10.10.2008

Vom Aufstand zum Krieg

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Vom Aufstand zum Krieg

In Pakistan sind neue Taliban-Gruppen entstanden. Sie haben das Kräfteverhältnis in Afghanistan verändert von Syed Saleem Shahzad

Der Krieg, den die pakistanischen Machthaber seit 2003 gegen Untergrundorganisationen führen, die im indischen Teil Kaschmirs Anschläge verübten, hatte unerwünschte Folgen. Die Kämpfer dieser Gruppen verlegten ihre Lager aus dem pakistanischen Teil Kaschmirs in die Stammesgebiete von Nord- und Südwasiristan nahe der afghanischen Grenze. In den 1990er-Jahren waren diese Kämpfer von der „Indien-Abteilung“ des pakistanischen Geheimdienstes ISI (Inter-Service Intelligence) in den modernsten Techniken der Stadtguerilla ausgebildet worden, um gegen den indischen Sicherheitsapparat im indischen Teil Kaschmirs zu kämpfen. Betreut wurden diese Kämpfer von einer kleinen Gruppe von Offizieren, die später aus der pakistanischen Armee ausschieden, weil sie den proamerikanischen Kurswechsel des Präsidenten Pervez Musharraf nach dem 11. September 2001 nicht mitmachen wollten.

Die Verlagerung der pakistanischen Kaschmir-Kämpfer an die Grenze Afghanistans hatte für die Strategie der afghanischen Stämme im Kampf gegen die Besetzung ihres Landes entscheidende Folgen. Denn jetzt entwickelte diese Guerilla neue Kampfmethoden, die sich an dem berühmten Konzept der „Drei Schritte“ des nordvietnamesischen Generals Vo Nguyen Giap orientierten.1 Ihr Plan sah eine Offensive für das Frühjahr 2008 vor, gefolgt von einer Serie einzelner Überfälle auf Außenposten und Truppen des Gegners, und als dritten Schritt die Ausweitung des Aufstands auf die größeren Städte und die Hauptstadt Kabul.

Im Zuge dieser strategischen Umorientierung bildete sich seit Ende 2006 eine neue Allianz heraus, in der sich islamistische Kämpfer aus Zentralasien und den arabischen Ländern mit der pakistanischen Organisation Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP) zusammenfanden. Die Führer der TTP sind Baitullah Mehsud, der hinter dem jüngsten Attentat gegen das Marriott-Hotel in Islamabad vermutet wird, und Maulana Ilyas Kashmiri2 , ein Veteran des Untergrundkampfs gegen die indischen Streitkräfte in Kaschmir. Die militärische Strategie dieser neuen Allianz bezieht sich auf die Gesamtregion, soll also Afghanistan und Pakistan destabilisieren und am Ende auch auf Indien übergreifen.

Nach dem 11. September 2001 waren alle islamistischen Gruppierungen in Südasien in die Defensive gedrängt worden, vor allem weil die Regierungen dieser Region unter dem Druck Washingtons ihre Repressionsmaßnahmen verschärften. Die erste Front, an der sich die islamistischen Kräfte neu formieren konnten, war Afghanistan. Allerdings dauerte es einige Jahre, bis ihre Strategie gegen die westlichen Invasoren Wirkung zeigte. Bis heute glauben diese Kämpfer an die bevorstehende „Schlacht am Ende der Zeiten“. Dieser Begriff bezieht sich auf einen Hadith3 des Propheten Mohammed, der einen Krieg in Khorasan ankündigte, also dem Gebiet, das die Stammesgebiete in Pakistan, das heutige Afghanistan und Teile des Iran umfasst. Von hier aus müssen sich dann Freiwillige in den Nahen Osten aufmachen, um den Kampf des Mahdi (des „rechtgeleiteten“ oder „gottgesandten“ Führers) gegen die „Kräfte des Bösen“ in Palästina zu unterstützen.

Vorstufe zum endgültigen Sieg des Islam

Diese eschatologische Vorstellung vom Ende der Welt soll die Muslime in aller Welt, vor allem aber in der Türkei und Zentralasien, zur Teilnahme am Kampf in Afghanistan mobilisieren, der als Vorstufe zur Befreiung Palästinas und zum endgültigen Sieg des Islam – und der Gerechtigkeit – in aller Welt ausgegeben wird.

