Kampf, Rebellion oder Zerfall
Obwohl in Europa die Zweifel wachsen, ob ein Angriff auf den Irak völkerrechtlich legitim und realpolitisch klug ist, gehen die Kriegsvorbereitungen des Pentagon weiter. Niemand in Washington weiß freilich, wie viel Widerstand die irakische Armee im Ernstfall leisten wird. Zwar hat die reguläre Armee nach ihren Erfahrungen mit dem herrschenden Clan keinen Grund, sich für Saddam Hussein aufzuopfern. Doch das bedeutet keineswegs, dass irakische Soldaten massenhaft rebellieren oder desertieren werden.
Von FALEH A. JABAR *
IN dem sich abzeichnenden Krieg zwischen Washington und Bagdad hängt die Zukunft des Baath-Regimes vom Verhalten der irakischen Armee ab. In den USA geht man allgemein davon aus, dass die reguläre irakische Armee den Kampf rasch aufgeben, die Republikanische Garde dagegen wesentlich mehr Widerstand leisten werde. Letztere sei stärker motiviert und besser ausgerüstet und bezahlt als die regulären Einheiten, deshalb werde sie dem Regime zweifellos treu bleiben und kämpfen.
Diese schematische Gegenüberstellung von Elitetruppen und Armee könnte jedoch leicht zu falschen Schlüssen führen. Sie reduziert die Ursachen für Zusammenhalt oder Zerfall des Regimes auf militärische Faktoren, die gewiss bedeutsam, jedoch differenziert zu betrachten sind, und ignoriert die komplexen Wechselwirkungen zwischen Krieg und Politik im Irak.
Um dies zu verstehen, muss man sich den Charakter der Baath-Partei und die Umstände ihrer Machtergreifung 1968 genauer ansehen. Das Trauma der Baath-Führer war damals die anhaltende Fraktionierung des Offizierscorps, die seit dem Staatsstreich von 1958 zu einer Reihe von – erfolgreichen wie gescheiterten – Putschversuchen geführt hatte. Deshalb verkündete der achte Parteikongress von 1974 zwei Hauptziele: Erstens sei die Armee der Partei untergeordnet, ihre Ränge müssten also von „zweifelhaften Elementen, Verschwörern und Abenteurern“ gesäubert und ihre Mitglieder politisch geschult werden. Die Armee sollte also „baathisiert“ oder in offizieller Lesart „indoktriniert“ werden. Zweitens wurde eine Restrukturierung, Modernisierung und Vergrößerung der Armee beschlossen.
Diese „Baathisierung“ der Armee war eine notwendige, aber keine ausreichende Maßnahme. Um einen höheren Grad an Loyalität zu sichern, wurden Familien- und Clanstrukturen in die Armee injiziert. Das Resultat war ein doppeltes Kontrollsystem: Die Partei kontrollierte die Armee, und der Clan kontrollierte die Partei. Die Partei stellte das notwendige Überwachungspersonal; der Clan sicherte die Loyalität. Zusätzlich zum Generalstab wurden drei Kontrollebenen geschaffen: das militärische Büro der Partei, das Büro für nationale Sicherheit (in erster Linie für Nachrichtenbeschaffung zuständig) und das informelle Netzwerk familiärer Beziehungen.
Dank dieser verwickelten Struktur erlangte Präsident Saddam Hussein zusätzlichen Einfluss auf die Führung und Kontrolle aller Staatsangelegenheiten. Damit kann er an der vertikalen Führungsstruktur vorbei eine direkte Aufsicht über den gesamten militärischen Bereich ausüben. Während des Krieges mit dem Iran (1980–1988) wurden diese neuen Strukturen seitens einiger Militärs bemängelt, denn die Personalisierung der Kontrollmechanismen mag zwar der inneren Sicherheit dienlich sein, kann die moderne Kriegsführung aber nur behindern.
Während der Präsidentschaft der Brüder Aref (1963–1968) hatte das Militär eine Doppelstruktur: Es bestand aus einer regulären Armee und der Republikanischen Garde. Die Baath-Partei konservierte diesen Dualismus und machte die Republikanische Garde zu einer Armee. Ganz bewusst trennte das Regime die nationale Verteidigung als Aufgabe der Armee von der inneren Sicherheit, für die die Republikanische Garde zuständig war. Die allerdings war am Irankrieg ebenso beteiligt wie an der Eroberung Kuwaits und am Krieg gegen die USA und deren Verbündete.
