14.02.2003

Küsse auf die harte Hand

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Küsse auf die harte Hand

WLADIMIR PUTIN ist ohne Zweifel ein populärer Präsident im heutigen Russland. In den vom Kreml kontrollierten Medien wird immer wieder sein Lob gesungen, und begeisterte Teenager tanzen nach der Melodie des Schlagers „Ich will einen wie Putin“. Vier Fünftel der Russen stehen hinter diesem Mann mit der eisernen Hand, der in den drei Jahren seiner Regierungszeit manches verändert hat. Doch nicht unbedingt zum Guten: Die Sozialausgaben gehen weiter zurück, die Energieversorgung wird nicht besser, um die Unabhängigkeit von Justiz und Medien ist es schlecht bestellt, und der Tschetschenienkonflikt ist einer Lösung ferner denn je.

Von CARINE CLÉMENT *

Die russische Staatsmacht hat allen Grund zu triumphieren. In aktuellen Umfragen kann Wladimir Putin 83 Prozent Zustimmung verzeichnen.1 Zugleich ist es schwer, in Russland ein würdiges Leben zu führen – die Schicht der Neureichen einmal ausgenommen. Wird diese Gesellschaft je aus ihrer Lethargie herausfinden? Zwar wächst „in den Küchen“, wie man zu Sowjetzeiten sagte, die Wut. Aber wie soll sich der Schmerz ausdrücken, so viel oder sogar alles verloren zu haben? Gewohnheit, Erschöpfung, Apathie – die Politikverdrossenheit wurzelt tief in der sowjetischen Vergangenheit, und die Desillusionierungen der „Schocktherapie“ haben sie weiter verstärkt. Eine lange Serie von Krisen und Kriegen lässt die Gesellschaft verzweifeln – und doch gewinnt das „Phänomen Putin“ Gestalt.

Der Präsident hat es in bewundernswerter Weise verstanden, an die durch den Zerfall des „Vaterlandes“ verletzten patriotischen Gefühle zu appellieren. Er schmückt sich mit den Zeichen für die Rückkehr des Landes auf die internationale Bühne: Er beteiligt Russland am Kampf gegen den „internationalen Terrorismus“, zahlt vorzeitig Auslandsschulden zurück, nimmt gleichberechtigt an Gipfeltreffen teil und verteidigt russische Wirtschaftsinteressen. Über die Bedingungen dafür schweigt er sich aus: ultraliberale Reformen, Einsparungen bei der Unterstützung der Armen und die Akzeptierung des starken amerikanischen Einflusses an Russlands Grenzen (siehe auch S. 8/9).

Putins starke Persönlichkeit gilt viel und beeinflusst das Urteil über seine Politik stark. „Er ist wahnsinnig charmant, eine starke Persönlichkeit. Ein richtiger Mann eben“, erklärt eine aktive Gewerkschafterin, die ansonsten überaus kritisch ist. Eine Reaktion, die bei den Russen Tradition hat: Sie schimpfen über die Politik, den Machthaber selbst sprechen sie frei. Denn der sei sicherlich schlecht informiert oder schlecht beraten.

In einer traumatisierten, aufgelösten, erschöpften, verarmten und labilen Gesellschaft profitierte Putin vor allem vom populären Wunsch nach Wiederherstellung eines Staates, der das Gemeinwohl, die soziale Sicherheit sowie die „Diktatur des Gesetzes“ verteidigt, die eine kriminelle oder informelle Ökonomie in ihre Schranken weisen kann. Den ersten Akt bildete die Entmachtung der Oligarchen, die während der Jelzin-Ära so viel Einfluss besaßen. Von der Macht vertrieben, haben Boris Beresowski und Wladimir Gussinski die Flucht ergriffen, Ersterer nach Großbritannien, Letzterer nach Spanien. Michail Jivilo, Herrscher über die Metall- und Aluminiumindustrie, ging nach Frankreich ins Exil. Der sibirische Aluminiummagnat Alexander Bykow schmort seit Oktober 1999 im Gefängnis, einige Wochen nach Putins überraschender Ernennung zum Ministerpräsidenten.

