17.01.2003

Vagabundierendes Denken

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Vagabundierendes Denken

Von THIERRY PAQUOT *

AM 2. Dezember 2002, einem Montag, hat Ivan Illich seine Siesta in die Ewigkeit verlängert. Von jetzt an ist er tot. Ich schreibe „von jetzt an“, denn wann immer ich in den letzten Jahren seinen Namen erwähnte, fragten mich meine Gesprächspartner, wann er eigentlich gestorben sei.

Er ist tot, sein Gesamtwerk aber wird in Kürze auf Französisch wieder aufgelegt1 und den einen ermöglichen, ihn überhaupt erst zu entdecken, den anderen, seine Schriften neu zu lesen. Es ist ein anspruchsvolles, überreiches, verstörendes, schwer einzuordnendes Werk, ähnlich wie sein Autor, der auch nie dort war, wo man ihn erwartete.

Ivan Illich war groß gewachsen, hager, mit fesselndem Blick, einnehmendem Lächeln und feinen Gesichtszügen – nur nicht von der Seite, an der ihn ein Auswuchs entstellte. Er verstand es, eine Atmosphäre der Geborgenheit um sich zu verbreiten. Nach ein paar Worten über Alltägliches kam sein Denken in Fahrt, passte sich dem Rhythmus seines Sprechens an und überschwemmte einen mit seiner Intelligenz. Er konnte sich über die „Stimmungen“ bei einem deutschen Arzt des 18. Jahrhunderts verbreiten, auf Aristoteles zurückgreifen, einen Abstecher zu Diderot und Lavoisier machen, sich kurz bei Balint aufhalten, zu seinem deutschen Arzt zurückkehren und lautstark über Diagnose, Konsultation und Selbstenteignung durch den anderen – den Arzt – nachdenken, über die Ablehnung von Schmerz spekulieren und schließlich präzise die gegenwärtige Klinikmaschinerie beschreiben, wobei er beiläufig einige seiner eigenen alten Analysen aus „Die Nemesis der Medizin“ umstieß.

Ein anderes Mal nahm sein vagabundierendes Reden einen anderen Weg, führte aus, dass das Schweigen wie die Gewaltlosigkeit eine Waffe des Protests sein könne, stellte die philosophischen Gedanken Max Picards dar, konfrontierte sie mit denen von Emmanuel Levinas, ergriff die Gelegenheit, eine Diskussion mit Michel de Certeau über „Wortergreifen und Schweigen“ zu vergegenwärtigen, sprach über die Kirchenväter, erwähnte diverse Schweige-Happenings, an denen er teilgenommen hatte, verortete das Wort in einer Gesellschaft des Geschriebenen, dann in einer des Bildes und begeisterte sich für sein Lieblingsjahrhundert: das zwölfte.

Diese beiden Redeereignisse, deren bescheidener Zeuge ich war, treffen sich mit zahllosen anderen, die andere ehemalige Tischgenossen zum Besten geben – verärgert oder verzaubert von diesem unglaublichen enzyklopädischen Wissen, das von großer Leichtigkeit im Umgang mit Sprachen (mehr als einem Dutzend!) und einer grenzenlosen Neugier getragen war.

Tatsächlich besaß der junge Ivan – geboren 1926 in Wien, der Vater ein Katholik aus Dalmatien, die Mutter eine lutherisch getaufte deutsche Jüdin – nicht eine Muttersprache, sondern mehrere – Französisch, Italienisch und Deutsch –, bevor er mit acht Jahren Serbokroatisch dazulernte, die Sprache seiner Großeltern. Später kommen Griechisch und Latein dazu, Spanisch, Portugiesisch, Hindi und so weiter. Als junger Mann belegt er in Florenz Kurse für Kristallographie, studiert Philosophie und Theologie in Rom, mittelalterliche Geschichte in Salzburg, wird zum Priester geweiht, geht 1951 nach New York, arbeitet dort als Armenpriester in einer puerto-ricanischen Gemeinde, wird 1956 Vizerektor der katholischen Universität von Santa Maria auf Puerto Rico (mit 30 Jahren!), stellt mehr und mehr das Lehrsystem und die reaktionären Positionen des Klerus in Frage, gründet parallele Seminare und diverse Arbeitsgruppen.