Zudem ging die Rekonstruktion der Armee mit radikalen Veränderungen für die hohen Ränge einher. Die politische Rolle des Offizierscorps verlor an Bedeutung; die Armee wurde in die Kasernen verbannt, die Offiziere wurden zu Befehlsempfängern degradiert.
Der erste Kommandandorat der Revolution (CCR), der 1968 die Macht an sich riss und das oberste Staatsorgan bildete, bestand ganz aus Militärs. In dem drei Jahre später gebildeten zweiten Kommandorat waren von den fünfzehn Mitgliedern nur noch fünf Offiziere. Und als Saddam Hussein 1979 die Macht übernahm, war kein einziger Offizier mehr im CCR. Das Baath-Regime war also, wie der Historiker Majid Khadduri bemerkt, „das erste Regime, das die Armee der zivilen Kontrolle unterstellt hat“. Die Ära der politischen Rolle des Militärs ging zu Ende, ihr folgte die Ära der Massenarmee. Zwischen 1968 und 1980 wuchs die Armee von 50 000 auf 430 000 Mann.
Mit dem Krieg gegen den Iran begann für Nation und Armee eine Zeit der Umwälzung, ermöglicht durch die Öleinnahmen, durch internationale und regionale Unterstützung. Die Armee wuchs weiter auf eine Million Mann, hinzu kamen die paramilitärischen Organisationen der Parteimiliz (Volksarmee) und die 150 000 Mann starken „Bataillone der nationalen Verteidigung“, die Söldnereinheiten der kurdischen Stammesgebiete. Die massive Militarisierung zehrte die Ressourcen des Landes auf, das sich kolossal verschuldete. Die Ermattung durch den langen Krieg, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der durch die Politik des Regimes verursachte Verlust des sozialen Zusammenhalts führten die Kriegsgeneration an den Rand der Rebellion. Das einst engmaschige Geflecht aus Partei- und Stammesstrukturen wurde immer brüchiger. Die Armee drohte zu einem unkontrollierbaren Leviathan zu werden.
In den Nachkriegsjahren 1988 bis 1990 zeigten sich in der vormals einheitlichen Front von Volkspatriotismus und offiziellem Nationalismus die ersten Risse. Das Regime musste entweder eine Million Uniformierte durchfüttern oder deren Rückkehr in ein würdiges Zivilleben finanzieren. Die wilde und aufsässige Haltung der Truppen, die man zuvor als „Helden Saddams“ gefeiert hatte, machte der Machtelite Angst.
Um die Spannungen abzubauen, musste man zusätzliche Ressourcen finden und politische Reformen in Gang bringen. Als Heilmittel für alle Übel war die Invasion in Kuwait gedacht, die aber zum Bumerang wurde. Durch die demütigende Niederlage und die schweren Verluste wurde das gescheiterte Unternehmen zum Äuslöser von regionalen Rebellionen und territorialer Desintegration. Die Aufstände von 1991 (Kurden im Norden und Schiiten im Süden), an denen auch Teile der Armee beteiligt waren, trugen erste Auflösungserscheinungen auch in die Armee.
Tatsächlich brachte der Golfkrieg bei der Armee drei in sich widersprüchliche Hauptzüge zum Vorschein: die Tendenz zur Rebellion, zur Kapitulation und zur Kohäsion. Das war nicht neu – die Neigung zum Desertieren war bereits vor 1990 ein Problem. Während des Landkriegs im Februar 1991 waren nur wenige der in Kuwait eingesetzten Truppen tatsächlich aktiv beteiligt; bereits am ersten Tag der Kämpfe kapitulierten 70 000 Mann.
Nach dem Waffenstillstand erreichten Aufstände und Fahnenflucht bei den Truppen der Südfront ein solches Ausmaß, dass die Armee sich vollständig auflöste. Die 150 000 Soldaten der im Norden stationierten Einheiten streckten ebenfalls die Waffen, nicht bereit zur Rebellion, aber auch nicht zur Verteidigung des Regimes. Weit geschlossener und loyaler verhielten sich die militärischen Verbände in der Zentralregion um Bagdad.
