krieg staatenlos geworden waren – qualifizierte Führungskräfte finden konnten. Diese Männer hatten ihre Fähigkeit bewiesen, einen modernen Staat zu lenken. Sie hatten sich pragmatisch damit abgefunden, dass die britische Präsenz nötig war, um den irakischen Staat abzusichern und innerhalb der Region zu verteidigen. Im Gegensatz zu diesen Kräften galten die Führer der mehrheitlich schiitischen Bevölkerung und der beträchtlichen kurdischen Minderheit als aufrührerisch. Aus britischer Sicht war ihre von Stammesriten und religiösen Traditionen geprägte Lebensweise mit einer modernen Staatsführung unvereinbar.

Diese Überlegungen bestimmten den Fortgang der britischen Politik im Irak. Amir Faisal aus dem Hedschas (dem westlichen Saudi-Arabien) wurde als König eingesetzt und hauptsächlich von sunnitischen Offizieren und Beamten des ehemaligen Osmanischen Reiches unterstützt. Diese übernahmen die Zivilverwaltung von den britischen Beamten und bildeten das Rückgrat des neuen irakischen Offizierskorps. Natürlich blieb der britische Einfluss auch im unabhängigen Irak bestehen. Durch Berater in den Ministerien, zwei große Stützpunkte der Royal Air Force und zahlreiche Verbindungen zwischen beiden Ländern hatte Großbritanniens informelles Imperium auch noch nach 1932 Bestand.

Die Befürworter einer minimalistischen oder indirekten Strategie schienen mit ihrem Argument, es gehe im Grunde nur um die Wahrung der strategischen Interessen der Briten, Recht behalten zu haben. Andererseits war mit diesem Konzept auch die Basis für eine besondere Staatsform im Irak geschaffen. Diese zeichnete sich durch zwei wichtige Züge aus: zum einen durch die autoritären Neigungen der neuen politischen Klasse, zum anderen durch die Vorurteile gegenüber den verschiedenen Ethnien, die eine Mehrheit der irakischen Bevölkerung ausmachen.4

Eine Parallele zur gegenwärtigen Situation im Irak ergibt sich nicht allein aus der Tatsache, dass Saddam Husseins Regime ein direkter Nachfolger dieses Regierungsmodells ist. Sie ergibt sich vor allem auch aus den Alternativen, vor denen die USA bei einer eventuellen Neuorganisation des Iraks stehen würden.

Wie die britische Regierung vor achtzig Jahren würden die USA nach einer Invasion und dem Sturz des Saddam-Hussein-Regimes vor der Frage stehen, ob sie einen fundamentalen Wandel in der irakischen Politik anstreben und ob sie die Zeit und die Mittel investieren wollen, die für die Realisierung dieses Vorhabens erforderlich sind.

Die Alternative wäre, eine irakische Administration zu installieren, die die strategischen Interessen der USA respektiert und deren Vorstellung von einer politischen Ordnung umsetzt, was einen frühzeitigen Abzug der amerikanischen Truppen gewährleisten würde. Diese Variante würde die bestehenden Machtstrukturen weitgehend unberührt lassen und den Gang der irakischen Geschichte berücksichtigen, aus der das gegenwärtige Regime hervorgegangen ist.

Die USA stoßen mit einem solchen Projekt jedoch momentan auf internationalen Widerstand. Auch regen sich innerhalb der Vereinigten Staaten Proteste gegen die Vorstellung, dass US-Soldaten dafür ihr Leben einsetzen sollen. Derzeit sieht es eher so aus, als wolle die US-Regierung von einem stärkeren Engagement in der irakischen Innenpolitik absehen. Dem stehen zwar aktuelle Aussagen der Regierung in Washington entgegen, die es erklärtermaßen zu ihrer Aufgabe gemacht hat, den Irak in ein „demokratisches Modell für die Region“ zuverwandeln. Für diejenigen Irakis, die sich von den USA einen politischen Wandel erhoffen, wäre eine solche Entwicklung verheerend. Doch für die Vereinigten Staaten dürften die Reduzierung der Risiken und der Kosten, sowie die eigenen kurzfristigen Vorteile schwerer wiegen als die Möglichkeit eines grundlegenden sozialen Wechsels im Irak. So wie es bereits vor 80 Jahren für Großbritannien der Fall war.

aus dem Engl. Elisabeth Wellershaus

* Orientalist, London University, Autor von „A History of Iraq“, Cambridge University Press 2001.

Fußnoten: 1 Peter Slugett, „Britain in Iraq 1914–32“, London 1976. 2 Tawfiq al-Suwaidi: „Mudhakkirati“ (Erinnerungen)“ London (Dar al-Hikma) 1931. 3 Ali al-Wardi Lamahat, „Ijtima‘iyya Ta‘rikh al-Irak al-Hadith“, (Soziale Aspekte der Neueren Irakischen Geschichte), Bd. 5, Bagdad 1977/78. 4 Sati‘al-Husri, „Mudhakkirati fi al-Iraq“ (Irakische Memoiren) Bd. 1 u. 2, Beirut 1967/68.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von CHARLES TRIPP