Seit die Russen ihn im Jahr 2000 zum Präsidenten wählten, hat er die politischen Begehrlichkeiten der Oligarchen gezügelt. Bis heute sind sie ihm dankbar, dass Putin der Staatsmacht mehr Autonomie gegenüber den Interessen der Geschäftemacher sicherte. Auch wenn Rückfälle zu verzeichnen sind: Die Ölgesellschaft Slawneft wurde im Dezember 2002 in einer vierminütigen Auktion für einen Schleuderpreis an den Sibneft-Konzern des Putin-Vertrauten Roman Abramowitsch verkauft.

Wenn Putin die Geschäftswelt in die Schranken verwies, dann vor allem, um seine eigenen Getreuen unterzubringen. Die „Sankt Petersburger Mannschaft“, benannt nach der Geburtsstadt des Präsidenten, und die Vertreter der Geheimdienste, deren Milieu Putin geprägt hat, halten mit der Kontrolle des Erdgasriesen Gasprom sowie der staatlichen Eisenbahn- und Stromgesellschaften die Hebel der Wirtschaft in ihren Händen. Gleiches gilt für den Bereich der Telekommunikation: „Die Männer aus Sankt Petersburg haben alle alten Führungskräfte ersetzt“, bestätigt ein ehemaliger leitender Angestellter aus diesem Sektor. „Und sie haben Leute eingestellt, die von außerhalb kamen und völlig inkompetent sind.“

Auch von den Führungskräften der großen Privatkonzerne verlangt die Staatsmacht Gehorsam. Die rebellischen Oligarchen wurden nicht deshalb verjagt, weil sie für die Ausplünderung der Wirtschaft verantwortlich sind, sondern wegen des kritischen Tons, den ihre Fernsehsender gegenüber Putin anschlugen. Seither lassen die Geschäftsleute keine Gelegenheit verstreichen, ihre Unterstützung für die Politik des Präsidenten zum Ausdruck zu bringen. Sibneft etwa kontrolliert den Sender Kanal 1, der 97 Prozent aller Haushalte in elf Zeitzonen erreicht.

Dem im August 2000 im Umkreis der Regierung der Russischen Föderation gegründeten Unternehmerrat gehören die Direktoren der Schlüsselindustrien an. Die Chefs der wichtigsten Großunternehmen sind in einem neuen Büro des russischen Arbeitgeberverbandes, der „Union der Industriellen und Unternehmer Russlands“, zusammengeschlossen. Obgleich nun stärker institutionalisiert, haben die Beziehungen zwischen der Geschäftswelt und hohen Kremlfunktionären ihren klientelistischen Charakter bewahrt. Doch ist es die Präsidialmacht, die bei diesem Tanz die Führung übernimmt: „Die Epoche der Oligarchen geht zu Ende und weicht der Ära der ‚administrativen Mittel‘ “.2

Nach Ansicht des Ökonomen Anton Oleynik war die Vermischung von politischer und wirtschaftlicher Macht noch nie so groß, und sie lässt sich „bis hinab auf die unterste Ebene des Systems, die Regionen und Kommunen, beobachten“. Zwar haben die Gouverneure ihre parlamentarische Immunität verloren, die mit ihrem früheren Status als rechtmäßige Mitglieder des Föderationssowjets verbunden war. Einige von ihnen mussten gar unter dem Druck des Kremls zurücktreten. Doch dies stärkte eher die Macht des Präsidenten, als dass es die Öffentlichkeit versöhnt hätte.

Auch die neue Welle liberaler Reformen stützt sich auf populäre Forderungen. „Nichts funktioniert mehr, alles geht den Bach runter!“ – deswegen seien die Reformen „notwendig“, hämmern die Medien den Zuschauern und Zuhörern unentwegt ein, um aus dem Chaos der Jelzin-Zeit herauszukommen. Natürlich spielt auch das Fehlen glaubwürdiger Ersatzlösungen eine Rolle: „Aber zum Sowjetsystem kehren wir trotzdem nicht zurück!“ Die Mehrheit der Bevölkerung hat sich jedenfalls schon lange daran gewöhnt, ins „Improvisieren“ außerhalb der Legalität zu flüchten.

