17.01.2003

Der große Sprung zurück

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Der große Sprung zurück

UNSERE Streitkräfte werden dafür sorgen, dass der Irak ins vorindustrielle Zeitalter zurückgeworfen wird.“ Diese Warnung ließ der damalige US-amerikanische Außenminister James Baker seinem irakischen Amtskollegen Tarik Asis zu Beginn des Jahre 1991, kurz vor dem Angriff der Golfkriegsallianz, zukommen. Baker wusste sehr wohl, wovon er sprach. Die schweren Luftangriffe und die Bodenoffensive in den ersten Wochen des Jahres 1991 trafen nicht nur das irakische Militär, sondern auch die Infrastruktur des Landes. Wie viele zivile Einrichtungen mögen damals als „legitime“ Angriffsziele gegolten haben – von den Elektrizitätswerken bis zur Wasserversorgung?

Doch der Irak nutzte seinen Ölreichtum offenbar für einen raschen Wiederaufbau. Journalisten, die das Land 1992–1993 bereisten, zeigten sich überrascht, mit welchem Improvisationstalent man die Infrastruktur wieder instand gesetzt hatte. Was die Bomben- und Raketenangriffe nicht geschafft hatten, bewirkte zehnjährige Embargo. Langfristig reichte Erfindungsgabe für die Instandsetzung nicht aus. Die Einfuhr dringend benötigter Maschinen und Materialien war dem Irak untersagt. Deshalb werden heute technische Geräte genutzt, die über zwanzig Jahre alt sind - mit katastrophalen Folgen für die Bevölkerung.

Ob das Regime Saddam Husseins sein Programm zur Erzeugung von Massenvernichtungswaffen aufgegeben hat, wie von Resolution 687 des UN-Sicherheitsrats gefordert, bleibt offen. Klar ist dagegen, dass diese Entschließung – durch die damit verbundene Verlängerung des Embargos – den Irak und seine Bevölkerung tatsächlich ins vorindustrielle Zeitalter zurückversetzt hat. Die Forscherin Sarah Graham-Brown kommt zu dem Befund, der Irak sei „nach allen messbaren Indikatoren, insbesondere auch der Säuglingssterblichkeit, inzwischen zu den armen Ländern zu rechnen“1 . Im Fernsehen waren immer wieder Bilder aus irakischen Krankenhäusern zu sehen: Kinder sterben, weil sie nicht versorgt werden können, weil es an Medikamenten mangelt. Das würde sich keineswegs sofort ändern, wenn morgen die Sanktionen aufgehoben würden. Es braucht Zeit, bis eine neue Generation von Ärzten ausgebildet ist, und die heutigen Studienbedingungen sind sehr unzureichend. Die besten Professoren haben den Irak verlassen, weil sie in anderen Ländern besser verdienen und ihren Kindern eine Zukunft bieten können. Dagegen sind Auslandsaufenthalte für Studenten undenkbar geworden. Die können nicht einmal die internationale wissenschaftliche Diskussion verfolgen, weil der Import medizinischer Fachzeitschriften nicht möglich ist – schließlich könnte ja ein Artikel für die Herstellung biologischer Waffen von Nutzen sein.

In den 1980er-Jahren hatte der Irak ein Gesundheitssystem, das für ein Land des Südens ungewöhnlich gut funktionierte. Auch das Bildungswesen war vorbildlich. Schon nach dem Sturz der Monarchie 1958 hatten die neuen Machthaber vor allem im Grundschulbereich viel bewegt. Die seit 1973 steigenden Ölpreise erlaubten dann auch den Ausbau der weiterführenden Schulen und Universitäten – was vor allem den Mädchen zugute kam. Das Embargo hat diese Fortschritte gestoppt: Die Alphabetisierungsquote – die von 1977 bis 1987 von 52 Prozent auf 72 Prozent gestiegen war, begann wieder zu sinken. Nach einem Bericht des UN-Kinderhilfswerks Unicef von Anfang 20022 besuchen nur zwei Drittel der Sechs- bis Elfjährigen die Grundschule. 31,2 Prozent der Mädchen und 17,5 Prozent der Jungen sind damit beschäftigt,für die Familie ein paar Dinar zu verdienen. In den Schulen herrschen traurige Zustände: baufällige Gebäude, überfüllte Klassen, Mangel an Büchern, Bänken, Tischen und Tafeln. Für das Land ist das Schicksal dieser verlorenen Generation eine bleibende Hypothek – auch wenn Saddam Hussein morgen gestürzt werden sollte.

Von alters her war der Irak ein Zentrum der arabischen Kultur. Dichter, Schriftsteller und Maler genossen internationale Reputation, auch wenn seit 1968 viele Intellektuelle vor dem herrschenden Regime ins Ausland flohen. In der Mittelschicht gab es viele belesene Menschen – heute verkaufen sie ihre Bücher in den Straßen Bagdads, damit sie überleben können. Das Embargo hat auch zum Niedergang des gesellschaftlichen Lebens geführt. Stattdessen herrscht allgemeine Korruption, die Kriminalität steigt drastisch an. Und die nationale Einheit gerät ins Wanken, weil viele, nach dem Vorbild der Machthaber, wieder auf das Prinzip der Stammessolidarität setzen.

In den Diskussionen über einen Krieg hat das irakische Volk keine Stimme. Wieder einmal haben geopolitische Erwägungen und die mit dem Erdöl verknüpften Interessen mehr Gewicht. Wer hätte im Frühjahr 1991 die Folgen des UN-Embargos für die Zivilbevölkerung voraussagen können? Im November 2002 haben 280 Bischöfe und Kardinäle vor den unabsehbaren Konsequenzen eines neuen Golfkriegs für die irakische Bevölkerung gewarnt. Ob man auf sie hören wird?

L. D.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von L. D.