Womit erklären sich diese Unterschiede? Die meisten Soldaten hatten zum „Kuwaitkrieg“ eine indifferente Haltung, zudem waren sie noch erschöpft vom Krieg gegen den Iran. Der Preis für das neue Kriegsabenteuer war die Auflösung der Fusion zwischen offiziellem Nationalismus und Volkspatriotismus. Die schweren Verluste, eine mangelhafte Logistik und unzureichende Versorgung, eine schlechte operative Führung, die Niederlage und am Ende ein chaotischer Rückzug, all dies erbitterte die im Süden stationierten Truppen.
Die fürchterlichen Luftangriffe der alliierten Koalition führten zu dem paradoxen Ergebnis, dass die bereits auf dem Rückzug befindlichen Einheiten vernichtet wurden und damit keine Möglichkeit mehr hatten, gegen das Regime zu kämpfen. Weil die Vereinigten Staaten befürchteten, der Iran könne sich in die irakischen Angelegenheiten einmischen, und angesichts dieser Gefahr ein irakisches Militärpotenzial als Gegengewicht erhalten wollten, wurde die Republikanische Garde damals nicht vollständig vernichtet. Das verschaffte Saddam Hussein die Chance, sich der Gefahr zu entledigen, die von der besiegten Armee des Südens ausging. Als ein Panzer auf dem Rückzug in Basra ein gigantisches Wandporträt von Saddam zerschoss, war das Fanal zum Aufstand gegeben.
Dieselben Faktoren spielten auch im Norden die entscheidende Rolle. Hier wurden die Aufstände durch die Mustasharin1 , die Kommandanten der kurdischen Stämme, und die mobilisierte Stadtbevölkerung ausgelöst. Als die irakischen Militäreinheiten merkten, dass sie besiegt und zugleich isoliert waren, ergaben sie sich den Kurden. Auf einmal sah man tausende von unbewaffneten Uniformierten auf den Straßen von Erbil, Suleimaniye und Duhuk umherschlendern. Kurdische Familien, die mit diesen desillusionierten Soldaten Mitleid hatten, steckten ihnen Geld und Nahrungsmittel zu. Die Kommandanten dieser Truppen klagten, Saddams Politik habe die Nation ins Unglück gestürzt und die Armee erniedrigt.
Diese Soldaten hatten zwar Mut genug, sich über die militärische Disziplin hinwegzusetzen, aber zu viel Angst, um auf Bagdad zu marschieren. In ihrer Unentschlossenheit machten sie freiwillig ihre Waffen unbrauchbar. Selbst im Süden war der Aufstand mehr eine Verzweiflungstat als eine Bewegung mit klaren politischen Zielen.
Die im Zentrum des Landes stationierte Dritte Abteilung der Armee hingegen hielt die Reihen fest geschlossen und dem Regime die Treue. Diese hauptsächlich aus Einheiten der Republikanischen Garde und der Divisionen Madina und Hammurabi zusammengesetzte Truppe hatte das Oberkommando für einen Gegenangriff in Reserve gehalten, der dann nie stattgefunden hat; stattdessen ließ man diese ausgeruhten Verbände auf die dezimierten und schlecht ausgerüsteten Aufständischen los. Zum Retter des Regimes wurden damit genau die Kräfte, welche die Regierung von George Bush sen. intakt gelassen hatte, um die nationale Verteidigung des Irak zu sichern. Dieselben Kräfte bilden bis heute das Bollwerk des Regimes.
Der innere Zusammenhalt dieser Truppe ist darauf zurückzuführen, dass das Netzwerk von Partei- und Clanbeziehungen in der Republikanischen Garde – im Vergleich jedenfalls zur regulären Armee – relativ engmaschig ist. Offiziere und Soldaten fühlten sich einer gemeinsamen Gefahr ausgesetzt und konnten damit vom Regime zur Niederschlagung des Aufstands eingesetzt werden. Zudem war ihre Kampfmoral intakt geblieben, da sie sich während des Golfkriegs weitgehend hatten schonen können.
