Am Ende des bewaffneten Pluralismus
IM Vorfeld der Parlamentswahlen am 27. April 2003 bilden sich im politischen System des Jemen die pluralistischen Ansätze zurück. Das Land scheint sich wieder dem demokratischen Niveau der anderen arabischen Staaten anzunähern. Das Regime greift immer öfter auf autoritäre Methoden zurück, um die islamistische Opposition in Schach zu halten. Die war zwar lange Zeit mit Präsident Ali Abdallah Saleh verbündet, aber der ist durch den „Krieg gegen den Terror“ unter den Druck Washingtons geraten. Trotz einiger Irritationen scheint die Regierung Bush entschlossen, das Regime in Sanaa weiter zu unterstützen.
Von FRANÇOIS BURGAT *
Um zu verstehen, was bei den nächsten Parlamentswahlen im Jemen auf dem Spiel steht, muss man sich den letzten Urnengang ins Gedächtnis rufen. Bei den ersten Wahlen nach der Wiedervereinigung von Nord- und Südjemen 1993 standen sich vor allem drei große politische Kräfte gegenüber: die beiden ehemaligen Einheitsparteien – der Allgemeine Volkskongress des Nordens und die Sozialistische Partei des Südens – sowie die Jemenitische Vereinigung für Reformen (Islah)1 , die sich mit dem Volkskongress verbündete. Für ihre Unterstützung des Regimes erhielt die Islah gleich 62 Parlamentssitze (gegenüber 56 für die Sozialisten) und „durfte“ sechs Minister stellen. Eine Zeit lang galt der Jemen fast als Modell für einen arabischen Weg zur Demokratie.
Dabei handelte es sich jedoch um einen „bewaffneten“ Pluralismus, denn jede Partei durfte ihre eigenen Truppen behalten. Diese Vereinbarung sollte das fragile Miteinander der ungleichen Partner garantieren. Bis Mai 1994 beruhte der Zusammenhalt der 3 Millionen Südjemeniten und 12 Millionen Nordjemeniten also zum einen auf dem militärischen Gleichgewicht, zum anderen auf der Modernisierung der Institutionen. Mit den Parlamentswahlen vom April 1997, die mit einer Niederlage der sozialistischen „Sezessionisten“ des Südens endeten, hatte sich die Situation von Grund auf gewandelt. Da Präsident Ali Abdallah Saleh jetzt keine Verbündeten mehr gegen die Sozialisten nötig hatte, sicherte er sich wie zu Zeiten der Einheitspartei die absolute Mehrheit der Parlamentssitze und besetzte praktisch alle Ministerposten mit seinen Leuten.
Die fünfte Wiederwahl Salehs am 23. September 1999 mit 96,3 Prozent der Stimmen – nach insgesamt 20 Jahren im Amt –, bedeutete das Ende aller demokratischen Tendenzen. Der „erste demokratisch gewählte Präsident“ dieser „einzigen Republik auf der arabischen Halbinsel“ ließ nur einen einzige Herausforderer zu, und den wählte er auch noch aus den eigenen Reihen aus. Der Pluralismus schrumpfte wieder auf eine Einparteienherrschaft. Jetzt herrschten im Jemen wieder ähnliche Verhältnisse wie in den meisten Ländern der arabischen Welt, von Ägypten über die „Erbrepublik“ Syrien bis hin zum Irak. Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch den Druck Washingtons, das den Jemen zu einem grundlegenden Umbau der Bündnisstruktur nötigte, auf der das politische Gleichgewicht des Landes lange Zeit beruht hatte.
In der Tat war das Regime seit vielen Jahren mit den Islamisten verbündet. Bereits 1948 hatte der Algerier Fudhayl Wartilani (Abgesandter des Gründers der Muslimbruderschaft, Hassan al-Bann) bei dem ersten Versuch mitgemischt, das ultrakonservative Regime des zaiditischen Imam Hamid al-Din zu destabilisieren. Im Laufe des Bürgerkriegs 1962–1970, der dem Sturz der Monarchie folgte, schlossen sich die Stämme – sozusagen der bewaffnete Arm des Imamats – dem republikanischen Lager an. Treibende Kraft bei diesem Bündnis waren militante, den Muslimbrüdern nahe stehende Islamisten.2
Seit er 1978 erstmals an die Macht gekommen war, arbeitete Präsident Saleh immer wieder mit verschiedenen (durchaus auch radikalen) Fraktionen der islamistischen Bewegung zusammen, um seine Gegner – zaiditische Exroyalisten, proägyptische Nasser-Anhänger und südjemenitische Sozialisten – in Schach zu halten. Die bemerkenswerte Alchemie, die das politische Gleichgewicht des Landes so lange garantierte, verkörpert am ehesten eine Persönlichkeit wie Scheich Abdallah al-Ahmar. Da er mit den Stimmen der Regierungspartei regelmäßig zum Parlamentsvorsitzenden gewählt wurde, sicherte der zweite Mann im Staat dem Regime die Unterstützung des wichtigsten Stammesverbands der Haschiden und der führenden islamistischen „Oppositionspartei“ Islah (denen er beiden vorstand). Obwohl der Scheich 1997 aus der Regierung hinauskomplimentiert wurde, unterstützten die Islah-Abgeordneten, die sich als gemäßigte Oppositionspartei etabliert hatten, seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen von 1999.
