14.02.2003

Das Militär demütigt seine Regierung

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Das Militär demütigt seine Regierung

NORDZYPERN bleibt unter der Herrschaft Ankaras, statt in die EU aufgenommen zu werden. US-Soldaten dürfen über die Türkei in den Irak einmarschieren, was die neue, islamisch geprägte Regierung gegenüber ihrem Wahlvolk in Verlegenheit bringt. Die alte Führungsschicht im Staat und in der Armee definiert weiterhin die nationale Souveränität und bestimmt die regionale Machtpolitik. Der EU-Perspektive stehen die kemalistischen Traditionalisten mit großer Skepsis gegenüber. Denn die erforderlichen Reformen würden ihre Macht bedrohen und sie zwingen, das Primat des Militärischen über das Politische aufzugeben.

Von NIELS KADRITZKE

Recep Tayyip Erdogan machte George W. Bush einen ungewöhnlichen Vorschlag: „Wenn die EU uns nicht akzeptiert, werden wir eine eigene Lösung finden. Ich habe Präsident Bush vorgeschlagen, uns in die Nafta aufzunehmen … Wir sind eine globale Nation.“1 Erdogans Idee, der Nordamerikanischen Freihandelszone beizutreten, verblüffte nicht nur den US-Präsidenten. Der Führer der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), der nach seinem Wahlsieg am 3. November 2002 als türkischer Ministerpräsident im Wartestand gilt, brachte seine Nafta-Bewerbung ausgerechnet vor dem EU-Erweiterungsgipfel von Kopenhagen vor. Damit griff er auf einen vertrauten Topos türkischer Außenpolitik zurück: Das Land, das Europa mit Asien verbindet, sieht sich nicht nur geografisch zwischen Ost und West angesiedelt, sondern auch in der Lage, zwischen Europa und den USA zu wählen – und damit die einen gegen die anderen auszuspielen.

Unwahrscheinlich aber, dass Ankara seinen EU-Beitritt durch Fürsprache aus Washington erreichen kann. „Im Endeffekt hat der transatlantische Druck das Gegenteil bewirkt“, lautete der Tenor der Berichte über den heikelsten Punkt des Kopenhagener Gipfels.2 Die EU war in einer ureigenen Angelegenheit nicht bereit, den Kellner zu spielen, der ein von den USA angerichtetes Mahl serviert – schon gar nicht, wenn der Kellner die Rechnung für den türkischen Gast zu zahlen hat.

Der Druck aus Washington trug dazu bei, dass Ankara vom EU-Gipfel nur den Termin für ein spätes Rendezvous erhielt: Ende 2004 wird die Brüsseler Kommission entscheiden, ob die politischen Reformen in der Türkei ausreichen, um Beitrittsverhandlungen zu eröffnen. Damit erfüllte sich der dringlichste Wunsch von AKP-Chef Erdogan und Ministerpräsident Abdullah Gül nicht. Sie wollten eine Entscheidung vor Mai 2004, denn danach wird die EU 25 Staaten umfassen, und alle 25 können ein Veto gegen die Türkei einlegen. Ankara befürchtet, dass die Vorbehalte gegen den islamischen Beitrittskandidaten unter den neuen EU-Mitgliedern noch stärker sein könnten als unter den alten.

Nach Kopenhagen versicherte die neue türkische Regierung klugerweise, sie werde die Zeit bis 2004 nutzen, um ihr Land rechtlich, institutionell und wirtschaftlich europareif zu machen. Erdogans Aussage, man brauche die Reformen nicht um der EU, sondern um der eigenen Demokratie willen, hat die Glaubwürdigkeit der türkischen EU-Bewerbung in Brüssel und anderen Hauptstädten deutlich erhöht. Die Europapolitik der Türkei steht damit vor ihrer entscheidenden Phase. Doch die europäisch orientierten politischen Kräfte werden im eigenen Lande noch einigen Widerstand überwinden müssen.

