14.02.2003

Wie Bettler auf einer Goldader

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Wie Bettler auf einer Goldader

ANFANG Januar tagte in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba das zweite Afrikanische Sozialforum. Die Delegierten aus den sozialen Bewegungen vieler Länder Afrikas formulierten eine gemeinsame Kritik an der Globalisierung. Sie forderten, nach panafrikanischen Grundwerten zu suchen und eigene demokratische Formen zu entwickeln.

Von ANNE-CÉCILE ROBERT

Noch hat Afrika keine Stimme, um in der großen Globalisierungsdebatte mitzureden. „Wann werden wir endlich den Mund aufmachen? Und wann wird man uns anhören?“, fragte ein Landwirt aus dem Kongo am Rande des zweiten Afrikanischen Sozialforums in Addis Abeba.

Seine Schwierigkeiten, überhaupt an dieser Veranstaltung teilzunehmen, waren charakteristisch für das Unternehmen, das aus dem Weltsozialforum in Porto Alegre entstanden ist.1 Von dem Kongress erfuhr der Mann aus dem Kongo durch eine E-Mail seines Bauernverbandes – die ihn über einen Verteiler in Paris erreichte, was wieder einmal zeigt, dass noch immer alles über die Nord-Süd-Achse läuft. Schon der Zustand der Infrastruktur erschwert die Entwicklung einer afrikaweiten sozialen Bewegung: Es war reiner Zufall, dass die Einladungs-Mail zwischen zwei Stromausfällen ankam. Manche Delegierte brauchten drei Tage, um in die äthiopische Hauptstadt zu gelangen. Die Straßen sind schlecht und die innerafrikanischen Flugverbindungen unzuverlässig.

Dennoch kamen 250 Vertreter von Bauern-, Arbeiter- und Künstlerverbänden aus 43 Ländern, einige auch aus Kriegsgebieten. Sie wollten nach Auswegen aus der Globalisierungsfalle suchen und der Vision eines „anderen Afrika“ Gestalt verleihen. Ohne den unablässigen Einsatz der Nichtregierungsorganisation Enda, die vom Senegal aus länderübergreifend arbeitet, und ohne das Engagement der Globalisierungskritikerin Aminata Traoré aus Mali hätte das Forum niemals finanziert werden können.2 Dennoch gab es eine Vielzahl von Aktivisten, die nichts von dem Treffen wussten oder die Reise nach Äthiopien nicht bezahlen konnten. Für Veranstalter wie Delegierte gehörte es deswegen zu den wichtigsten Aufgaben, das Forum und seine Anliegen besser bekannt zu machen und für künftige Treffen mehr Geld aufzutreiben.3

Die Gruppen wollen sich vor allem gegen die Wirtschaftspolitik wehren, die überall auf dem Kontinent zur Destabilisierung der Staaten und zur Ausbreitung von Elend und Krieg geführt haben. „Das Sozialforum soll dazu beitragen, dass sich die Zivilgesellschaft zu einer Gegenmacht entwickelt“, meint Taouffik Ben Abdallah von der NGO Enda. „Es geht darum, dort Druck zu machen, wo die Regeln für das Spiel der Kräfte in Afrika festgelegt werden.“ Darüber hinaus müssten sich die Bewohner des Kontinents das Recht zurückerobern, für sich selbst zu sprechen und das Wort gegen eine „internationale Gemeinschaft“ zu erheben, die von mächtigen, nichtafrikanischen Nationen bestimmt wird.

Das bedeutet auch, gegen eine kulturelle und wirtschaftliche Ausbeutung anzukämpfen, die einst von den Kolonialmächten eingeführt und längst zum Instrument afrikanischer Machteliten geworden ist. Die führenden Schichten hätten sich auf einen „teuflischen neoliberalen Konsens“ eingelassen, fürchtet Aminata Traoré. In der Tat leisten viele Führungskräfte ihren Beitrag zur ökonomischen Herrschaft der internationalen Kreditgeber über Afrika, indem sie sich deren Bedingungen widerstandslos fügen.