Drei Jahre später durchquert er zu Fuß und mit dem Bus Lateinamerika, wendet sich gegen das nordamerikanische Entwicklungskonzept, lässt sich in Cuernavaca, Mexiko nieder und eröffnet dort das Centro intercultural de documentatión (Cidoc). Zunächst nur besucht von amerikanischen Freiwilligen, die – im Rahmen des von Kennedy lancierten Programms „Allianz für den Fortschritt“ – Spanisch lernen und sich mit der Kultur des Landes vertraut machen, wird das Cidoc nach und nach vor allem für seine kapitalismuskritische Arbeit bekannt, die von zahlreichen Intellektuellen aller Nationalitäten unter Illichs Ägide geleistet wird. Das Zentrum arbeitet zehn Jahre, von 1966 bis 1976; 1967 bricht Ivan Illich mit Rom, wohin er aufgrund eines CIA-Berichts zitiert wird. Beunruhigt ist man dort vor allem über die Resonanz bestimmter Schriften, wie „Die Schattenseite der Wohltätigkeit“ oder „Der verschwindende Geistliche“.

Der Weg nach Cuernavaca wird für die radikale Linke, zumal die Anhänger der Drei-Welten-Theorie zum obligatorischen Umweg. Es ist ein Ort für ernsthaftes Studium und festliche Treffen, beides vom Christentum stark geprägt. Auch als Ivan Illich den Priesterstand verlässt, bleibt er überzeugt, dass die meisten zentralen Ideen, die die Realität unserer gegenwärtigen Welt geprägt haben, christlichen Ursprungs sind.2

Mit den Büchern „Entschulung der Gesellschaft“ (im Original erschienen 1971) und „Selbstbegrenzung“ (1973) ist der Ruf des knapp fünfzigjährigen Ivan Illich gefestigt: seine Ideen werden weltweit diskutiert. In diesen ersten Werken untersucht er, wie „Werkzeuge“ (darunter verstanden die „Institutionen“ und andere große „Gesellschaftsmaschinen“ wie Kirche, Schule, Krankenhaus, Transportwesen usw.), wenn sie einmal ein bestimmtes Stadium überschritten haben, kontraproduktiv werden – er bezeichnet sie als „paradox kontraproduktiv“ weil, wie er präzisiert, dies von ihren Planern und Erfindern so nicht gewollt war. Je weiter sich ein technisches System entwickelt, so seine These, desto größer wird die Heteronomie des Individuums und desto geringer dessen Autonomie, so dass es immer abhängiger wird von dem, was es nicht beherrschen kann: Nuklearenergie, Autobahn, Chemotherapie, Genmanipulation usw.

Hinter den von seinen Anhängern allzu schnell und allzu sehr simplifizierten Aussagen wie „Schule macht dumm“, „Krankenhaus macht krank“, „Autos behindern den Verkehr“ usw. steckt eine bemerkenswerte Kritik des so genannten Fortschritts und dessen, was ihn legitimiert, nämlich die Befriedigung angeblicher Bedürfnisse.3 Dabei lehnte Ivan Illich den Ansatz des Club of Rome ab, der 1972 die Regierenden aufforderte, das wirtschaftliche Wachstum zu stoppen, um die Verknappung der Rohstoffe aufzuhalten und die Verschwendung von Energieressourcen zu mindern. Er glaubte in keiner Weise an einen „Schutz der Natur“ und kritisierte die unbedachte Anwendung jedweder Technik ebenso grundsätzlich wie die politische Ökonomie der „Entwicklung“. Sein Projekt ist die vollständige Befreiung eines jeden Individuums in seiner Einzigartigkeit – unabhängig von dessen Kultur und Bildung, dessen Einkommen, dessen Stellung im Produktionssystem. Diese Befreiung des Subjekts – diese Begriffe freilich gehören nicht zu Illichs Vokabular – beruht auf einer Beherrschung des eigenen Körpers und seiner Bedürfnisse, unabhängig von den verfügbaren Techniken.