Das hat drei Gründe. Erstens haben es diese Kräfte und die neue Regierung mit einer fest etablierten kemalistischen Führungsschicht zu tun. Sie beruht auf dem Nationalismus des Staatsgründers Kemal Atatürk und hat sich noch nicht zu einer ehrlichen Orientierung auf die EU durchgerungen. Zweitens ist die Beitrittsproblematik seit dem letzten EU-Gipfel noch enger mit der Zypern-Frage verknüpft, die von der kemalistischen Elite – zumal vom Militär – als Problem der nationalen Sicherheit angesehen wird. Und drittens wird sich die Türkei am Irakkrieg beteiligen, was die Rolle der Armee als „strategischer Partner“ der Supermacht USA aufwertet. Dass Washington die Türkei wegen ihrer Unentbehrlichkeit für den Aufbau einer „zweiten Front“ im Nordirak umwirbt, unterstützt also die euroskeptischen Tendenzen innerhalb der militärischen Klasse und der kemalistischen Elite.

Die enge Verflechtung dieser außenpolitischen Probleme macht der unerfahrenen AKP zu schaffen. Denn der Irakkrieg beschert der neuen, islamisch geprägten Regierung einen heiklen Popularitätstest. Ihre Wähler sind noch deutlicher gegen eine türkische Kriegsbeteiligung als die Gesamtbevölkerung. Zwar zeigt sich auch das Militär skeptisch, denn der drohende Zerfall des Irak könnte einen Kurdenstaat freisetzen. Das will Ankara unbedingt verhindern, weil man das Wiederaufleben separatistischer Kräfte in den eigenen Kurdengebieten befürchtet. Aber nachdem sich die militärische Führung mit den USA geeinigt hat, dass die kurdischen Gebiete von US-Truppen besetzt werden und die Ölregion um Mossul und Kirkuk nicht unter kurdische Kontrolle fallen wird, ist für Ankara die Gefahr eines Kurdenstaates gebannt. Jetzt will der Generalstab nicht nur US-Truppen über die Türkei in den Nordirak durchlassen, sondern auch türkische Truppen mitschicken – als Garantie für die Einhaltung der Zusagen aus Washington.3

Die Entscheidung für eine türkische Beteiligung, die Ende Januar im Nationalen Sicherheitsrat (MGK) fiel, ist vom kemalistischen Establishment durchgesetzt worden. „Das Militär und die Bürokratie des Außenministeriums haben ihre Aufgabe abgeschlossen und die Basis für jede Art Zusammenarbeit mit den Amerikanern geschaffen“, beschreibt ein Kommentator die Machtverhältnisse und fährt fort: „Jetzt ist es an der Regierung, eine Entscheidung im Parlament durchzusetzen, um das alles zu formalisieren.“4 Damit wird ausgerechnet die „islamische“ AKP zum Vollstrecker der Logik des alten Machtzentrums werden.

Die Armeeführung ist der zivilen Kontrolle entzogen

FÜR die alte Elite hat dies zwei erwünschte Nebeneffekte: Erstens muss die Regierung ihre Anhänger enttäuschen, zweitens verschärft die unpopuläre Entscheidung die Differenzen innerhalb der AKP-Führung, in der sich bereits die ersten Risse zeigen. Schon bald dürfte sich die Rollenverteilung zwischen dem „populistisch“ agierenden Parteiführer Erdogan und Ministerpräsident Abdullah Gül, der sich schon früh auf eine militärische Beteiligung festgelegt hat, zu einer echten Rivalität entwickeln.5

Die Entscheidung des MGK im Sinne des Militärs war freilich unvermeidlich. Sowohl die Interessen der Türkei im Nordirak als auch die ökonomische Abhängigkeit vom IWF ließen keinen Spielraum. Zudem sind die USA die einzige Macht, die das Land für kriegsbedingte ökonomische Einbußen entschädigen kann. Die Alternative war also nur: ökonomische Verluste, die auch ohne eigenen Kriegsbeitrag eintreten würden, weil der regionale Handel empfindlich gestört wird – oder finanzielle Kompensation für eine Rolle an der „nördlichen Front“, die das Land noch stärker zum „strategischen Partner“ der USA aufwertet.6