Im Februar 2002 trat das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geforderte neue Arbeitsgesetz in Kraft. Es stärkt die Arbeitgeber auf Kosten der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften, ermuntert zu Zeitverträgen, erleichtert Entlassungen, verlängert die gesetzliche Arbeitszeit, stellt die Rechte von Frauen in Frage und beschneidet besonders die Rechte der neuen kleinen Gewerkschaften, die am aktivsten sind. Von diesen Arbeitervertretungen abgesehen, bleibt es in der Bevölkerung ruhig. Igor, Arbeiter in einer Kugellagerfabrik in der Region Wolgograd, meint dazu: „All diese Gesetze stehen nur auf dem Papier. In der Praxis hat immer die Direktion das letzte Wort.“

Ein weiteres Geschenk an die Unternehmer ist die einheitliche Einkommensteuer, die 2001 auf 13 Prozent festgesetzt wurde und damit um einen Prozentpunkt über dem vorher gültigen Mindeststeuersatz liegt. 2002 fielen die Steuern auf Gewinne von 35 Prozent auf 24 Prozent. Bereits im Frühjahr 2000 waren die Sozialabgaben der Unternehmen von 38,5 Prozent auf 35 Prozent der Löhne gesenkt worden. Die Russen haben nicht gemurrt, da sie lieber auf einen wirtschaftlichen Aufschwung setzten.

Der Präsident ist sich dessen bewusst und hat das Wirtschaftswachstum zur obersten Priorität erklärt. Als er Ende 2002 live auf Fragen der Bürger antwortete, versprach er ihnen eine Steigerung der Kaufkraft. Das war realistisch, denn zwischen 1999 und 2001 zog das Wachstum wieder auf bis zu 8 Prozent pro Jahr an, eine Folge der Krise vom Sommer 1998: Auf die Produktion wirkte es sich günstig aus, dass die Abwertung des Rubels die russischen Warenexporte verbilligte und staatliche Kontrollen das Außenhandelsdefizit begrenzten. Außerdem kam der weltweite Anstieg der Ölpreise auch den entsprechenden russischen Erlösen zugute. Im Jahre 2002 ging das Wachstum jedoch wieder auf 4 Prozent zurück, auch weil die Zentralmacht Investitionen unterlässt3 , während der erstarkte Rubel die Exporte wieder erschwert. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) entspricht nun 70 Prozent des Werts von 1990.

Nach einem starken Rückgang in den Jahren 1998 und 1999 sind die Realeinkommen, vom Wirtschaftswachstum begünstigt, wieder gestiegen. Doch die Ungleichheiten wurden größer, die Kapitaleinkünfte wuchsen viel stärker als die Reallöhne. Nach offiziellen Angaben verdient ein Haushalt aus dem reichsten Fünftel jetzt durchschnittlich 15-mal so viel wie ein Haushalt aus dem ärmsten Fünftel.

27 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, nach inoffiziellen Angaben 40 Prozent. Die Regierung bemühte sich, den Mindestlohn auf die Höhe der Armutsgrenze anzuheben, doch er erreicht immer noch erst 22 Prozent davon. Putin rühmt sich, mit dem Ausbleiben von Lohnzahlungen Schluss gemacht zu haben, doch die Lohnschuld steigt wieder an. Denn diese Verpflichtungen sind vom Zentrum in die Regionen verschoben worden, die die Zahlungen oft unterbrechen.

