14.02.2003

Vier Jahre nach dem Kosovokrieg – der Solana-Staat zerfällt

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Vier Jahre nach dem Kosovokrieg – der Solana-Staat zerfällt

AM 4. Januar 2003 gegen 7 Uhr stoppen Unbekannte auf einer Durchgangsstraße in Pec (Peje, Pejë) ein Fahrzeug und eröffnen das Feuer auf die Insassen. Tahir Zemaj, sein Sohn und ein Vetter werden getötet. Der Mordanschlag von Pec, dem Zentrum des westlichen Kosovo, galt drei bekannten Aktivisten der Demokratischen Liga des Kosovo (LDK), der Partei des Präsidenten Ibrahim Rugova. Tahir Zemaj war ein Exkommandant der Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK), ursprünglich aber ein Angehöriger der Streitkräfte der Republik Kosovo (Fark), einer paramilitärischen Organisation, die 1998 der damalige „Exilpremierminister der Republik Kosovo“, Bujar Bukoshi, gegründet hatte. Die Fark waren ein Sammelbecken für die Anhänger Rugovas, mussten jedoch später mit der UÇK fusionieren. Deren Führung indes bestand aus Nationalisten, die durch die marxistisch-leninistische Schule albanischer Prägung gegangen und mit der LDK tief verfeindet waren.

Die Ermordung Zemajs ist nur der bislang letzte Fall in einer langen Reihe von Mordanschlägen. Ein regelrechtes Gemetzel hat die Reihen der LDK gelichtet, insbesondere in der Gegend von Pec und im westlichen Kosovo. Im Dezember 2002 war Zekaj als Zeuge im Prozess gegen die „Gruppe von Dukagjin“ aufgetreten – gegen fünf frühere UÇK-Kämpfer, die in das Kosovo-Schutzkorps (TMK) aufgenommen worden waren. Diese paramilitärische Einsatztruppe mit unklaren Kompetenzen wurde offiziell von der UN-Verwaltung ins Leben gerufen, um die soziale Wiedereingliederung der ehemaligen Guerilleros zu erleichtern. Die fünf Männer wurden des Mordes an vier Albanern für schuldig befunden, die wie Zekaj zum Umfeld der Fark gehörten. Der Bekannteste unter den Angeklagten ist kein geringerer als Daut Haradinaj, Bruder von Ramush Haradinaj, dem Chef der Allianz für die Zukunft des Kosovo (AAK), einer kleinen nationalistischen Partei, die bei allen Wahlen im Kosovo seit Einrichtung des Protektorats einen Stimmenanteil von etwa 8 Prozent erringen konnte.

Der 34-jährige Ramush Haradinaj, selbst ein ehemaliger UÇK-Führer für das Gebiet von Pec, Decani und Djakovica, hatte sich bereits in Frankreich und in der Schweiz ein ansehnliches Strafregister erworben. Kurzzeitig hatte er bei der Fremdenlegion angemustert, bevor er sich der UÇK anschloss. Dort tat er sich durch Aktionen von beispielloser Grausamkeit gegen serbische Zivilisten hervor. Unter allen ehemaligen UÇK-Führern hätte Ramush Haradinaj von einer Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag am meisten zu befürchten.

Gleichwohl ist es seiner Partei gelungen, ehemalige albanische Kommunistenführer aus der Provinz wie Mahmut Bakalli und einige Intellektuelle mit hohem Ansehen für sich zu gewinnen. Außerdem genoss die AAK zumindest bis 2001 die offene Unterstützung diplomatischer Kreise, insbesondere die der US-Amerikaner. Diese „dritte Kraft“, die sich bei den Wählern nie entscheidend durchsetzen konnte, war angetreten, auf einer politischen Bühne Fuß zu fassen, die dominiert wurde von der Konfrontation zwischen Rugovas LDK und der Demokratischen Partei des Kosovo (PDK) von Hashim Thaci, in der sich das Gros der ehemaligen UÇK-Kader zusammengefunden hatte. Daher genießt die AAK die Unterstützung einiger internationaler Beobachter, die sowohl von der Unbeweglichkeit und Vetternwirtschaft der LDK als auch von den mafiosen Umtrieben der PDK die Nase voll haben. Doch diese politische Zielsetzung dürfte gescheitert sein, wenn Haradinaj von seiner kriminellen Vergangenheit eingeholt werden sollte.