Im Zuge dieser Machtprobe setzte sich der militärisch-politische Kern auch in einer zweiten außenpolitischen Frage gegen die neue Regierung durch: in Sachen Zypern. Kurz nach dem Wahlsieg der AKP in der Türkei hatte UN-Generalsekretär Kofi Annan den stagnierenden Zypernverhandlungen wieder Schwung gegeben. Am 11. November 2002 präsentierte er einen kompletten Lösungsvorschlag für eine bizonale Föderation. Sie sollte den griechischen und türkischen Zyprioten den gemeinsamen EU-Beitritt ermöglichen. Zwar war es unrealistisch, diesen Plan noch vor dem EU-Gipfel im Dezember zu verabschieden, aber immerhin wurde er von beiden Seiten als Verhandlungsbasis akzeptiert: von den griechischen Zyprioten sofort, von Rauf Denktasch, dem Präsidenten des Protektorats namens „Turkish Republic of North Cyprus“ (TRNC), missmutig und nur unter Druck aus Ankara. Als Denktasch nach dem EU-Gipfel deutlich machte, dass er den Annan-Plan im Kern ablehnt, indem er ihn als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete, wurde es Erdogan zu bunt. Er kanzelte Denktasch als anachronistischen Politiker ab, der mit seiner starren Haltung die EU-Perspektive der Türkei beeinträchtige. Und nach der Entscheidung von Kopenhagen, die zunächst nur die Aufnahme des griechischen Südens bedeutet, gingen im Norden Zehntausende auf die Straße und demonstrierten unter der Europa-Fahne. Ihre Hauptparole lautete: Denktasch, unterschreib den Annan-Plan oder tritt zurück.

Vom eigenen Volk im Stich gelassen, ließ das Oberhaupt der TRNC verlauten, er werde nur dann zurücktreten, wenn Ankara ihm das Vertrauen entziehe. Die Demonstranten erklärte er für korrumpiert, weil sie sich für Euros ihr nationales Bewusstsein abkaufen ließen. Damit bekannte Denktasch ganz offen zweierlei: Erstens ist ihm die Meinung der türkischen Zyprioten egal, seine Loyalität gilt dem Souverän in Ankara. Zweitens zählt für ihn in Ankara nicht die neue Regierung, sondern das kemalistische Machtzentrum, das schon immer seine Stütze war. Und das nun seine Chance sah, Erdogan ein weiteres Mal in die Schranken zu weisen. Die Denktasch-Freunde in der kemalistischen Bürokratie und im Generalstab erklärten ganz offen: Selbst wenn es auf der Insel keine türkischen Zyprioten gäbe, müsste man die strategische Position vor der Küste Anatoliens halten. Der MGK bekräftigte Ende Januar, „dass das Zypernproblem zu wichtig ist, um nur als Problem der türkischen ‚Brüder‘ auf der Insel betrachtet zu werden. Es ist vielmehr essenziell und direkt mit der Sicherheit des türkischen Festlands verknüpft.“7

Erdogan wurde für seine Empfehlung, die Stimme des Volkes in Zypern ernst zu nehmen, offen abgestraft: Seine Auffassung, das Zypernproblem mit dem türkischen EU-Beitritt zu verbinden, sei falsch und gefährlich. Dagegen erhielt Denktasch volle Rückendeckung für seine Forderung nach Anerkennung der TRNC – eine klare Absage an den Annan-Plan, der für das EU-Mitglied Zypern eine einzige Souveränität vorsieht.

Das türkische Dogma von der strategischen Bedeutung der Insel ist so alt wie das Zypern-Problem. Dass es heute als Hauptargument gegen den Annan-Plan dient, hängt mit der Irakkrise zusammen. Über die Ablehnungsfront der Militärs gegen den UN-Plan schreibt Mehmed Ali Birand: „Sie glauben, dass sie wegen der Irak-Operation bessere Karten haben und irgendwann in Zukunft eine stärkere Verhandlungsposition haben werden.“8

Diese „verknöcherten Kräfte“, wie Birand sie nennt, werden nicht nur eine mögliche Zypern-Lösung verhindern, sondern eine doppelte politische Offensive starten: In Zypern gegen die aufsässigen türkischen Zyprioten, die sich mit ihrer EU-Begeisterung als schlechte Patrioten entlarvt haben. Und in der Türkei gegen Erdogan, der es gewagt hat, gegen das kemalistische Establishment aufzumucken. Türkische Beobachter sehen einen Machtkampf zwischen dem AKP-Führer und dem Militär. Den aber kann Erdogan nicht gewinnen, schon gar nicht, wenn ihm durch seinen Kurswechsel in Sachen Kriegsbeteiligung die populistische Aura abhanden kommt.

Der Irakkrieg stärkt also in Ankara den Kräften den Rücken, die immer wieder den türkischen EU-Kurs behindert und gebremst haben. Das ist kein Zufall, denn die weitestreichenden Reformen, die das Land auf dem Weg nach Europa bewältigen muss, würden zu Lasten des Militärs gehen. In den jährlichen EU-Fortschrittsberichten wird immer wieder betont, in Ankara müsse endlich das Primat der Politik über das Militär durchgesetzt werden.