Um eine Verbesserung der materiellen Lage der Russen zu diagnostizieren, muss man eine Menge Einbildungskraft besitzen, in Moskau leben und in den oberen Etagen der großen Konzerne arbeiten. Der Sozialstaat ist nunmehr vollkommen unter den Trümmern der UdSSR begraben. Die Rückzahlung der Auslandsschulden und die Steuersenkungen gehen zu Lasten der Löhne der Staatsangestellten und der Sozialausgaben. Letztere sind seit 2000 nicht mehr gestiegen. Sie machen 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, so viel wie die Bedienung der Auslandsschulden. Die soziale Sicherheit schmilzt dahin wie Schnee in der Sonne. Die durchschnittliche Rente beträgt kaum 20 Prozent des Existenzminimums, was im Sommer 2001 die Einführung einer Rente auf Kapitalbasis „legitimierte“. Die Gesundheitsausgaben des Staates entsprechen nur 0,2 Prozent des BIP, während die Krankenhäuser nicht wissen, woher sie das Geld für die notwendigsten Medikamente nehmen sollen. Aus dem Staatshaushalt werden nur noch lächerliche Beträge an Arbeitslosengeld bezahlt. Und die Betriebe, die der Privatisierung bislang entgangen sind, gehorchen der Logik des persönlichen Profitstrebens ihrer Manager.

Die Konzentration von Macht und Reichtum, die während der Jelzin-Ära begonnen hatte, geht weiter, wenn auch auf undurchsichtigere Weise. Die „Union der Industriellen und Unternehmer Russlands“ dürfte ungefähr drei Viertel des Reichtums des Landes und vier Fünftel des BIP kontrollieren.4 Nach Angaben der Finanzgesellschaft Brunswick UBS Warburg verfügen heute die acht größten privatisierten Konzerne über Einnahmen in Höhe des halben Staatshaushalts. Mehr oder weniger derselbe Satz gilt für die wichtigsten Staatsbetriebe.5 Im Industriesektor bestreiten die acht größten Unternehmen zwei Drittel der nationalen Produktion.6

Dies spiegelt sich auch in ihrem Investitionsverhalten wider: Die wichtigsten Ölgesellschaften (Lukoil, Lukos, Sibneft und TNK) wollen jetzt eine 2 bis 5 Milliarden Dollar teure Ölpipeline bauen, die Westsibirien mit dem Hafen von Murmansk verbinden soll. Das beste Beispiel aber ist der Konzern Gasprom, das größte russische Unternehmen.7 Neben seinem Monopol in der Gasproduktion erstrecken sich seine Aktivitäten auf die Bereiche Chemie und Öl (die Gesellschaft Sibur), Metallindustrie (Gasmetalla), Bankwesen (Gasprombank) und Medien (namentlich der Fernsehsender NTV). Er unterhält enge Beziehungen zur staatlichen Ölgesellschaft Rosneft und zu dessen Großgläubigerin Meschprombank8 , die lange von Putin-Freund Sergei Pugatschow geleitet wurde. Obwohl Gasprom teilweise noch Eigenschaften eines Staatsbetriebs besitzt, folgt der Konzern einer Logik kurzfristigen Eigenprofits: Er führt wenig an den Staat ab und investiert kaum. Die Ausrüstung veraltet stetig, die Bevölkerung zahlt höhere Gaspreise, und der Staat wird durch ein Exportsystem ausgetrickst, mit dem man ansehnliche Summen verschwinden lassen kann.9

Auch das, was in Westeuropa als „öffentlicher Dienst“ bezeichnet wird, bleibt der Privatisierung nicht entzogen. Bei den Telekommunikationsdiensten ist sie bereits weit vorangeschritten und hat auch das Kerngeschäft erreicht. Die wichtigste, noch zu drei Vierteln staatliche Telefongesellschaft Swjasinvest muss nun ihren regionalen Filialen größere Autonomie zugestehen, womit deren Entstaatlichung vorbereitet wird. In diesem Sinne hat die Duma im Herbst 2002 auch die Umstrukturierung gebilligt. Sie sieht vor, die Regionalgesellschaften in autonome Firmen umzuwandeln, die für Privatisierungen offen stehen, wobei nur die Kabelgesellschaften in Staatsbesitz bleiben. Weit davon entfernt, das angekündigte Konkurrenzmodell zu verwirklichen, droht sich diese Reform vor allem in einer konzertierten Tariferhöhung niederzuschlagen.