Das Kosovo hat im Vorfeld der Parlamentswahlen vom November 2001 eine lange politische Krise durchgemacht. Es brauchte mehrere Monate und drei Wahlgänge, bis die neue Volksvertretung der Region schließlich Ibrahim Rugova die Präsidentschaft des Kosovo übertragen konnte – eine im Wesentlichen protokollarische Funktion mit begrenzten politischen Kompetenzen. Der Kompromiss, auf den sich die beiden Machtblöcke am Ende geeinigt haben, bestand darin, im Gegenzug einem Führer der PDK, Bajram Rexhepi, den Posten des Premierministers zuzuteilen. Wenn diese Krise eines erwiesen hat, dann die groteske Mittelmäßigkeit einer politischen Klasse, die sich ausschließlich mit fruchtlosen Machtspielchen abgibt.

In der Konkurrenz zwischen LDK, PDK und AAK bietet nur das nationalistische Auf- und Übertrumpfen die Chance, sich zu profilieren und die Gunst der Wähler zu gewinnen. Diese Haltung könnte jedoch sehr schnell zu einem offenen Konflikt mit der internationalen Verwaltung der Provinz führen. Rada Trajković, die Sprecherin der serbischen Abgeordneten im Kosovo-Parlament, erwartet für das Frühjahr eine offene Konfrontation zwischen der albanischen Seite und den internationalen Vertretern.

Angesichts der festgefahrenen politischen Situation ist es höchst aufschlussreich, sich die Ziele in Erinnerung zu rufen, deretwegen sich die internationale Gemeinschaft zum militärischen Eingreifen in Jugoslawien entschlossen hatte. Das erklärte Ziel – der Repression und Gewalt gegen die albanische Bevölkerung ein Ende zu setzen – wurde von einem anderen, größeren politischen Ziel überschattet: den Sturz des Regimes von Slobodan Milošević zu beschleunigen. Die albanischen Nationalisten sahen jedoch in der westlichen Intervention eine Unterstützung der von ihnen angestrebten Unabhängigkeit des Kosovo.

Das Regime Milošević’ ist mittlerweile Vergangenheit. Der albanische Nationalismus ist also schon längst nicht mehr das Ass im Ärmel der westlichen Strategen. Vielmehr gilt er ihnen heute als destabilisierender Faktor für den gesamten Balkan. Die internationale Gemeinschaft ist sich daher einig, jeder Aussicht auf Unabhängigkeit eine Absage zu erteilen: Ein unabhängiges Kosovo, so die allgemeine Ansicht, wäre wirtschaftlich nicht lebensfähig und würde sich zu einem kleinen Mafiaparadies entwickeln. Außerdem dürfte ein selbstständiger Staat zum Fokus für den albanischen Irredentismus werden, der insbesondere in Mazedonien blüht.

Der kosovarische und der montenegrinische Nationalismus an der serbischen Peripherie sind für den Westen nachrangig geworden. Zugleich wächst auf Seiten der albanischen Führer und beim neuen montenegrinischen Ministerpräsidenten Milo Djukanović und seinen Anhängern das antiwestliche Ressentiment. Nicht ohne Grund haben sie das Gefühl, zuerst benutzt und dann ihrem Schicksal überlassen worden zu sein.

Die europäische Strategie auf dem Balkan lässt sich mittlerweile in einem einzigen Satz zusammenfassen: Zeit gewinnen. Die Diskussionen über den endgültigen Status des Kosovo sind auf unbestimmte Zeit verschoben. Innerhalb eines Jahres hat Javier Solanas, der Verantwortliche für die EU-Außenpolitik, eine provisorische Lösung durchgesetzt und die alte Bundesrepublik Jugoslawien durch die Union Serbien-Montenegro ersetzt. Die bundesstaatlichen Kompetenzen dieser Föderation sind aufs Äußerste reduziert; im Gegenzug musste Montenegro ein dreijähriges Moratorium akzeptieren, bevor es irgendein Referendum über die Frage seiner Selbstbestimmung in die Wege leiten kann.