Doch kaum wiedergewählt, machte der Staatspräsident Anstalten, den Druck auf die Opposition zu verstärken. Die andauernden Konflikte mit dem Parlamentspräsidenten beeinträchtigten die Zusammenarbeit. Doch wer soll diese historische Figur beerben, die als Scharnier zwischen Regime, Stammesverbänden und Islamisten lange Zeit eine singuläre Persönlichkeit war und bis zu einem gewissen Grad auch die Stabilität des Landes garantierte? Das ist die entscheidende Frage für die weitere innenpolitische Entwicklung.
Die innenpolitische Konstellation wurde durch Entwicklungen auf internationaler und regionaler Ebene beeinflusst. Als die Regierung in Sanaa ihre Streitigkeiten mit Saudi-Arabien beilegte, büßten das islamistische Lager und die mit ihm verbündeten nördlichen Stämme zumindest einen Teil der gewohnten saudischen Finanzhilfe ein. Gleichzeitig forderten die USA verstärkte Anstrengungen zur Durchsetzung von Law and Order und gewährten den Sondereinsatzkräften, die dem Sohn des Staatspräsidenten unterstehen, die nötige technische Unterstützung. Angesichts dessen ist kaum verwunderlich, dass sich die Staatsführung ermutigt fühlte, dem islamistischen Lager unter Leitung von Parlamentspräsident Abdallah Hussein al-Ahmar die Flügel zu stutzen.
Die Wahlen zu den Gemeinde- und Regionalräten, die nach der Verabschiedung eines zaghaft formulierten Dezentralisierungsgesetzes im Februar 2000 stattfanden, verliefen zwar tumultös, führten aber immerhin zu pluralistisch zusammengesetzten Gemeinde- und Regionalräten. Aber auch hier schreckte die Staatspartei nicht vor gravierenden Regelverstößen zurück, um ihre Macht – vor allem gegenüber der Islah – zu behaupten. Auch die im Februar 2001 durch ein Referendum abgesegnete dritte Verfassungsreform lag ganz auf dieser Linie. Der Konsultationsrat wurde zur zweiten Kammer (Madschlis al-Schura) aufgewertet, die Amtszeit des Präsidenten von fünf auf sieben Jahre verlängert. Damit endet Salehs Mandat erst im Jahr 2004. Dann wird Ahmed Saleh, einer der Söhne des Präsidenten, das Mindestalter von 40 Jahren erreicht haben und als Nachfolger seines Vaters kandidieren.
Schon im Jahr 2003 war der Islah die Leitung der als „wissenschaftliche Institute“ bezeichneten Lehranstalten entzogen worden. Nach dem 11. September 2001 strich die Staatsführung die Stipendien der ausländischen Studenten an der Universität al-Iman; da auch ihre Visa nicht verlängert wurden, mussten hunderte Studenten das Land verlassen. Die staatliche Offensive nahm nicht nur den radikalen Parteiflügel aufs Korn, der unter dem Einfluss von Scheich Abdelmadschid al-Zandani steht. Aus einem Zwischenfall am 24. Oktober 2002 entwickelte sich auch eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der Polizei und der Garde des Parlamentspräsidenten, in der dessen Sohn schwer verletzt wurde. Zudem wurden die Wahlen zu den universitären Gremien angefochten, die Oppositionspresse wurde mit juristischen Klagen überzogen und ein sehr restriktives Versammlungsgesetz verabschiedet.
Das politische Klima verschärfte sich schlagartig als die Nummer zwei der sozialistischen Opposition, Jarallah Omar, bei der Eröffnungssitzung des dritten Parteitags der Islah am 28. Dezember 2002 ermordet wurde. Die Umstände der Tat sind noch immer ungeklärt, doch die Regierung beeilte sich, den Attentäter als Anhänger der Islah hinzustellen. Allerdings hatte Omar gerade einen flammenden Aufruf für ein gemeinsames Vorgehen von Sozialisten und Islah gegen die „Korruption“ des Regimes gehalten und dessen Angriffe auf die Grundrechte kritisiert. Wer immer für den Mord verantwortlich sein mag, der Vorgang zeigt jedenfalls, dass sich das Bündnis der Präsidenten-Partei mit der Islah überlebt hat, das immerhin eine Zeit lang relativ stabile innenpolitische Verhältnisse garantiert hatte.