Diese Mitglieder der Führungsschicht haben in der Regel an Universitäten im Westen studiert, wo sie sich häufiger aufhalten als in ihren Heimatländern – internationale Tagungsorte sind ihnen vertrauter als die soziale Wirklichkeit daheim. Einige Staatsführer wirken eifrig an der Ausplünderung ihrer Länder mit: Die Staatspräsidenten Abdoulaye Wade aus dem Senegal, Thabo Mbeki aus Südafrika, Abdelaziz Bouteflika aus Algerien und Olusegun Obasanjo aus Nigeria propagieren das Wirtschaftsprogramm „Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung“ (Nepad). Zu dessen Zielen gehört auch ein „Zuwachs an Auslandsinvestitionen“ – mit anderen Worten: Der Export der natürlichen Ressourcen Afrikas soll fortgesetzt werden, während die Bevölkerung immer weiter im Elend versinkt. „Unsere Führer leisten nicht genug Widerstand“, meint Aminata Traoré. „Man hat sie einer Gehirnwäsche unterzogen.“

In der Schlussresolution des Afrikanischen Sozialforums heißt es, dass die neoliberalen Konzepte für Afrika genauso wenig taugen wie jene Staatsführer. Durch Kampagnen für eine Gegenöffentlichkeit und alternative politische und wirtschaftliche Debatten sollen sie „umerzogen“ werden. Und man fordert finanzielle Entschädigung: nicht für die Versklavung, wie manche afroamerikanischen Organisationen, sondern für die Folgen der von außen auferlegten Strukturanpassung und der Überschuldung. Doch wer nimmt solche Forderungen aus Afrika schon ernst?

Die Machtverhältnisse in Afrika bewirkten auch, dass einige afrikanische Organisationen es nicht wagten, am Sozialforum teilzunehmen. Sie sind auf die Unterstützung durch internationale Institutionen oder Hilfsorganisationen angewiesen und befürchteten Sanktionen. Obwohl voll guter Absicht, schadet also die Entwicklungshilfe ihren Empfängern, wenn sie ihnen den Mund verbietet und sie auf importierte Sichtweisen und Maßnahmen verpflichtet. Dies solle nicht länger hingenommen werden, erklärt die Abgesandte Rabiaa aus Algerien: „Wir müssen unsere eigenen Fragen entwickeln und damit aufhören, über die Vorgaben von anderen zu diskutieren.“

Die zivilgesellschaftlichen Organisationen Afrikas sehen sich zunehmend von Machthabern und internationalen Geldgebern umworben, die sich öffentliche Legitimierung verschaffen wollen. Letztlich geht es aber immer nur um eines: Alle sollen sich den Vorgaben der Weltwirtschaft unterwerfen. „Man sollte sich also vor einem ‚Konsens der NGOs‘ hüten“, meint ein Delegierter aus Südafrika. „Das wäre das Gleiche wie der Washington-Konsens der Industrieländer.“4

Solidarität, ein einzigartiger Erfahrungsschatz

DIE Bandbreite der Kritik an den Programmen der internationalen Geldgeber war in Addis Abeba enorm. So sehen die Frauenverbände ihre häufig sehr erfolgreiche lokale Wirtschaftsförderung bedroht. Die Vergabe von Kleinkrediten unterdrückt traditionelle Formen der sozialen Absicherung. An die Stelle der althergebrachten Solidarität und gegenseitigen Hilfe tritt ein staatliches Kreditsystem, was nicht selten mit Wucherzinsen einhergeht. Nicht genug, dass die Frauen die Last der wirtschaftlichen und sozialen Verantwortung in den Familien zu tragen haben, sie können auf diese Weise auch noch in die Überschuldung geraten. „Und am Ende werden sie uns an die Leine legen“, empörte sich Fatou Sarr, eine Delegierte aus dem Senegal.

