10.10.2008

Völkerrechtsfreie Räume

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Völkerrechtsfreie Räume

Kosovo, Südossetien und Abchasien sind so souverän, wie andere Staaten sie haben wollen von Bruno Coppieters

Im Februar dieses Jahres haben die USA und die meisten EU-Staaten die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt. Im August erfolgte die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch Russland. Beide Vorgänge signalisieren eine grundsätzliche Veränderung in den zwischenstaatlichen Beziehungen.

Die bislang übliche Praxis der friedlichen Koexistenz beruhte darauf, dass bestimmte Prinzipien respektiert werden, allen voran die Achtung der territorialen Integrität. Wenn nun Gebiete, die sich für selbstständig erklärt haben, gegen den Willen der Zentralregierung als souveräne Staaten anerkannt werden, bedeutet das eine Destabilisierung von Vielvölkerstaaten, in denen starke Autonomie- oder Unabhängigkeitsbewegungen aktiv sind.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden bekanntlich einige internationale Grenzen neu gezogen. Aber selbst während des Kalten Krieges versuchten die Großmächte nie, die Konfrontation durch die Schaffung neuer Staaten zu verschärfen. Natürlich haben die Sowjetunion und die USA die Entkolonialisierung nach Kräften unterstützt. Und natürlich haben sie in Bürgerkriegsländern die jeweils amtierende Regierung nicht unbedingt als legitim anerkannt. Doch das führte nie zur Teilung existierender Staaten, wie das heute bei Serbien und Georgien der Fall ist.

Ein Gegenbeispiel ist Bangladesch. Das ehemalige Ostpakistan wurde auf seinem Weg in die Unabhängigkeit 1971 von der Sowjetunion und vor allem von Indien unterstützt. Doch schon gut zwei Jahre später hat auch die pakistanische Regierung den neuen Staat anerkannt. Für das Kosovo wie für Abchasien und Südossetien scheint eine so rasche Normalisierung ausgeschlossen.

In den drei aktuellen Fällen läuft die Anerkennung durch andere Staaten einem der wichtigsten Prinzipien der internationalen Ordnung zuwider: dem Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes. Die ausschließliche Hoheitsgewalt eines Staates über sein Staatsgebiet ist konstitutiv für unser heutiges Verständnis von staatlicher Souveränität.

Im Fall Kosovo hatte der UN-Sicherheitsrat die staatliche Autorität Serbiens nach der Nato-Intervention von 1999 durch eine internationale Übergangsverwaltung ersetzt. Dies erfolgte jedoch noch im Einklang mit der UN-Charta, womit die territoriale Integrität Serbiens zumindest formell nicht infrage gestellt war. Das wurde sie erst neun Jahre später durch die Anerkennung der Souveränität des Kosovo, die den UN-Sicherheitsrat vor vollendete Tatsachen stellte, genau wie ein paar Monate später im Fall Abchasien und Südossetien.

Dabei kann sich keiner der drei neuen Staaten auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen: Die einschlägigen internationalen Vereinbarungen der 1960er-Jahre beziehen sich ausschließlich auf Kolonien oder Territorien unter fremder Besatzung. Und in den Verfassungen Jugoslawiens und der Sowjetunion war zwar den Teilrepubliken – wie Kroatien oder Georgien – ein Sezessionsrecht eingeräumt, nicht aber territoriale Untereinheiten wie eben Kosovo, Abchasien oder Südossetien.

Im Übrigen haben die westlichen Regierungen, die für die Unabhängigkeit des Kosovo waren, stets von einem Einzelfall gesprochen. Angeblich sollte damit weder eine neue politische Doktrin gestiftet noch ein völkerrechtlicher Präzedenzfall geschaffen werden. Diese Haltung lässt ihnen freie Hand im Umgang mit anderen Sezessionskonflikten. Und sie gestattet gegenüber EU-Ländern wie Spanien oder Zypern, die mit ähnlichen Konflikten zu tun haben, die beruhigende Versicherung, dass die Politik in der Kosovo-Frage keine unliebsamen Rückwirkungen für sie haben wird.

