14.02.2003

Visum für Mekka

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Visum für Mekka

DIE Pilgerreise nach Mekka, die Hadsch, führt in diesem Jahr bis zu zwei Millionen Muslime an die zentralen Orte ihres Glaubens und ihrer Riten: vor die Kaaba in der Großen Moschee, an die Säule, die den Satan verkörpert, und in die Arafat-Ebene. Hier versammelt sich die Umma, die „Nation“ des Propheten. Weltliches soll dort keinen Platz haben – und erst recht nicht die Macht des saudischen Königshauses in Frage stellen. Ausweiskontrollen, 2 000 Kameras und die ständige Überwachung durch Hubschrauber sollen Proteste und Anschläge verhindern. Wer zu weit geht, riskiert die Todesstrafe.

Von SLIMANE ZEGHIDOUR *

Fünfmal am Tag ziehen Muslime in allen fünf Erdteilen ihre Schuhe aus, waschen sich die Füße, legen den Gebetsteppich auf den Boden und lassen sich auf die Knie nieder, nach Mekka gewandt. Von Djakarta über Delhi, Karatschi, Taschkent, Grosny, Sarajevo und Paris bis hin nach Buenos Aires besitzt jede noch so bescheidene Moschee einen Mihrab, eine Nische, die in Richtung der Metropole der Umma weist, der Gemeinschaft der Gläubigen, der „Mutter-Nation“ des Propheten.

In diese Richtung liegen auch die Toten begraben, während sich die Lebenden, wo immer es sei im „Haus des Islam“, dieser einzigen Stadt der Welt zuwenden, in der es von Gräbern keine Spur mehr gibt. Rigoros haben die Saudis mit dem architektonischen Erbe des Heiligen Landes reinen Tisch gemacht. Nur in Medina blieb ein Grab erhalten, versteckt hinter einem dichten silbernen Gitter: das Mausoleum des Propheten.

Das Gebet der Gläubigen, die Ausrichtung der Moschee, des Friedhofs und des Schlachthauses – denn das Fleisch des Tieres ist nur dann genießbar, wenn es in Richtung auf den „Nabel der Welt“ geschlachtet wurde –, das tägliche Leben der Umma kreist um den Fixstern Mekka. In dessen Zentrum steht die Kaaba, der „Würfel“, mitten im Hof der Großen Moschee. Das Haus Gottes, der Tempel der Menschheit, mit schwarzem Brokat umhüllt. In der südlichen Ecke befindet sich der Stein der Glückseligkeit, ein schwarzer Meteorit, groß wie ein Laib Bauernbrot. Die Seelenspeise – wer dieses Stück Eden berührt oder küsst, wird von allem Schmutz befreit.

Ein Traum, in Mekka zu beten, vor allem aber eine Pflicht jedes Gläubigen, der imstande ist, sie zu erfüllen. Die Hadsch stellt die fünfte und letzte „Säule“ des Islam dar, die schwierigste der fünf Grundpflichten nach dem Glaubensbekenntnis, dem täglichen Gebet, dem Fasten im Monat Ramadan und der Wohltätigkeit. Nach der Scharia reicht es nicht, dass der Gläubige volljährig ist, gesund an Leib und Seele und mit genug Geld ausgestattet. Auch die Straße muss sicher sein, er darf kein Land durchqueren, das sich mit dem Heimatland des Pilgers im Krieg befindet.

Das 20. Jahrhundert hat der Hadsch arg zugesetzt. Die marxistische Bleiglocke, die sich über das russische Reich, China, Albanien und Jugoslawien gesenkt hatte, die Gründung des Staates Israel und der Boykott Südafrikas haben fast 100 Millionen Gläubige um ihre Wallfahrt gebracht. Erst als der Eiserne Vorhang gefallen, die Apartheid abgeschafft und Verhandlungen mit Israel aufgenommen waren, konnte Mekka wieder zum Ziel der gesamten Familie des Islam werden.

