14.02.2003

Zivilgesellschaft gesucht

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Zivilgesellschaft gesucht

DIE Macht Präsident Putins hat einiges dazu beigetragen, eine „Zivilgesellschaft“ zu schaffen, die diesen Namen nicht verdient. Eigentlich soll sich in ihr eine Mehrheitsmeinung jenseits staatlicher oder wirtschaftlicher Interessen herausbilden. Doch in Russland besteht diese Zivilgesellschaft aus Grüppchen und Vereinigungen, die von der Bevölkerung völlig abgeschnitten sind – sei es aufgrund ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den sozialen Problemen der Mehrheit, sei es wegen ihrer allzu offensichtlichen Verbindungen zum Westen und zum russischen Kapital. Ein Beweis dafür war die Farce des „Bürgerforums“ vom November 2001, an dem 5 000 Vertreter aus Vereinen und Menschenrechtsgruppen teilnahmen. Von oben angeordnet, fand er innerhalb der Kremlmauern statt und diente Putin und der Regierung zu nicht mehr als einem Forum der Selbstdarstellung. Einzig lobenswert war die Lebhaftigkeit, mit der im Vorfeld über eine Teilnahme und über den Begriff Zivilgesellschaft gestritten wurde.

Die Gewerkschaftsbewegung steht mittlerweile mehrheitlich unter dem Einfluss des Kremls und leistet keinen nennenswerten Widerstand gegen die soziale Verelendung. Um die Zustimmung dieser „Föderation der unabhängigen Gewerkschaften Russlands“ (FNPR) zur Reform des Arbeitsgesetzes zu erhalten, gestand ihr die Staatsmacht das Quasimonopol für gewerkschaftliche Vertretung in den Unternehmen zu. Im Gegenzug brachte der Chef der FNPR, Michail Tschmakow, dem Präsidenten auf dem Bürgerforum, das Putin höchstpersönlich mit großem Pomp eröffnet hatte, seine Huldigung dar.

Für die Jugend heißt die Putin‘sche Zivilgesellschaft schlicht „Gemeinsam marschieren“ – so der Name einer auf Initiative des Kremls gegründeten Organisation, deren Führungspersonal aus der Präsidialverwaltung stammt. Ihre einzige Zielsetzung besteht darin, dem Präsidenten zu gehorchen und ihn ostentativ zu lieben. Zur Kontrolle der widerspenstigen Jugend hingegen bedienen sich die Geheimdienste sämtlicher Techniken: „Repression, Drohungen, Infiltration, Korruption und Provokation.“1 Während einer Versammlung gegen den EU-Russland-Gipfel am 28. Mai 2002 verprügelten Sondereinheiten des Innenministeriums Dutzende von Globalisierungskritikern, bevor sie sie einsperrten.

ES kommt aber auch vor, dass die Repression verstärkte Aktivität hervorruft. Die Bastion dieser nichtgenehmen Zivilgesellschaft sind die alternativen Gewerkschaften, die mit 20 Prozent aller gewerkschaftlich Organisierten etwa eine Million Arbeitnehmer repräsentieren. Sie stellen sich den liberalen Reformen entgegen und kämpfen für Lohnanpassungen und für bessere Tarifbestimmungen als jene, die das von der FNPR gebilligte neue Arbeitsgesetz vorsieht. Ihres Streikrechts beraubt, sahen sich die Mitglieder der Gewerkschaft der Fluglotsen und Luftfahrttechniker im Dezember 2002 dazu gezwungen, in den Hungerstreik zu treten. Nachdem Dutzende von Flughäfen schließen mussten, konnten die Streikenden Lohnerhöhungen und eine Verbesserung ihres Status durchsetzen.

Im Gefolge dieser Radikalisierung eines Teils der alternativen Gewerkschaften hat eine neue politische Organisation das Licht der Welt erblickt: die „Russische Partei der Arbeit“, in der Gewerkschafter, Abgeordnete lokaler Oppositionsgruppen, Kleinunternehmer der Straßenmärkte, Rentner und Stadtteilaktivisten vereint sind. Obgleich sie nur eine marginale Rolle spielt und mit Oleg Schein einen einzigen Parlamentsabgeordneten stellt, sieht sie ihre Aufgabe darin, für Themen zu mobilisieren, die das Alltagsleben der Bevölkerung betreffen. Ihre Kampagne zu den kommunalen Reformen zum Beispiel hat die Regierung in mehreren Punkten zum Nachgeben gezwungen.

Als jüngstes Kind der Opposition nimmt nun auch die Bewegung der Globalisierungskritiker allmählich Gestalt an. Sie gruppiert sich um einen Kern linker Intellektueller, Gewerkschafter, Feministinnen, Anarchisten und radikaler Ökologen. In den großen Städten des Landes entstehen Organisationen, die sich auf diese Bewegung berufen. Auch ein Informations- und Koordinationsnetz ist im Entstehen begriffen. Bei seiner Rückkehr vom Europäischen Sozialforum, das im November 2002 in Florenz stattfand, stellte der sibirische Aktivist Wladimir Worobjow fest: „Durch die Begegnung mit Aktivisten aus anderen Ländern wurde mir bewusst, dass die Probleme, mit denen wir in Russland konfrontiert waren, keineswegs spezifisch sind. Wir haben bloß einige Längen Vorsprung, was den Ultraliberalismus und den Hang zur Repression angeht. Die Logik aber ist dieselbe.“ Russlands Integration in den Prozess der Globalisierung führt auch dort zu neuen Anstrengungen, Alternativen zu finden.

Fußnote: 1 Alexander Tarasow, „Endlich hat der Kreml eine Jugendpolitik entworfen: Kontrollieren und nichts durchgehen lassen“, www.left.ru, Nr. 5, 18. Februar 2002.

Le Monde diplomatique vom 14.02.2003