Auch sehr radikale Analysen stießen auf Zustimmung: Jede noch so geringe Beteiligung am internationalen System – und bestünde es nur in der Annahme von Hilfsleistungen – bedeute letztlich, sich der Fremdbestimmung zu unterwerfen und Konzepte zu akzeptieren, die auf die Eingliederung in den Weltmarkt hinauslaufen und die Bedürfnisse und Besonderheiten einer Gesellschaft ignoriert. Ein Künstler aus Mali formuliert das Dilemma: „Man will uns dazu bringen, unsere Eltern zu verraten. Unsere Tradition lehrt uns, zu teilen und an die Gemeinschaft zu denken – aber nun sollen wir unsere Muttersprache vergessen und nur noch auf den eigenen Vorteil sehen. Wir stellen wundervolle Stoffe her, aber man erwartet von uns, dass wir uns nach der westlichen Mode kleiden. Afrika hat viele fruchtbare Landstriche, und die Bauern wollen sie nur zu gern bestellen, aber wir sollen uns von importierten Lebensmitteln ernähren.“

„Wir haben uns genug Denkverbote gefallen lassen“, meint Rabiaa. Und Gisèle aus Kenia pflichtet ihr bei: „Wir müssen uns wieder auf die alten Werte beziehen, um die richtigen Lösungen für unsere Probleme zu finden.“ Für sie heißt das allerdings nicht, dass alles so sein soll wie früher – vor allem bei den Rechten der Frauen dürfe es keine Rückschritte geben. Die Besinnung auf die kulturellen Traditionen, die Abkehr von der Imitation westlicher Gebräuche braucht ihre Zeit – das zeigt sich auch in Addis Abeba, wo die Mitglieder des Sozialforums nur selten in afrikanischen Gewändern auftraten.

Doch die kollektive Entdeckung des afrikanischen Bewusstseins basiert auf einer soliden Grundlage. Der Kontinent ist reich an Bodenschätzen und natürlichen Ressourcen. „Wir sind wie Bettler, die auf einer Goldader sitzen“, sagt ein anderer Delegierter. Die Ausbeutung dieser Ressourcen liegt überwiegend in der Hand lokaler Machthaber und ausländischer Konzerne. Allein die katastrophale soziale Lage Afrikas verwickelt die internationalen Investoren in Widersprüche, weil sie den Kontinent im Namen der segensreichen Auslandsinvestitionen ruinieren. Am bequemsten wäre ihnen wohl ein menschenleerer Kontinent. Der senegalesische Schriftsteller Boubacar Boris Diop hat dazu resigniert festgestellt, es gebe in manchen Kreisen den „Traum von einem Afrika ohne Afrikaner“.

Taouffik Ben Abdallah von der NGO Enda fragt dagegen: „Wie können wir neues Selbstvertrauen gewinnen?“ Das in den 1960er-Jahren mühsam erlangte Selbstbewusstsein der Afrikaner, bei dem die Philosophie der Négritude5 eine wichtige Rolle spielte, ist durch wirtschaftlichen Niedergang, Überschuldung und Kriege zunichte gemacht worden. „Wir sind heute schlechter dran als zur Zeit der Unabhängigkeitserklärungen“, meint er. Dass die Proklamation neuer Staaten in Afrika keinen Fortschritt bedeutete, weil die wirtschaftliche Macht der Kolonialherren bestehen blieb, war jedem der Delegierten in Addis Abbeba klar. Alle afrikanischen Führer, die sich gegen diese Entwicklung sperrten – wie etwa in den 1960er-Jahren Patrice Lumumba im Kongo, in den 1970ern Amilcar Cabral in Guinea-Bissao oder in den 1980er-Jahren Thomas Sankara in Burkina Faso – wurden beseitigt. Und an der Liquidierung Lumumbas waren nicht nur käufliche Politiker wie Joseph Mobutu beteiligt,6 sondern auch ausländische Mächte.