In seiner Bilanz für 2002 hat der jugoslawische Außenminister Goran Svilanović von einem „verlorenen Jahr“ gesprochen. Tatsächlich hat die komplizierte Verfassungslage dazu beigetragen, jede Reformpolitik sowohl in Serbien als auch in Montenegro zu blockieren. Die Neuauflage des jugoslawischen Bundesstaates hat vor allem zum Ziel, eine denkbare Unabhängigkeit des Kosovo, wie sie mit dem Zerbrechen der föderativen Einheit von Serbien und Montenegro unausweichlich wäre, zunächst auf Eis zu legen. Nach der Vereinbarung über die Union werden nämlich die Rechte Jugoslawiens über das südliche Gebiet – das Kosovo – ausdrücklich an Serbien rückübertragen.

Die albanischen Führer haben äußerst negativ auf die Verhandlungen über den künftigen Staat reagiert. Sie waren von den Gesprächen vollkommen ausgeschlossen, zeigten sich aber auch nicht an einer Teilnahme interessiert. Die Maßgabe der westlichen Diplomaten ist jedoch unerbittlich. Gemäß der UN-Resolution 244 von 1999 ist und bleibt der Kosovo integraler Bestandteil der jugoslawischen Föderation, und die neue Union Serbien-Montenegro tritt deren Rechtsnachfolge an. Da das Kosovo aber eindeutig nicht zu Montenegro gehört, muss seine Zugehörigkeit zu Serbien bestätigt werden. Für den Fall eines Zerbrechens der Union ist ausdrücklich vorgesehen, dass das Kosovo unter serbische Oberhoheit fallen würde. Im November 2002 hat Bajram Rexhepi, der Premierminister der Provinz, damit gedroht, einseitig die Unabhängigkeit des Kosovo auszurufen, sollten die serbo-montenegrinischen Verfassungsverhandlungen zum Erfolg führen.

Der geisterhafte „Solana-Staat“, wie die Union Serbien-Montenegro von einigen getauft wurde, könnte also eine Konfrontation zwischen Kosovo-Albanern und der internationalen Gemeinschaft beschleunigen. Man kann nur den Kopf schütteln über so viel Unfähigkeit und mangelnde Voraussicht seitens der internationalen Politiker. Glaubt man im Ernst, man könnte, nachdem man dem albanischen Nationalismus erst die Zügel freigegeben hatte, danach ohne Reibereien zum Status quo ante zurückkehren? Die einzig Erfolg versprechende Alternative zu einer erneuten Konfrontation ist an zwei unerlässliche Voraussetzungen gebunden: erstens konkrete Vorstöße hinsichtlich einer Versöhnung der im Kosovo lebenden Volksgruppen und zweitens direkte Gespräche zwischen Belgrad und den albanischen Führern.

Die internationale Gemeinschaft hat doppelt versagt. Nicht nur waren die 40 000 im Kosovo stationierten Soldaten unfähig, der Gewalt gegen die nichtalbanische Bevölkerung des Kosovo Einhalt zu gebieten; auch die UN-Übergangsverwaltung des Kosovo (Unmik) hat ihr politisches Gewicht nie ernsthaft dazu genutzt, einen Dialog zwischen den Volksgruppen in Gang zu bringen. So konnte der Präsident des kosovarischen Parlaments, Nexhat Daci, den serbischen Abgeordneten untersagen, während der Sitzungen von „Kosovo und Metohija“ zu sprechen, ohne von internationaler Seite getadelt zu werden. Der Begriff Metohija steht für die alten Klostergüter und erinnert insofern an die serbisch-orthodoxe Vorherrschaft, aber „Kosovo und Metohija“ ist immerhin die offizielle Bezeichnung der Provinz. In Bosnien dagegen hat sich der UN-Hochkommissar noch ins kleinste Detail des politischen Lebens eingemischt!