Nach 1991 machte sich das Regime daran, sowohl in seiner Führung als auch in seinen Institutionen wieder klare Verhältnisse zu schaffen. Zunächst wurde damit begonnen, die Führungsgruppen, in denen sich Uneinigkeit breit gemacht hatte, neu zusammenzusetzen. Die Weichen für eine reibungslose Nachfolge wurden gestellt, die Rückkehr zur „Tribalisierung“ der Gesellschaft durchgesetzt und die Reorganisation der gesamten Armee beschlossen. Zwischen 1968 und 1990 hatte es insgesamt vier Verteidigungsminister gegeben, danach waren es im Zeitraum 1991 bis 1996 ebenfalls vier. Bis 1996 hatte Saddam Hussein dieses Amt stets einem Mitglied des Majid-Clans anvertraut, danach aber entschloss er sich, das Amt einem verdienten Offizier der jungen Generation anzuvertrauen, um die militärischen Institutionen zufrieden zu stellen und etwas gegen den Niedergang der Truppenmoral zu tun. So löste Thabit Sultan als Verteidigungsminister den zwielichtigen Ali Hassan al-Majid ab.
Die größte Veränderung bestand in der Verringerung der Streitkräfte von einer Million auf 350 000 Mann. Auch das Waffenarsenal wurde im Vergleich zu 1991 auf die Hälfte reduziert; rüstungstechnische Verbesserungen gab es nur im Bereich der Luftverteidigungssysteme. Mit dieser quantitativen Reduktion konnte das Regime die Ausgaben kürzen und die Repräsentation der Clangruppen im Militär verstärken, die vor dem Krieg gefährlich ausgedünnt worden war. Zudem erweiterte sich die Kluft zwischen der regulären Armee und den Eliteverbänden. Quantitativ sind heute die Republikanische Garde und die Armee im Bereich der Panzer- und der motorisierten Verbände beinahe gleich stark.
Tatsächlich bestehen die Streitkräfte heute aus vier Bereichen: den Einheiten der Republikanischen Sondergarde mit einem Armeekorps aus drei Divisionen (nach einer anderen Zählung aus acht Brigaden); der Republikanischen Garde mit drei Panzerdivisionen, zwei motorisierten Divisionen und zwei Infanteriedivisionen; der regulären Armee mit vier Panzerdivisionen, drei motorisierten Divisionen und fünfzehn Infanteriedivisionen; den Stammeseinheiten, deren Aufgabe es ist, jede zivile Unruhe zu ersticken, die aber auch im Falle von Straßenkämpfen hervorragende Dienste leisten können. Für den Zusammenhalt der Truppe von Bedeutung ist ein weiterer Faktor: In den vier Bereichen stellen die Mitglieder des Clans von Saddam Hussein zwischen 35 und 85 Prozent der höheren und mittleren Offiziere.
Der bevorstehende Krieg unterscheidet sich vom ersten Golfkrieg hinsichtlich der politischen Ziele, der militärischen Operationen und der Kampfregionen. Weit stärker als 1991 wird die Haltung der Armee dieses Mal durch die politische Dimension des Feldzugs bestimmt. Da die USA ganz offen auf den Sturz des Regimes aus sind, müssen sich ihre Operationen darauf konzentrieren, die Machtzentrale Bagdad zu erobern. Ohne das Überlaufen größerer irakischer Armee-Einheiten und ohne einen erfolgreichen Staatsstreich kann das Hauptziel nur durch eine Invasion und die vollständige Besetzung des Landes erreicht werden. Es sieht also nicht nach einem raschen Sieg wie in Afghanistan aus. Die Einheit des an der Macht befindlichen „Klassenclans“ aufzubrechen könnte sich als durchaus schwierig erweisen, zumal der innere Zusammenhalt der Machtelite in den Überlegungen der USA offenbar keine Rolle spielt.
Bagdad trifft seine Vorbereitungen
DAS Regime in Bagdad steht vor zwei Problemen, die offensichtlich unlösbar sind. Das erste betrifft die Qualität des kommenden Konflikts, denn dieses Mal geht es um das Überleben des Regimes. Zum Zweiten weiß die herrschende Klasse sehr genau, dass die Kluft zwischen dem offiziellen und dem Volksnationalismus unüberbrückbar geworden ist. Und sie realisiert voller Angst, dass die irakische Armee gegen die USA und ihre eventuellen militärischen Verbündeten auf verlorenem Posten steht. Angesichts dessen fasst man in Bagdad mehrere Auswege ins Auge. Das Regime hat vor allem versucht, das kollektive Gefühl der Bedrohung durch die USA dadurch zu manipulieren, dass es so tut, als sei die gesamte Machtelite bedroht. Die Mitglieder dieser Elite könnten sich angesichts der Gefahr einer vollständigen Eliminierung tatsächlich zusammenschließen und gemeinsam bis zum Schluss kämpfen. Dieses kollektive Gefühl wird noch dadurch verstärkt, dass die USA den Versuch unterlassen haben, die innere Einheit der Elite aufzubrechen.