„Nur durch die Verarbeitung unserer Geschichte der Unfreiheit und mit der Rückkehr zu den panafrikanischen Grundwerten können wir neues Selbstvertrauen gewinnen“, erklärt ein junger Delegierter aus Kenia. Und er übt deutliche Kritik an der Elterngeneration, die „einfach nur abgewartet“ habe. Andererseits weiß er, dass die heutige Jugend in Afrika, auf der alle Hoffnungen ruhen, „auch nur vom Westen träumt. Man hat ihnen eingeredet, dass es für sie im eigenen Land keine Zukunft gibt“. Vor allem dürfe man Afrika nicht nur unter dem Aspekt der ungelösten Probleme – Hungersnöte, Kriege, Aids – betrachten. Diese Sichtweise sei Teil der „Herrschaftsstrategie des Nordens“ und verhindere die Rückbesinnung des Kontinents auf seine Geschichte und Kultur.

Aminata Traoré glaubt, dass eine radikale Umorientierung innerhalb der wirtschaftlichen Strategien ohne eine kritische Bestandsaufnahme der eigenen Vorstellungswelt nicht zu machen ist.7 „Nur weil wir so leicht zu täuschen waren, konnte man uns so hinters Licht führen“, erklärt sie kategorisch. Solange Afrika im Zustand der Unterwerfung und kulturellen Kolonisierung verharrt, wird es zerstritten und politisch bedeutungslos bleiben. „Innerhalb der Zivilgesellschaft und der sozialen Bewegungen müssen wir unsere eigenen Formen von Demokratie entwickeln“, meint Taouffik Ben Abdallah von Enda. „Seit der Ära der Unabhängigkeitsbewegungen hatte das Volk nichts mehr zu sagen. Das muss anders werden, damit wir endlich als Afrikaner mit einer Stimme sprechen.“

Zu den Reichtümern Afrikas gehört auch seine Geschichte, aus der die übrige Welt viel lernen könnte. Für Thanduxolo, einen Delegierten aus Pretoria, ist Afrika in Fragen der Globalisierung „sehr kompetent“: „Wir haben jahrhundertealte Erfahrungen mit Welthandel und Globalisierung: Kolonisierung, Versklavung, transatlatischer Menschenhandel …“ Und Dot Keets, Delegierte aus Simbabwe, ist überzeugt davon, dass die Ausbeutung, das Elend und die Abwanderung der Intelligenz aus Afrika „die wahre Natur der neuen Weltordnung ans Licht bringt. Hier müssen wir ansetzen.“ Rabiaa aus Algerien sieht dagegen eher die positive Seite: „Was Solidarität unter den Menschen angeht, verfügt Afrika über einen einzigartigen Erfahrungsschatz.“

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 Das erste Afrikanische Sozialforum fand 2001 in Bamako (Mali) statt. 2 Die Finanzierung wurde vor allem durch die „Coopération française“ und NGOs wie Oxfam gesichert. 3 Siehe www.enda.sn. 4 „Washington-Konsens“: Angesichts der lateinamerikanischen Schuldenkrise kamen die US-Regierung, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) Ende der 1980er-Jahre überein, die Entwicklungshemmnisse in den Ländern der Dritten Welt durch marktpolitische Maßnahmen zu beseitigen. 5 „Négritude“: Vom Dichter und Staatsmann Léopold S. Senghor (1906–2001, ab 1960 erster Präsident des unabhängigen Senegal) entwickelte Philosophie, die die Würde der Afrikaner betont und von vielen Intellektuellen als befreiend empfunden wurde. Das Konzept ist bis heute umstritten, weil Senghor seine enge Bindung an die französischer Kultur bewahrte. 6 Siehe dazu Colette Braeckman, „Lumumba, un crime d‘Etat“, Brüssel (Aden) 2002. 7 Siehe dazu Aminata Traoré, „Le Viol de l‘imaginaire“, Paris (Fayard) 2002.

Le Monde diplomatique vom 14.02.2003, von ANNE-CÉCILE ROBERT