Die Taliban-Offensive im Frühjahr 2008 wurde durch eine Reihe von Entwicklungen begünstigt, die sich seit 2001 in der größeren Region vollzogen haben. Dazu gehört auch die eher zufällige personelle Konstellation an der Spitze verschiedener Gruppierungen, die im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet agieren. Die neue Strategie, die dieser Konstellation entspringt, transformiert einen begrenzten Aufstand in einen Krieg, der ganz neue Dimensionen erreicht.

Eine besonders wichtige Rolle spielt dabei Maulana Ilyas Kashmiri, ein Held des bewaffneten Widerstands in Kaschmir, der zwei Jahre in indischen Gefängnissen verbracht hatte. Im Januar 2004 war er von den pakistanischen Sicherheitskräften unter der Beschuldigung verhaftet worden, er unterhalte Verbindungen zu den Selbstmordattentätern, die am 25. Dezember 2003 ihre mit Sprengstoff beladenen Fahrzeuge in die Wagenkolonne von Präsident Musharraf gelenkt hatten. Als sich dieser Vorwurf als unhaltbar erwies, kam Kashmiri nach dreißig Tagen wieder auf freien Fuß. Doch die Haft hatte ihm so zugesetzt, dass er den Kampf für die Befreiung Kaschmirs aufgab und sich mit seiner Familie in Nordwasiristan niederließ. Viele kaschmirische Kämpfer sahen darin eine Art Fatwa – die Aufforderung, fortan gegen die Nato-Truppen in Afghanistan zu kämpfen.

So kam es, dass hunderte pakistanischer Dschihadisten ein Ausbildungslager in der Region Razmak gründeten. Zu ihnen stieß auch Abdul Jabbar, der Führer der verbotenen Organisation Jaish-Muhammad. Auch er verlegte, nach mehreren Verhaftungen im Gefolge des 11. September, seine Aktivitäten von Kaschmir an die Grenze zu Afghanistan. Eine dritte Gruppe waren die pakistanischen Offiziere, die bis 2001 im Auftrag der pakistanischen Armee die kaschmirischen Kämpfer ausgebildet hatten. Danach quittierten einige von ihnen den Dienst und gingen nach Nordwasiristan. Dieser Zustrom verstärkte sich nach 2005, sodass die aus Kaschmir zugewanderten Dschihadisten Mitte 2007 bereits über ein stabiles Netz von Stützpunkten an der pakistanisch-afghanischen Grenze verfügten.

Die neuen Lager waren nicht nur für die lokalen Warlords interessant, sondern zogen auch islamistische Kämpfer aus Mittelasien an, insbesondere Tschetschenen, Usbeken und Turkmenen. Auch Ideologen aus den arabischen Ländern fanden hier ein neues Betätigungsfeld, denn die meisten der strenggläubigen jungen Dschihadisten waren strikte Anhänger der islamischen Revolution und der Neuerrichtung des Kalifats.

Die ideologischen Studienzirkel wurden vor allem von arabischen Islamisten wie Scheich Essa oder Abu Yahya al-Libi geleitet.4 Aber bald stießen auch militärische Kommandeure zu diesem Kreis, der Leute wie Baitullah Mehsud und Sirajudin Haqqani (Sohn eines Mudschaheddin-Führers, der gegen die Sowjets gekämpft hatte) mit arabischen Al-Qaida-Ideologen und alten Kaschmir-Kämpfern zusammenbrachte.

Auf diese Weise entstand binnen knapp zwei Jahren eine starke pakistanische Fraktion, die heute als Franchise-Unternehmen von al-Qaida auftritt und die Strategie des afghanischen Widerstands unter der Führung der Taliban mit ganz neuen Ideen inspiriert. Diese Verquickung höchst unterschiedlicher Einflüsse bewirkte, dass den ehemaligen Kaschmir-Kämpfern die Al-Qaida-Ideologie eingeimpft und zugleich den Taliban das in der pakistanischen Armee erworbene militärische Fachwissen vermittelt wurde. Damit übernahm bei den Kämpfen in Afghanistan eine neue Führungsriege das Kommando, die man als „Neo-Taliban“ bezeichnen kann.

Im Laufe von 2006 und 2007 breiteten sich diese ultraradikalen und zugleich sehr gut ausgebildeten Taliban neuen Typs über die gesamten pakistanischen Stammesgebiete aus. Nord- und Südwasiristan gelten seit langer Zeit als die wichtigsten Rückzugsgebiete des bewaffneten Widerstands. Aber während etwa in dem Distrikt Mohmand Agency die Taliban vor 2006 nicht existent waren, zählten sie hier Ende 2007, als ich die Gegend bereiste, bereits 18 000 Mann. Ähnlich sah es in dem benachbarten Distrikt Bajaur Agency aus, wo sich mehr als 25 000 Taliban aufhielten.