Dank der modernen Verkehrsmittel Schiff, Auto und Flugzeug hat sich die Gesamtzahl der Pilger binnen hundert Jahren von 15 000 auf 1 500 000 Teilnehmer pro Jahr erhöht. Man stelle sich vor, die gesamte Einwohnerschaft des Großraums Marseille auf den Beinen, acht Tage lang durch Sand- und Geröllwüsten marschierend, oft bei 45 Grad im Schatten!

Der kollektive Charakter der Hadsch – eine Jahresversammlung der Umma, der „Nation“ Mohammeds – macht sie zu einem internationalen Ereignis. Jeder Herrscher, von den Kalifen der Omaijaden-Dynastie in Damaskus bis zum saudischen König Fahd, wollte bestallter Schutzherr der Hadsch sein, Garant einer „sicheren“ Pilgerfahrt für alle. Doch Mekka kann nicht alle zugleich aufnehmen. Die Organisation ist eine ständige Herausforderung für das saudische Königshaus. Wie kann man diese Massen bewältigen, sie kanalisieren, beherbergen, ernähren, versorgen, wie ein ganzes Volk in Obhut nehmen?

Um das Problem zu lösen, hat Riad seit 1988 für jedes Land eine Quote festgelegt: pro tausend Einwohner ein Visum. So empfängt Mekka jedes Jahr eine Million von einer Milliarde Gläubigen, plus eine halbe Million, für die es keine Einreisebeschränkung gibt, weil sie von der arabischen Halbinsel stammen.1 Auch Europa, China, die USA und Israel bleiben vom spirituellen Numerus clausus verschont. 1978 hat der Judenstaat, in dem sich jeder fünfte Bürger auf den Islam beruft, einen Kompromiss mit dem wahabitischen Königreich geschlossen. Der Wallfahrtskandidat trägt sich beim Obersten Muslimischen Rat von Ostjerusalem in die Anmeldeliste ein und wird dann mit einem Sonderbus nach Jordanien gebracht, wo Amman ihm einen Passierschein für das Heilige Land ausstellt, der seine wahre Staatsbürgerschaft verheimlicht. Mit rund 900 000 Gläubigen dürften die muslimischen Araber Israels im Prinzip nicht mehr als 900 Visa bekommen. In Wirklichkeit erhalten sie mühelos das Dreifache. Strenger geht es für die islamischen Länder der ehemaligen Sowjetunion zu: Die muslimischen Gemeinschaften Zentralasiens und Russlands bekommen nur die Quote, die ihnen zusteht.

Die Hadsch findet regelmäßig vom 8. bis 13. Tag des „Pilgermonats“ Dhul al-Hijra statt, der das Mondjahr beschließt. Der muslimische Tag beginnt wie der jüdische mit dem Sonnenuntergang, der Monat mit dem Aufgang des Mondes. Das Hadsch-Visum garantiert nur den Zutritt zum Heiligen Bezirk, der den Nichtmuslimen verboten ist und sich von Mekka bis Medina erstreckt. Die Einreise muss über Dschidda erfolgen, die Hafenstadt, benannt nach Eva, der „Urmutter“ der Menschheit.

Zu den Kosten für Flug und Unterkunft kommen die 2 500 Euro für das Visum und 300 Euro Hadsch-Steuer, die das saudische Königreich für das Bereitstellen der Infrastruktur kassiert. Die Hadsch ist eine teure Angelegenheit. Dafür weiß der „Gast Allahs“ aber schon vor der Abreise genau, wo er wohnen, welchen Bus er nehmen, welcher Gruppe er sich anschließen wird. Ein in vierzig Sprachen gedruckter Pilgerführer klärt den Besucher auf, dass er sich unter Androhung drakonischer Strafen, die von der Ausweisung bis zur Todesstrafe reichen, jeglicher Kritik an diesem oder jenem Staat zu enthalten hat, dass er keine Polemik entfachen, kein Plakat ausstellen, keine politischen Parolen rufen darf.