Ivan Illich erzählte gern die Anekdote von einer Studentin, der er ein Glas Cidre anbot und die antwortete: „Nein danke, mein Bedürfnis an Zucker ist für heute gedeckt.“ Sie habe sich ihre Bedürfnisse von Kalorientabellen und Normen diktieren lassen. Das Miteinanderteilen eines Getränks beim Gespräch ist in derlei Regelsystemen nicht vorgesehen, und man erkennt an diesem Ritual, dass Bedürfnisse stets kulturell und historisch bestimmt sind. Die Frage, wie standardisierte und allgemein gültige Bedürfnisse erzeugt werden, beschäftigte Illich jahrelang und führte dazu, dass er weitere begriffliche Genealogien aufstellte wie „Mensch“, „Leben“, „Genus“ „Person“ oder „Gesundheit“5 , mit deren Hilfe er die abendländische Geschichte neu betrachtete.

Zu welchem Zeitpunkt, unter welchen Umständen und mit welchen Folgen wird beispielsweise die Arbeit zum entscheidenden Faktor der individuellen und kollektiven Existenz? In „Shadow-Work“ (1981) und „Genus – Zu einer historischen Kritik der Gleichheit“ (1982) ergänzte und erläuterte er seine früheren Essays, indem er Sprache als zentrale existenzielle Verwurzelung des Einzelnen ortete, die Sexualisierung der Gesellschaft als Unterscheidung zwischen den Geschlechtern beschrieb und den falschen Glauben an den Homo oeconomicus als Verhaltensmodell aufzeigte.

Diese Werke irritierten die Anhänger der Drei-Welten-Theorie, für die „Schattenarbeit“ keineswegs die vom „informellen Sektor“ abhängigen Armen aufwertet; sie irritierten auch die Feministinnen, die Illichs Differentialismus der Geschlechter zurückwiesen und für juristische und ökonomische Gleichheit von Mann und Frau stritten. Illichs letzte Forschungen zum Thema Mündlichkeit, Schrift und Bild schließlich blieben unbeachtet.

War Ivan Illich von den Anhängern der Neuen Linken Frankreichs noch in den 70er-Jahren in den Himmel gehoben worden, wurde er ihnen, kaum hatten sie mit der Wahl Mitterrands 1981 politische Verantwortung übernommen, zu pessimistisch. Die Anhänger der Drei-Welten-Theorie mussten auf das Ende des Kalten Krieges, auf die Globalisierung der Ökonomie und der Telekommunikation reagieren: bei Ivan Illich fanden sie auf ihre Fragen keine Antworten mehr. Den Umweltschützern kam seine Kritik an dem von Hans Jonas aufgebrachten Prinzip der Verantwortung nicht gelegen, wie sie auch seiner von Jacques Ellul, Lewis Mumford und einigen anderen inspirierten Technologiekritik nicht folgen wollten. Kurzum, zwischen diesem Denker von verstörender Originalität und einer Intelligenzija, der alle Gewissheiten abhanden gekommen waren, sprang der Funke nicht mehr über.

Die von Illich gegründeten Netzwerke setzten jedoch die Verbreitung seiner Lehren fort und gingen die von ihm beschrittenen Wege weiter; sein – schwer einzuschätzender – Einfluss steht außer Frage, wie die Popularität seiner Konzepte und seine Präsenz in zahllosen Bibliographien bezeugen. Von Vancouver (Habitat I, 1976) bis Rio (Gipfel der Erde, 1992), von Bürgerinitiativen bis Gruppen von Globaliserungskritikern – die Themen Ivan Illichs scheinen alles andere als vergessen zu sein.

dt. Bernd Schwibs

* Philosoph, Professor an der Universität Paris XII, Herausgeber und Freund Ivan Illichs.

Fußnoten: 1 Im Laufe des Jahres 2003 bei Fayard, Paris. 2 David Cayley, „Entretiens avec Ivan Illich“, Saint-Laurent/Québec (Bellarmin) 1996, S. 146. 3 Ivan Illich, „Needs“, in: Wolfgang Sachs (Hg.), „The Development Dictionary“, London 1992, S. 88 ff. 4 Ivan Illich, „Pathogenese des Gesundheitswahns“, in Le Monde diplomatique, April 1999.

Le Monde diplomatique vom 17.01.2003, von THIERRY PAQUOT