Die russische Regierung hat diese Haltung verurteilt und betont, dass die Voreingenommenheit mancher westlicher Länder deren Politik in anderen Weltregionen widerspreche und Auswirkungen auf die abtrünnigen Regionen Georgiens haben werde. Bei der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens Ende August dieses Jahres erinnerte sie an das Recht jedes souveränen Staates, andere Staaten anzuerkennen. Und sie verwies mit einer Reihe von Argumenten auf die Besonderheiten der Situation in Abchasien und Südossetien. Weiter ging Moskau nicht, und zwar mit Bedacht. Denn auch im Kreml weiß man, wie riskant es wäre, eine neue Doktrin zu verkünden, die auf andere Gebiete – insbesondere im Nordkaukasus – anwendbar wäre.

Jeder will über die Anwendung der Prinzipien allein befinden

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Großmächte angesichts der Probleme, die durch diese drei mehr oder weniger souveränen Einheiten entstanden sind, noch einmal ins Grübeln kommen und sogar einen Modus vivendi finden, allerdings ohne damit die Frage der Souveränität zu regeln. Denn es bleiben wichtige Fragen zu lösen, von denen die künftige Stabilität abhängt: die Sicherung der neuen Grenzen, die Integration der Minderheiten und die Rückkehr der vertriebenen Bevölkerung.

Ein Kompromiss über den internationalen Status dieser Gebiete erscheint dagegen als extrem schwierig. Und er würde sowohl das eingespielte Bündnis zwischen Russland und Serbien als auch das zwischen einzelnen Westmächten und Georgien belasten. Hinzu kommt, dass er wohl zu einer weiteren Aufteilung dieser Gebiete nach ethnischen Kriterien führen würde.

Inzwischen hat die Autorität des Völkerrechts Schaden genommen, der UN-Sicherheitsrat wurde geschwächt, und eine Reform ist nicht in Sicht. Ungeachtet dessen berufen sich beide Seiten – in ihrer politischen Rhetorik wie in ihrer Praxis – auf bestimmte Prinzipien. Über deren Anwendung will jedoch jede Seite allein entscheiden, wobei die vorgebrachten normativen Argumente stets nur der Rechtfertigung der eigenen, „exzeptionellen“ Entscheidung dienen. Um diese Argumente würdigen zu können, wollen wir uns auf die sechs Prinzipien der traditionellen „Lehre vom gerechten Krieg“ beziehen.1

Das erste Prinzip taucht in den Erklärungen der westlichen wie der russischen Seite gleichermaßen auf: Die Sezession muss einer „gerechten Sache“ dienen. Anders gesagt, das Unrecht muss so eklatant sein, dass es eine einseitige Unabhängigkeitserklärung akzeptabel macht. In diesem Sinne diente die Vertreibung von fast 700 000 Kosovo-Albanern vor und während des Konflikts zwischen der Nato und Serbien 1999 dem Westen als Begründung, Belgrad auf immer das Recht auf die Herrschaft über die abtrünnige Provinz abzusprechen. Auf das gleiche Prinzip stützt sich die russische Regierung, wenn sie Tiflis des Genozids am südossetischen Volk bezichtigt. Auch die jeweiligen Gegenspieler argumentieren mit Bezug auf eine „gerechte Sache“. Sowohl Belgrad als auch Tiflis werfen den Führungen der Sezessionsgebiete ethnische Säuberungen und Verfolgung der serbischen beziehungsweise georgischen Bevölkerung vor.