Man wird gebeten, seine Meinungen, Vorurteile und Leidenschaften an der Garderobe abzugeben, genau wie die weltlichen Kleider. Dafür sind alle Vorkehrungen getroffen. Eine „Pilgerstadt“ mit futuristischer Architektur aus Stahlrohren und Zeltdächern, die an tanzende Derwische erinnern, bietet jedem die Möglichkeit, zu duschen, die obligatorischen Waschungen vorzunehmen und die Wallfahrtskleidung anzulegen: Den Ihram, das „heilige“ Pilgergewand, das, aus roher Baumwolle gewebt, schneeweiß und ohne Naht, aus einem Hüfttuch und einem über die linke Schulter geschlungenen Schal besteht. So vorbereitet tritt der von Gott Geladene in den Weihezustand ein. Von nun an darf er keine Geschäfte machen und nicht streiten, er darf keinen Geschlechtsverkehr haben, nicht jagen, kein Tier töten, nicht einmal eine Fliege, keine Pflanze antasten. Er muss sich lösen von dieser Welt, um den Duft der anderen aufnehmen zu können.

Dann springt Allahs Gast für die einstündige Autobahnfahrt in einen Pilgerbus – mit Ziel Mekka, die Ehrwürdige Stadt, die „Mutter aller Städte“, die Wiege des Propheten. Der Bus gleitet durch malvenfarbene Hügel, die wie rostige Helme anmuten. Dazwischen riesige Werbeplakate, im Wechsel mit Aufrufen zum Gebet: Mitsubishi, Philips, „Allah sorgt für alles!“, Sony, Lipton, Sofitel, „Gelobt sei Gott!“. Und dann ein McDonald‘s am Eingang zur Metropole des Islam, der Geburtsstadt Mohammeds, des Hauses Gottes!

Mekka – endlich. Nicht nur der McDonald‘s-Laden sorgt dafür, dass man nicht vergisst, in welchem Jahrhundert man lebt. Mekka ist ein alles verschlingendes Amerika, bis an den Rand der Großen Moschee. Gegenüber der Kaaba steht ein Hotel am anderen, samt Hilton und Intercontinental. Dazu ein Meer von Leuchtreklame für Breitling, Hollywood, Chevrolet, Kentucky Fried Chicken. Wen wundert es? Die Hadsch war immer ein beliebter Umschlagplatz des Welthandels, schon seit der Antike. Im Gegensatz zu Jesus hat Mohammed die Händler nie aus dem Tempel vertrieben, zumal er selbst vor der Ehe mit seiner Arbeitgeberin, der reichen Kaufmannswitwe Khadija, als Führer einer Händlerkarawane tätig war. Der Handel gilt hierzulande als so ehrbare Tätigkeit, dass ein Volksglaube beschwört, den Auserwählten werde im Paradies jede Woche ein Tag im Souk gewährt, an dem jeder sein Bedürfnis, auf dem Markt zu handeln und zu feilschen, stillen könne.

Die Kaaba – Leitstern der Gottesfurcht. Unter dem Ansturm der Menschenmenge steht der Würfel, umhüllt von der Kiswah, dem weiten Überwurf aus schwarzem Brokat, bestickt mit Gold- und Silberfäden. „Da bin ich, Herr, vor Deinem Angesicht, da bin ich!“, ruft der Pilger, und vom Strudel der Umma erfasst, umschreitet er siebenmal das Haus Gottes. Die Sanduhr der Hadsch beginnt zu laufen.