Das Nato-Oberkommando in Afghanistan hat das Ausmaß dieser Veränderungen offenbar noch nicht begriffen. Wozu die Neo-Taliban inzwischen fähig sind, demonstrierten sie am 14. Januar 2008 mit ihrem Anschlag auf das Serena-Hotel in Kabul, bei dem sechs Menschen, darunter ein norwegischer Journalist sowie Sicherheitsbeamte des Hotels, getötet wurden. Diese Attacke war nach dem Vorbild der Anschläge in Kaschmir organisiert, wo pakistanische Untergrundkämpfer häufig die Reihen der indischen Sicherheitskräfte infiltrierten. In Kabul hatten sich Mitglieder der Haqqani-Gruppe mit Polizeiuniformen getarnt, was auf Komplizen innerhalb der lokalen Sicherheitsorgane verweist.

Nach demselben Muster verliefen weitere Aktionen, zum Beispiel der gescheiterte Anschlag auf den afghanischen Präsidenten Hamid Karsai vom 27. April 2008. Und auch die spektakuläre Flucht von über 400 Taliban-Häftlingen aus dem Gefängnis von Kandahar zeugt vom Erfolg der neuen Ausbildungsmethoden und der Guerillatechniken, die man von den alten Kaschmir-Kämpfern und den pakistanischen Offizieren übernommen hat.

Angriff auf die Nachschubwege der Nato

Doch letztlich sind das Nebenschauplätze. Die zentrale Bewährungsprobe für die neue Strategie findet anderswo statt: in der afghanischen Provinz Nangarhar und in dem benachbarten, jenseits der Grenze gelegenen pakistanischen Distrikt Khyber Agency. Dort werden über den gleichnamigen Pass 80 Prozent des Nachschubs für die Nato-Truppen transportiert. Hier haben sich die Taliban nach und nach eingenistet und verüben seit Februar 2008 perfekt organisierte Anschläge auf die Nato-Konvois. Die Überfälle waren so gezielt und wirkungsvoll, dass die Nato am 4. April in Bukarest ein Abkommen mit Moskau schließen musste, das die Lieferung nichtmilitärischer Güter über russisches Territorium vorsieht – obwohl diese neue Route das Budget der westlichen Allianz erheblich zu strapazieren droht.

„Die Nachschubwege der Nato aus Pakistan zu unterbrechen ist ein wichtiges Element unserer Strategie“, erklärt ein führender Repräsentant der Taliban, der anonym bleiben will. „Wenn wir das 2008 konsequent umsetzen, müssten die Nato-Truppen schon 2009 abziehen. Vielleicht brauchen wir aber noch ein Jahr länger.“

Diese Strategie zwingt die Nato, sich auch fern ihrer afghanischen Stützpunkte zu engagieren, etwa im Hafen von Karatschi und als Geleitschutz der Nachschubkonvois, die durch Pakistan nach Kandahar und Kabul fahren. Am 9. Mai 2008 wurde der Besitzer des Unternehmens entführt, dessen Tanklaster das Benzin für die Nato von Karatschi nach Afghanistan transportieren. Der Mann wurde am 26. September erschossen aufgefunden, als die pakistanische Polizei das Versteck mutmaßlicher Terroristen stürmten.5 Und im August überfielen 35 Talibankämpfer bereits am Stadtrand von Karatschi einen Lastwagenkonvoi mit Waffen für Afghanistan, über den sie sehr genaue Informationen gehabt haben müssen.

Westliche Sicherheitsexperte klagten im August dieses Jahres, dass mehrere Militärstützpunkte im Süden Afghanistans völlig unterversorgt sind und aus Mangel an Treibstoff „alle Truppenbewegungen und Offensiven eingestellt haben.“6

In Washington und im Nato-Hauptquartier hat man nicht nur diese neue Strategie unterschätzt. Genauso wenig wurden die strategischen und ideologischen Bündnisse erkannt, aus denen die Neo-Taliban hervorgegangen sind. Nicht zu übersehen waren für die westliche Allianz allerdings die verstärkten Aktivitäten in den Al-Qaida-Ausbildungslagern in den pakistanischen Stammesgebieten. Seit Januar 2007 drängten die USA die pakistanische Führung, militärisch schärfer gegen die Taliban vorzugehen und vor allem auch ihre logistischen Stützpunkte zu liquidieren. Damit war unter anderem die Rote Moschee (Lal Masjid) in Islamabad gemeint.7