Im Kampf gegen seine ehemaligen islamistischen Verbündeten – deren gemäßigter Flügel um den Direktor der politischen Abteilung Mohamed Qahtane und Generalsekretär Mohamed al-Yadoumi selbst westliche Kreise kaum noch nervös macht – stützt sich das Regime nicht nur auf seine früheren sozialistischen Gegner, deren Führung nach Jahren des Exils wieder einreisen durfte. Sie versucht auch nun ihrerseits in religiösen Gewässern zu fischen. So hat sie den salafistischen Erben des strenggläubigen Scheich Maouqbil al-Wadi‘i gewisse Zugeständnisse gemacht, um mit ihrer Hilfe der Islah einen Teil ihrer Wählerschaft abzujagen. Und die Zaiditen, die offenbar aus ihrem Schmollwinkel hervorkommen, werden ihre Stimme ebenso eindeutig der Regierungspartei geben, wie die Sufis der großen Bruderschaften im Süden und in der Küstenebene. In jedem Fall wird das Regime mit allen erdenklichen Mitteln zu verhindern suchen, dass die islamistischen Herausforderer im Parlament ihre wahre Macht demonstrieren können.
Außenpolitisch ist es dem Jemen gelungen, den „Fehler“ von 1990 wiedergutzumachen (damals hatte man Saddam Hussein unterstützt), die Beziehungen zu Kuwait im Mai 1999 zu normalisieren und sich mit dem Sultanat Oman über den genauen Grenzverlauf zu einigen. Der langjährige Grenzkonflikt mit Saudi-Arabien3 wurde mit dem Abkommen von Jeddah am 12. Juni 2000 beigelegt. Im Austausch gegen einen Gebietsstreifen, unter dem ganz sicher Erdölvorkommen liegen, verzichtet Sanaa fortan auf die beiden Provinzen, die Imam Yahya dem Land mit dem Abkommen von Taif 1934 überlassen hatte. Die realpolitische Linie der jemenitischen Diplomatie zeigt damit erste Erfolge. Im Konflikt mit Erithrea um die Hanischinseln hat Sanaa den Internationalen Gerichtshof in Den Haag angerufen, der die Inseln im Oktober 1998 dem Jemen zugesprochen hat. Im Somaliakonflikt hat Sanaa im Dezember 2000 erfolgreich vermittelt.
Eine Rundreise des Staatschefs durch zahlreiche Länder erhöhte die internationale Reputation des Landes, und 1998 wurden sogar diplomatische Beziehungen zwischen Sanaa und dem Vatikan aufgenommen. Die Beziehungen zu Frankreich sind trotz der schmerzlichen „Limburg“-Episode4 vertrauensvoll; der Jemen wird seit einiger Zeit als „Zone de solidarité prioritaire“ eingestuft und darf daher erheblich mehr bilaterale Hilfe und verstärkte Zusammenarbeit erwarten.
Die außenpolitische Öffnung und die Normalisierungspolitik ermöglichen zwei bedeutende Erfolge: Das Treffen mit US-Präsident Bill Clinton am 4. April 2000, womit der Jemen wieder in den Schoß der „gesellschaftsfähigen“ Staaten aufgenommen wurde; und den Beitritt zum Golf-Kooperationsrat im Januar 2002, wo der Jemen allerdings vorerst nur Beobachterstatus hat. Allerdings kommt es immer wieder zu Spannungen in den amerikanisch-jemenitischen Beziehungen. So hat Sanaa seit dem Beginn der zweiten Intifada Ende September 2000 einen schärferen Ton angeschlagen und zeigt sich in Fragen der Sicherheitszusammenarbeit wieder zurückhaltend. Auch die Liquidierung von sechs mutmaßlichen al-Qaida-Mitgliedern auf jemenitischem Territorium durch eine US-Drohne am 3. November 2002, oder die Ermorderung dreier amerikanischer Missionare am 31. Dezember vorigen Jahres haben die Stimmung getrübt. Dennoch zeigt sich Washington entschlossen, auf eine Stärkung des jemenitischen Regimes zu setzen.
dt. Bodo Schulze
* Mitarbeiter des Centre français d‘archéologie et de sciences sociales (CNRS) de Sanaa. Autor des Buches „L‘Islamisme en face“, Paris (La Découverte) 2002.