Anderntags im Morgengrauen setzt sich der Strom der Gäste Allahs in Bewegung, ein unbeschreibliches Gedränge von Autobussen, Karren, Ambulanzen und Fußgängern, über deren Köpfen eine Staffel Hubschrauber des Zivilschutzes kreist. Ziel ist die Ebene Arafat südlich der Heiligen Stätte, mitten in der Wüste. Arafat, die flüchtige Stadt: Sie zählt bis zu zwei Millionen Einwohner und währt doch nur einen Tag. Bis zum Horizont erstrecken sich endlose Reihen feuerfest gemachter Zelte, inmitten der von Überführungen überspannten Autobahnen, und überall die Flaggen von allen fünf Kontinenten, Gerüche von Curry, aufgebackenem Brot und Schweiß, eine erdrückende Hitze und am Himmel wieder die Hubschrauber, die das Getümmel kontrollieren, Ausschau halten nach dem geringsten Brandherd, dem leisesten Zeichen von Unruhe.

Am nächsten Tag: Halt vor der Mulde mit zerriebenem Sand, an der Stelle, wo Adam nach dem Sündenfall Eva erkannt haben soll. Arafat heißt „erkennen“. Unter einem Archipel schützender Zelte wird ohne Rast und Ruhe gebetet. Ein gigantisches Pfadfindertreffen, bei dem alle, weiß gekleidet, eine einzige Familie bilden, ob Indonesier oder Maghrebiner, konvertierter Franzose oder rekonvertierter Albaner, Weißer oder Schwarzer, Behinderter oder Athlet, Emir oder Müllfeger. Dieses Miteinander in Demut und glühender Verehrung bildet den Höhepunkt der Hadsch.

Am Abend löst die Umma ihr Lager wieder auf. Der Zug tritt den Rückweg nach Mekka an. Eine Station noch im Tal von Muzdalifa, um eine Handvoll Steine zu sammeln, die dann gegen die drei Steinsäulen des Satans geschleudert werden. Und der letzte Halt in der Schlucht von Mina. Zum Gedenken an Abraham schlachtet der Pilger ein Schaf. Ausgerichtet auf die Heilige Stadt, feiert die muslimische Welt diesen Tag der Opferung, das so genannte Große Fest des Schafs.

Die Hadsch soll den Pilger an den Ursprung der Schöpfung, des Menschen und des Glaubens zurückführen. Außer der Erinnerung an Adam und Eva, die ursprünglichen Gründer der Kaaba, bringt die Tradition auch Abraham mit dem Bauwerk in Verbindung. Er soll Hebron verlassen haben, um gemeinsam mit seinem ältesten, von Sarah verstoßenen Sohn Ismael den in Ruinen fallenden Tempel von Mekka wieder aufzubauen und die Hadsch zu eröffnen. Daher das Schlachtopfer in der Schlucht von Mina, wo Abraham – anders, als es die Genesis erzählt – versucht habe, nicht Isaak, sondern Ismail, den biblischen Stammvater der Araber, zu opfern. Mekka, das Alpha und Omega des Islam.

dt. Grete Osterwald

* Reporter bei La Vie; Autor u. a. von „La Vie quotidienne à La Mecque, de Mahomet à nos jours“, Paris (Hachette) 1989.

Fußnote: 1 Die „längste Reise“ ist nicht mit Gold aufzuwiegen, aber sie hat ihren Preis: 2 500 Euro pro Person. Außer dem Flugticket und den Visagebühren fällt eine Hadsch-Steuer von etwa 300 Euro an, die das saudische Königreich für Erleichterungen und Dienstleistungen vor Ort erhebt. Und schließlich kommt die Unterbringung bei jeder Etappe der Pilgerfahrt hinzu. Ehe der „Gast Allahs“ von zu Hause aufbricht, weiß er schon, bei wem er wohnen wird, welchen Bus er nehmen und welcher Gruppe er sich anschließen muss. Diese Vorsorge wird umso lieber akzeptiert, als sie in einem so exponierten Gastland wie Saudi-Arabien dem doppelten Imperativ von Bequemlichkeit und Sicherheit entspricht. In Zukunft werden Pilgerfahrten nur noch als Gruppenreisen angeboten, organisiert durch eine von Riad anerkannte Agentur, die vor Ort über einen offiziellen Vertreter verfügt.

Le Monde diplomatique vom 14.02.2003, von SLIMANE ZEGHIDOUR