17.01.2003

Europäische Zwängereien

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Europäische Zwängereien

DIE Senkung der Rentenansprüche ist kein französisches Privileg. Die Pensionsfonds, als Wunderlösung gepriesen, befinden sich auch überall sonst in Schwierigkeiten. In Großbritannien fordert die politische Führung eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 70 Jahre und öffentliche Gelder, um die Rentenkassen aufzufüllen. Die Hälfte aller Briten bezieht nur staatliche Rente, und die liegt bei 32 Prozent des Erwerbseinkommens. In den USA wird der Calpers-Fonds spätestens 2005 die Renten seiner Versicherten nicht mehr bezahlen können. Er wird massiv Börsenwerte abstoßen müssen, was zu einem Kursverfall führen wird, den Fachleute schon heute als dramatisch bezeichnen. Deshalb drängt Calpers auf die Schaffung von Pensionsfonds in Europa, die die von den Amerikanern abgestoßenen Titel aufkaufen könnten. Was den europäischen Regierungen zupass kommt, die von einem großen europäischen Markt für Pensionsfonds träumen. In den meisten europäischen Ländern – Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Österreich, Belgien, Finnland, Schweden, Griechenland, Portugal, Luxemburg – sind nach wie vor Alterssicherungssysteme auf Grundlage des Umlageverfahrens die Regel, auch wenn hier und da kapitalgedeckte Zusatzversicherungen eingeführt wurden. Die Niederlande, Dänemark und Irland kennen eine gemischte Altersvorsorge aus umlagefinanzierten und kapitalgedeckten Sicherungssystemen. Das gesetzliche Rentenalter liegt überall in Europa bei 65 Jahren – außer in Frankreich und Schweden (60 bzw. 61 Jahre). In vielen Ländern steht jedoch nur die Hälfte der 55- bis 60-Jährigen im Erwerbsleben. Ausnahmen bilden Dänemark, Deutschland und Großbritannien, wo noch 65 bis 70 Prozent der Lohnabhängigen dieser Altersgruppe eine Arbeit haben (in den USA und in Japan liegt der Anteil noch höher). In allen Ländern wurden Reformen in Angriff genommen, um die Beitragsdauer zu erhöhen und die Rentenberechnung zu modifizieren. Nach Angaben des französischen Konjunkturforschungsinstituts OFCE1 ermöglicht dies „eine Senkung der Durchschnittsrente um 31 Prozent, ohne den gesetzlichen Rentensatz zu verändern“.

M. B.

Fußnote: 1 Odile Chagny u. a. „Les réformes des systèmes de retraite en Europe“, Revue de l‘OFCE, Paris, Juli 2001.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von M. B.