Die wenigen Ansätze zum Dialog zwischen den albanischen Führern und Belgrad fanden stets in Drittländern statt, das letzte Mal im November 2002 bei einem Kolloquium zur albanischen Frage in Luzern. Doch nach seiner Rückkehr aus der Schweiz musste sich Rexhepi öffentlich dafür entschuldigen, dass er dem serbischen Vizepremier und Kosovo-Beauftragten, Nebojsa Cović, die Hand geschüttelt hat. Der im Übrigen dem albanischen Premier bei diesem Anlass die Entschuldigung Serbiens für die im Kosovo begangenen Gräuel übermittelte.

Dass die albanischen Führer heute auf die nationalistische Pauke hauen, statt eine politische Strategie zu entwickeln, ist gewiss auch auf die wiederholte Fahrlässigkeit der internationalen Gemeinschaft zurückzuführen. Da die Zukunft des Kosovo von den westlichen Diplomaten entschieden wird, sollten sie sich nicht auf demagogische Spielchen einlassen, sondern versuchen, einen Dialog zwischen Priština und Belgrad in Gang zu bringen, und zwar auch über die schwierigen Fragen. Im Übrigen kann das Kosovo-Parlament folgenlos die radikalsten Anträge verabschieden, denn seine Entscheidungen müssen vom Sonderbeauftragten des UNO-Generalsekretärs für das Kosovo, Michael Steiner, bestätigt werden. Und der kann nach eigenem Ermessen sein Veto einlegen.

Die in der UN-Resolution 244 versprochene „substanzielle Autonomie“ schafft unter dem Strich zu einer pseudokolonialen Situation, die mittelfristig völlig unhaltbar ist. Die Justiz funktioniert nur sporadisch,1 der öffentliche Sektor liegt brach, und die Arbeit der UN-Mission wird trotz des couragierten Einsatzes einiger Administratoren durch Korruption untergraben.2 Ein bekannter Journalist fasst die Situation wie folgt zusammen: „Statt Elektrizität liefert man uns Generatoren, und Gleiches gilt für die Justiz: Sie liefern uns kein Recht, sondern nur die Struktur, die sie ermöglichen soll. Aber punktuelle politische Aktionen reichen nicht aus.“

In den ersten Jahren nach dem Krieg konnte der oft chaotische Wiederaufbau, der keine Rücksicht auf die Umwelt und das historische Erbe nahm, manche Leute täuschen. Tatsächlich aber ist die Region wirtschaftlich völlig ausgeblutet, und der Exodus Richtung Westen ist für viele Jugendliche die einzige Perspektive. Unter diesen Umständen ist verständlich, dass sowohl die serbische wie die albanische Bevölkerung noch immer für radikale Töne empfänglich sind.

Alles in allem ist das Kosovo im Jahre 2003 ein ganz ähnliches Pulverfass wie noch 1999. Der einzige Unterschied ist, dass die internationale Gemeinschaft heute unmittelbar in die Krise verwickelt ist. Wobei sie sich freilich mit dem bloßen Anschein von Ruhe zufrieden geben und den Kosovo und den Balkan insgesamt am liebsten vergessen möchte. Wie 2000 bis 2001 in Mazedonien geschehen, könnte eine Konfrontation mit der internationalen Gemeinschaft erneut in bewaffnete Konflikte in den albanischen Siedlungsgebieten der Nachbarstaaten umschlagen. Das gilt künftig vor allem für das Tal von Presovo im Süden Serbiens.

dt. Christian Hansen

* Journalist in Belgrad.

Fußnoten: 1 Patrice de Charette, „Les Oiseaux noirs du Kosovo. Un juge à Pristina“, Paris (Michalon) 2002. 2 „Kosovo: Corruption à la Minuk“, Le Courrier des Balkans, www.balkans.eu.org/article2065.html.

Le Monde diplomatique vom 14.02.2003, von JEAN-ARNAULT DÉRENS