Bei derartigen Kriegen haben Worte eine große Bedeutung. Die russische Regierung rechtfertigte die Anerkennung Südossetiens unter hemmungsloser Ausschlachtung des Begriffs Genozid. Die georgische Regierung wiederum übertrieb, um ihrer Sache mehr Dringlichkeit zu verleihen, die Zahl der Flüchtlinge aus Abchasien ins Maßlose: Laut Präsident Michail Saakaschwili gibt es eine halbe Million Flüchtlinge; das entspräche etwa der gesamten Einwohnerzahl Abchasiens vor dem Krieg von 1992 bis 1993.2

Das zweite hier herangezogene Prinzip verlangt, dass bei den betreffenden Entscheidungen nur „gerechte Absichten“ ausschlaggebend sein dürfen. Regierungen, die sich auf dieses Prinzip berufen, versuchen der Welt zu beweisen, dass es ihnen um die Verfolgung einer gerechten Sache geht. Gleichzeitig unterstellen sie dem Gegner geheime Absichten, die der von ihm nach außen vertretenen gerechten Sache zuwiderlaufen. So wird Moskau vorgeworfen, es verteidige Abchasien und Südossetien nur, um seine Hegemonialinteressen im Südkaukasus durchzusetzen. Umgekehrt bezichtigt Russland die USA, durch die Aufrüstung Georgiens in Wirklichkeit ihre eigene Militärpräsenz in der Region verstärken zu wollen.

Drittens soll die einseitige Unabhängigkeitserklärung das letzte Mittel oder die Ultima Ratio sein. Alle Möglichkeiten, eine Einigung mit der Zentralregierung zu erzielen, müssen zuvor ausgeschöpft worden, alle Versuche erfolglos geblieben sein. Der UN-Sondergesandte Martti Ahtisaari betonte in seinem Plädoyer für eine überwachte Souveränität des Kosovo im März 2007 ausdrücklich, ihm sei „klar geworden, dass die Parteien nicht in der Lage sind, sich über den künftigen Status des Kosovo zu einigen“3 . Auch der russische Präsident Dmitri Medwedjew verwies auf die langen und unfruchtbaren Verhandlungen, die seinem Entschluss zur diplomatischen Anerkennung der von Georgien abgespaltenen Gebiete vorausgegangen seien.

Das vierte Prinzip besagt, jede Unabhängigkeitserklärung müsse von einer „legitimen Autorität“ anerkannt werden. Sofern die Abspaltung im Einvernehmen mit der Zentralregierung geschieht, ist das natürlich kein Problem. Und wenn nicht? Welche Instanz kann sich dann zur „legitimen Autorität“ aufschwingen und die Souveränität des neuen Staates anerkennen?

Staatliche Anerkennung je nach Nutzen

Als Belgrad hart blieb, hofften die Befürworter eines unabhängigen Kosovo, der UN-Sicherheitsrat würde eine „überwachte (supervised) Souveränität“ verfügen. Doch dieser Versuch ist am Widerstand Russlands und Chinas gescheitert. Daraufhin maßten sich die Anerkennungswilligen das Recht an, die Entscheidung als souveräne Staaten und ohne Zustimmung einer anderen Autorität zu fällen.

Das fünfte Prinzip besteht in der „begründeten Hoffnung auf Erfolg“. Das heißt in der Aussicht, dass ein großer Teil, wenn nicht gar die Gesamtheit der internationalen Gemeinschaft über kurz oder lang den neuen Staat ebenfalls anerkennen werde. Für das Kosovo muss man wohl feststellen, dass hier der Wunsch der Vater des Gedankens war. Die Befürworter der Anerkennung gingen schlicht davon aus, dass allein schon das Gewicht der USA und der wichtigsten EU-Länder für die rasche Integration des Kosovo in die Staatengemeinschaft sorgen werde. Doch der Prozess stagniert: Mitte September 2008, sieben Monate nach der Unabhängigkeitserklärung, haben erst 47 der 192 Mitgliedstaaten der UNO das Kosovo als souveränen Staat anerkannt.