Vor allem aber forderte Washington eine verstärkte Offensive gegen die „Bewegung für die Anwendung der Scharia“ (Tehrik-i-Nifaz-i-Shariat-Muhammadi), die im Swat-Tal und den angrenzenden Stammesgebieten der Nordwestprovinz aktiv ist, und gegen die pakistanischen Taliban, die ihre Hochburgen im Distrikt Bajaur Agency, in Süd- und Nordwasiristan haben, aber auch weiter südlich im Distrikt Zhob und in der Grenzstadt Chaman, die zu Belutschistan gehören.8

Zwischen Januar und Juni 2007 wurden mindestens siebenmal hochrangige Abgesandte aus Washington bei der pakistanischen Regierung vorstellig und forderten energische Maßnahmen nicht nur auf militärischem Gebiet, die die Bevölkerung für den „Krieg gegen den Terrorismus“ gewinnen und den Kampf gegen die Taliban unterstützen sollten. Präsident Musharraf gab dem Druck nach: Er trat als Oberbefehlshaber der Streitkräfte zurück und beschränkte sich auf seine Rolle als ziviler Staatschef, er versprach, mit den weltlichen Parteien und den liberalen politischen Kräften zusammenzuarbeiten und nach den Parlamentswahlen – die nach der Ermordung Benazir Bhuttos vom Januar 2008 um sechs Wochen verschoben wurden – eine Koalitionsregierung zu ernennen. Diese „Zivilisierung“ des Systems sollte es der pakistanischen Armee endlich ermöglichen, schärfer gegen die radikalen Gruppen vorzugehen.

Im Sinne dieser Abmachungen betätigten sich die USA und Großbritannien als Vermittler zwischen Musharraf und der früheren Ministerpräsidentin Benazir Bhutto. Eingebunden wurden auch einige kleine nationalistische Parteien wie die Awami National Party und die Mutehida Quami Movement und sogar die konservative religiöse Bewegung Jamiat Ulema-i-Islam von Fazlur Rahman. Im Juni 2007 waren diese politischen und militärischen Vorbereitungen für den großen Schlag gegen die Taliban abgeschlossen.

Der geplante Showdown begann mit dem Angriff auf die Rote Moschee am 10. Juli 2007, der allerdings hohe Verluste auf beiden Seiten forderte. Als nächster Schritt war eine gemeinsame Militäroperation der pakistanischen und der US-Streitkräfte gegen die Taliban in den Stammesgebieten vorgesehen, um deren Rückzugsbasen und Al-Qaida-Stützpunkte an der afghanischen Grenze zu zerstören. Der Großeinsatz sollte von einem Militärstützpunkt in Peschawar ausgehen, wobei (nach amerikanischen Presseberichten) etwa 100 US-Militärberater die pakistanischen Spezialeinheiten unterstützen sollten, die man als Speerspitze des Kampfs gegen die Extremisten aus einer 85 000 Mann starken paramilitärischen Truppe rekrutiert hatte.

Doch der blutige Kampf um die Rote Moschee hatte zur Folge, dass die islamistischen Kämpfer Präsident Musharraf zum Hauptfeind erklärten und den bewaffneten Kampf gegen das pakistanische Militär aufnahmen. Von Juli 2007 bis Januar 2008 erlebte Pakistan eine Welle der Gewalt, die das soziale, politische und wirtschaftliche Leben fast zum Erliegen brachte.

Der erste Schlag der Neo-Taliban gegen diese US-amerikanische Strategie war der Sprengstoffanschlag auf Benazir Bhutto vom 19. Oktober 2007 in Karatschi, der mehr als 200 Menschenleben forderte. Bhutto, die gerade aus dem Exil zurückgekehrt war, überlebte wie durch ein Wunder. Als einzige politische Größe des Landes hatte sie den Angriff auf die Rote Moschee und den „Krieg gegen den Terrorismus“ öffentlich unterstützt.

Den nächsten Anschlag am 27. Dezember 2007 überlebte Bhutto nicht. Ihre Ermordung erfolgte auf Befehl der Führungsgruppe in Wasiristan, bestehend aus Baitullah Mehsud, al-Qaida und pakistanischen Islamisten. Damit waren die US-Pläne in Pakistan hinfällig. Die Wahlen mussten verschoben werden, die militärischen Operationen gegen die Taliban wurden eingestellt. Die Islamisten dagegen konnten ihre präzise Strategie schrittweise vorantreiben. Eine Serie schwerster Anschläge stürzte das Land ins Chaos, dessen die Staatsorgane in Islamabad nicht mehr Herr wurden.