Der Türkei-Experte Heinz Kramer beschreibt das Problem so: „Die demokratische Kontrolle des Militärs ist in der Türkei nur formal sichergestellt. In der Praxis bildet die Militärführung ein eigenständiges Entscheidungszentrum, das sich der zivilen Kontrolle weitgehend entzieht.“ Eine Reform müsste deshalb durchsetzen, dass der Generalstab dem Verteidigungsministerium untersteht und nicht umgekehrt. Nur so ließe sich „die absolute sicherheitspolitische Definitionsmacht der Militärführung“ überwinden.9 Nach Kramer ist die „Zivilisierung“ des politischen Systems allerdings eine Generationenaufgabe, weil die politische Wächterrolle des Militärs gesellschaftlich noch kaum in Frage gestellt wird. Das wird sich bis zum Europa-Rendezvous Ende 2004 nicht wesentlich ändern und droht zum größten Hindernis für eine EU-Perspektive zu werden.

Mit dem traditionellen Kemalismus ist die Idee einer „Europäisierung“ der Türkei schon aus zwei Gründen nicht vereinbar. Erstens war mit der „Westorientierung“ Atatürks keineswegs eine „Demokratisierung“ im westlichen Sinne gemeint.10 Und zweitens sperrt sich die nationalistisch aufgeladene Idee von Souveränität gegen die Zumutung eines Souveränitätsverzichts, den ein EU-Beitritt mit sich bringen würde. Das zeigt sich auch bei einem Projekt, das EU-Europa als geradezu identitätsstiftend empfindet: dem Internationalen Strafgerichtshof, der Völkermord und Kriegsverbrechen ahnden soll. Ankara hat den Gründungsvertrag nicht unterzeichnet, denn die Idee einer internationalen Gerichtsbarkeit ist der kemalistischen Elite ebenso verdächtig wie der politischen Führungsschicht in den USA.

Diese ideologische Eintracht mit der US-amerikanischen Hegemonialmacht, die den kemalistischen Machtkern besonders kennzeichnet, könnte die Türkei-skeptischen Kräfte in EU-Europa bestärken, den in Kopenhagen bewilligten Verlobungstermin doch noch zu überdenken. Um gegen diese Gefahr anzugehen, ist in der Türkei eine neue Aufbruchstimmung nötig, die weder kemalistisch noch islamisch, sondern europäisch geprägt ist. Denn auch nach einem Irakkrieg wird die Türkei an der Ägäis und nicht am Pazifik liegen. Und Millionen Türken werden in Europa leben und nicht in Kalifornien oder sonst irgendwo in der Nafta-Zone.

Fußnoten: 1 Reuters-Meldung vom 12. Dezember 2002. 2 To Vima (Athen), 13. Dezember 2002, International Herald Tribune (Paris), 13. und 14. Dezember 2002. 3 Hurriyet, 4. Februar 2003. 4 Ilnur Cevik, Turkish Daily News, 3. Februar 2003. 5 Gül war auch der Ansprechpartner für US-Vizepräsident Cheney (Anadolu-Meldung, 4. Februar 2003). 6 Jürgen Gottschlich, tageszeitung, und Turkish Daily News, beide vom 30. Dezember 2002. 7 Denktasch hat auch deshalb so starken Rückhalt in Ankara, weil alle Oberkommandierenden der türkischen Streitkräfte in Nordzypern anschließend in hohe Stellungen aufrückten, oft bis in den Generalstab. 8 Ali Birand, Turkish Daily News, 4. Februar 2003. 9 Heinz Kramer, „Die Türkei und die Kopenhagener Kriterien“, SWP-Studie (Stiftung Wissenschaft und Politik) Berlin, November 2002, S. 20 ff. 10 Zitiert sei der Atatürk-Satz: „Die Türkei ähnelt weder einer Demokratie noch dem Sozialismus. Sie ähnelt nichts, und darauf müssen wir stolz sein. Weil wir nur uns selber ähneln.“ (Zit. nach Muhittin Ataman, „Özal Leadership and Restructuring of Turkish Ethnic Policy in the 1980s“, Middle Eastern Studies, (Oktober 2002), S. 126.

Le Monde diplomatique vom 14.02.2003, von NIELS KADRITZKE