Russland beschloss die Anerkennung der beiden Sezessionsgebiete im Alleingang. Dabei ging Moskau offenbar davon aus, die Entscheidung eines einzigen Staates sei hinreichend, um diese Territorien zu völkerrechtlichen Subjekten zu machen. Nach russischem Verständnis sind Abchasien und Südossetien künftig rechtlich mit Georgien gleichgestellt – und damit befugt, die Stationierung russischer Truppen auf ihrem Territorium zu genehmigen. Dieser veränderte Status wird nur von Moskau akzeptiert, aber das reicht aus, um den Verhandlungen mit Tiflis einen neuen formellen Rahmen zu verleihen.

Das sechste Handlungsprinzip ist „Verhältnismäßigkeit der Mittel“. Auch hier erweisen sich die drei Fälle als gleichermaßen problematisch. In der Vergangenheit schätzten die Großmächte den Nutzen einer unilateralen Anerkennung weit niedriger ein als den Preis, den sie dafür – vor allem langfristig – zu entrichten hätten.

Im Fall des Kosovo hingegen betonte der Westen die erhofften Vorteile und insbesondere die Stabilisierung des Landes. Und er warnte, im Falle der Nichtanerkennung würden die nationalistischen Kosovo-Albaner ihrem Zorn in gewalttätigen Demonstrationen Luft machen, mit dramatischen Konsequenzen für die serbische Minderheit und die Nachbarstaaten. Diese Gefahr, so das Argument, lasse sich nur durch die überwachte Souveränität abwenden. Dieser neue Status würden auch ausländische Investitionen erleichtern und dem Kosovo erlauben, den internationalen Organisationen beizutreten.

Die Gegner dieser Lösung machten die umgekehrte Rechnung und verwiesen vor allem auf die Kosten. Als Erstes nannten sie dabei die Ermutigung von Unabhängigkeitsbewegungen in aller Welt. Diesen Preis hielten etliche Länder für unvergleichlich höher als die möglichen Vorteile, weshalb sie die Unabhängigkeit des Kosovo letztlich nicht unterstützten.

Auch in den russischen Diskussionen ging es im Kern um die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Der Kreml wollte zum einen nicht international isoliert dastehen und zum anderen im eigenen Land keine Debatte über das Recht auf Unabhängigkeit lostreten, obwohl derzeit keine unmittelbare Sezessionsgefahr besteht. Der Kaukasuskrieg im August hat klare Verhältnisse geschaffen. Aus Moskauer Sicht beendet die Aufteilung Georgiens allen Streitereien über den völkerrechtlichen Status Abchasiens und Südossetiens wie auch über die Notwendigkeit internationaler Friedenstruppen auf deren Territorien.

Kosovo, Abchasien und Südossetien haben sich zu souveränen Staaten erklärt. An der Frage ihrer Anerkennung scheiden sich die Geister der internationalen Gemeinschaft. Deren Mitglieder sind sich dennoch über die Prinzipien einig, die das Entstehen eines neuen Staates rechtfertigen oder verbieten. Damit sprechen sie – immerhin – noch eine gemeinsame Sprache. Aber das ist angesichts der neu entstandenen Probleme nur ein schwacher Trost.

Fußnoten: 1 Vgl. Bruno Coppieters und Nick Fotion (Hg.), „Moral Constraints on War: Principles and Cases“, Lanham, Maryland (Lexington Books) 2008, S. 237–259. 2 Interview mit Michail Saakaschwili vom 20. Februar 2008, dokumentiert in: Georgia News Digest, 21. Februar 2008, www.gfsis.org/pub/eng/digest.php. 3 Brief des Generalsekretärs an den Präsidenten des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, Conseil de sécurité, S/2007/168, S. 2, www.unosek.org/ docref/rapport-francais.pdf.

Aus dem Französischen von Grete Osterwald

Bruno Coppieters ist Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Brüssel und (mit Robert Legvold) Herausgeber von „Statehood and Security. Georgia after the Rose Revolution“, Cambridge, Massachusetts (MIT Press) 2005.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2008, von Bruno Coppieters