Zweitens versucht das Regime, angesichts der inhärenten Schwäche des offiziellen Nationalismus auf bestimmte Formen der volkstümlichen oder auch der institutionalisierten Religion zu setzen: zum einen auf das gemeinsame antischiitische Ressentiment bei den Sunniten, zum anderen auf die Fatwas der schiitischen Geistlichkeit, in denen die schiitische Opposition verurteilt wird.
Drittens konzentriert das Regime seine militärische Strategie auf die Verteidigung der Städte, da es diese als das günstigste Kampffeld betrachtet. Das könnte die Gefahr großer ziviler Opfer erhöhen, die US-Operationen verlangsamen oder eindämmen, die Schwäche der irakischen Armee kompensieren und den Traum des Regimes wahr machen, den US-Truppen möglichst hohe Verluste beizubringen.
Viertens hat man einen genauen Plan zur Nutzung der internationalen Medien ausgearbeitet, mit dem man hofft, die Invasionskräfte vor Bagdad stoppen zu können. Während des Golfkriegs 1991 kontrollierte die westliche Koalition die Berichterstattung in den Medien. Dieses Mal will das Regime die Machtverhältnisse umkehren, deshalb hat man an verschiedenen Orten zehn unterirdische Pressezentren vorbereitet.
Fünftens hat das Regime, um die Kontinuität der Macht zu sichern, ein bipolares System errichtet, mit Saddam Hussein und dessen Sohn Qusai als dessen designiertem Nachfolger. Ins Auge gefasst, wenn auch noch nicht offiziell bestätigt, ist ein drittes Machtzentrum, in dem General Kamal Mustafa als Kommandeur der Republikanischen Garde sitzen soll.
Schließlich wurden alle Zivilgouverneure des Landes durch hohe Militärs ersetzt, um jeden Aufstand der Zivilbevölkerung sofort zu ersticken. Loyale Einheiten der Stammesverbände wurden in die städtischen Zentren verlegt. Mit diesen und anderen Maßnahmen demonstriert das Regime, dass es seine eigenen Schwächen kennt, aber auch die Grenzen des Gegners.
Legt man die Erfahrungen von 1991 zugrunde, könnten die reguläre Armee und die Republikanische Garde entweder kämpfen oder rebellieren oder davonlaufen. Dabei dürfte das Verhalten der irakischen Streitkräfte jeweils vom konkreten Kriegsschauplatz und von der aktuellen Entwicklung abhängen. Einen Staatsstreich zu organisieren dürfte allerdings äußerst schwierig sein. Die Armee ist nicht mehr politisiert wie noch 1958. Damals konnte ein Zehntel der Armee putschen und den Rest in Schach halten. Unter den heutigen Bedingungen müssten mindestens ein ganzes Armeecorps (drei bis vier Divisionen) mobilisiert und drei weitere politisch neutralisiert werden. Das aber ist ohne die Mitwirkung eines bedeutenden Teils des Beijat-Clans von Saddam Hussein nicht vorstellbar.
Kann die Politik der USA und ihrer Verbündeten einen Teil der Stammeseliten, die zum heutigen Machtblock gehören, überzeugen und auf ihre Seite ziehen? Das Scheitern eines Militärputsches könnte zu lokal begrenzten Aufständen führen, wodurch das Risiko eines Bürgerkriegs erhöht würde. Dann aber wäre die Zahl ziviler Opfer dramatisch, der Krieg würde sich lange hinziehen, und unkontrollierbare Kräfte könnten unsere schlimmsten Albträume wahr werden lassen.
dt. Hans Schiler
* Soziologe am Birbeck College, London University (geb. 1946 in Bagdad, seit 1978 im Exil). Autor von (u. a.) „Ayatollahs, Sufis and Ideologues. State, Religion and Social Movements in Iraq“, „Tribes and Power in the Middle East“ (gemeinsam mit Hisham Dawood), beide erschienen in London (Saqi Books).