Es folgten die Parlamentswahlen vom 18. Februar 2008. Die brachten der Muslimliga (PML-N) des früheren Ministerpräsidenten Nawaz Sharif einen unerwartet hohen Stimmenanteil, weshalb Sharif zunächst in die Regierungskoalition einbezogen werden musste.9 Eine Woche nach diesen Wahlen erfolgte ein weiterer Schlag, der gezielt die Streitkräfte demoralisieren sollte: ein Selbstmordattentat auf die Garnison in Rawalpindi, dem General Mushtaq Beg zum Opfer fiel.

Nachdem es den Neo-Taliban gelungen war, die amerikanisch-pakistanische Militäroffensive zu vereiteln, versuchten sie Zeit zu gewinnen, um ihre eigene Offensive im Frühjahr 2008 vorzubereiten. Dabei erwies es sich als hilfreich, dass die Muslimliga der Regierung angehörte und Verhandlungen mit den pakistanischen Sicherheitskräften vermitteln konnte.

Bei der Nato wurde diese Taktik nicht begriffen. Sie glaubte an eine vorläufige Einstellung der Kampfhandlungen und wurde von der neuen Taliban-Offensive im Mai 2008 überrascht. Die Folge war, dass von Mai bis Juni die Allianz erstmals mehr Tote in Afghanistan (70) hatte als im Irak (52).

Die Taliban demonstrierten ihre neue Strategie erneut mit dem Selbstmordanschlag auf die indische Botschaft in Kabul vom 7. Juli, bei dem 40 Menschen starben. Ihr Ziel ist ganz offenbar, die Staaten in der Region, vor allem Indien und Pakistan, von der Unterstützung der USA und ihres „Kriegs gegen den Terrorismus“ abzubringen. Aber die islamistischen Ideologen in Wasiristan haben noch weitergehende strategische Pläne – etwa Anschläge gegen US-Einrichtungen in Europa auszuführen.

Die meisten Beobachter gehen aber davon aus, dass al-Qaida und die Taliban ihr wichtigstes strategisches Zentrum vorerst in Pakistan sehen. Ihre jüngsten Erfolge im Osten Afghanistans erlauben es ihnen mittlerweile, die nächste Etappe zu planen. Seit in den Stammesgebieten nicht mehr so viele Araber an der Front stehen – viele von ihnen wurden getötet oder verhaftet oder sind in den Irak gegangen –, geben Kämpfer aus anderen Ländern bei diesen Planungen den Ton an.

Ihr erklärtes Ziel geht über die Vertreibung des westlichen Bündnisses aus Afghanistan und dem Irak deutlich hinaus. Auf längere Sicht wollen sie die Voraussetzungen für eine neue Front schaffen: für die Befreiung Palästinas, die in ihren Augen die ersehnte Ankunft des Mahdi bringen wird.

Fußnoten: 1 Mithilfe dieser Strategie besiegten die Vietnamesen die französische Kolonialmacht (Schlacht von Dien Bien Phu 1954) und später auch die Vereinigten Staaten. 2 Maulana ist der in Zentralasien und auf dem indischen Subkontinent gebräuchliche Titel für einen muslimischen religiösen Würdenträger. 3 Die überlieferten Aussprüche und Handlungen des Propheten (Hadith) bilden ein wichtiges Element des Islams. 4 Der Ägypter Essa und der Libyer al-Libi sind radikale islamistische Theologen. 5 Dawn (Karatschi), Online-Ausgabe, 27. September 2008. 6 The Financial Times, 12. August 2008. 7 Die Führung dieser religiösen Institution, in der 7 000 Männer und Frauen zu Korangelehrten ausgebildet wurden, hatte sich wiederholt zu al-Qaida und den Taliban bekannt. 8 Siehe Syed Saleem Shahzad, „Al Qaida gegen die Taliban“, Le Monde diplomatique, Juli 2007. 9 Siehe dazu Jean-Luc Racine, „Le plus dur reste à faire“, 27. Februar 2008, www.monde-diplomatique. fr/carnet/2008-02-27-Pakistan.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Syed Saleem Shahzad leitet das pakistanische Büro von Asia Times Online.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2008, von Syed Saleem Shahzad