Die Gesellschaft Vereinigte Energiesysteme (auf Russisch RAO EES), die die Aktienmehrheit beinahe sämtlicher regionaler Stromgesellschaften hält, wird von Anatoli Tschubais mit eiserner Hand geführt. Zu dieser Holding, deren Aktien sich zu etwas mehr als der Hälfte in Staatsbesitz befinden, gehören Tochterunternehmen, die meist zu 49 Prozent im Besitz von in ausländischen Steuerparadiesen registrierten Gesellschaften sind. Andererseits nimmt die Zahl der Stromabschaltungen, mit denen säumige kommunale Großkunden gezwungen werden sollen, ihre Rechnungen zu begleichen, ständig zu. Stehen deswegen Trolleybusse und Straßenbahnen still, kommt der öffentliche Verkehr für Stunden oder Tage zum Erliegen; anderswo versinken ganze Viertel in Dunkelheit und Kälte, weil die Rechnungen für das Straßenlicht oder den Strom für ein Heizkraftwerk nicht bezahlt wurden.

Dieselbe Rentabilitätslogik liegt der Reform des Eisenbahnwesens zugrunde. Dessen Bewirtschaftung soll mehreren privaten Gesellschaften anvertraut werden, die sich gegenseitig Konkurrenz machen, während der Staat nur Kontrollfunktionen sowie das Eigentum an der großen Infrastruktur behält. Die Privatisierung hat sich bereits darin gezeigt, dass Arbeiten nun an Subunternehmen vergeben wurden, die hohen Beamten gehören. Sie führt zu einer Verteuerung der Fahrkarten – die Preise sind innerhalb von zwei Jahren um 50 Prozent gestiegen – sowie zu einer Verschlechterung des Service, da an Arbeitskräften und Ausrüstung gespart wird. 35 Prozent des Personals wurden bereits entlassen.

Den letzten Stein im Gebäude bildet die Reform der Wohnungsverwaltung. Gegenwärtig werden die lokalen Unternehmen, die für die Instandhaltung der Kommunalwohnungen sowie die Wasser-, Strom-, Gas- und Wärmeversorgung zuständig sind, von einer Staatsholding gelenkt. Diese undurchsichtigen und ineffizienten Unternehmen geben ständig Anlass zu berechtigter Unzufriedenheit. Die vorgesehene „Änderung“ besteht jedoch darin, die – deutlich gestiegenen – Ausgaben zu 100 Prozent den Bewohnern aufzubürden und Preisnachlässe für die Ärmsten zu streichen. In Woronesch sind im Frühjahr 2000 nach der Vervierfachung der kommunalen Tarife 20 000 Menschen auf die Straße gegangen – eine im „ruhigen“ Russland vergleichsweise gewaltige Demonstration.

Immer wieder stellt Präsident Putin die Begriffe „Staat“, „Gesetz“ und „Ordnung“ in den Vordergrund. Damit reagiert er auf die Veränderung des sozialpsychologischen Klimas. Die Moskauer Geiselnahme vom Oktober 2002 hat gezeigt, wie sehr die Staatsmacht eine solche Rhetorik für sich nutzbar zu machen weiß. Nach dem Eingreifen der russischen Spezialeinheiten verkündete der Kremlchef, die Operation sei „gelungen“, und bekräftigte seine Entschlossenheit, keinerlei Angriff auf die staatliche Autorität zu dulden. Über den Tod von 130 Unschuldigen, die durch das beim Zugriff verwendete unbekannte Gas umkamen, und die Ermordung von mehr als 40 Mitgliedern des tschetschenischen Kommandos verlor er nicht viele Worte. Wenn die oberste Macht auf dem Spiel steht, zählt ein Menschenleben nicht mehr viel. Angesichts der grausamen Tatsachen reagierte die Gesellschaft perplex und verlegen. Andererseits schien es unmöglich, die Macht des Präsidenten infrage zu stellen: „Putin hatte keine Wahl“, sagten die Moskauer, „er konnte doch nicht mit den Terroristen verhandeln.“

Die Zurückhaltung, die eigene Unzufriedenheit offen zu äußern, erklärt sich aber auch dadurch, dass ein Gefühl, das unter Jelzin beinahe in Vergessenheit geraten war, wiederkehrt: die Angst. Während die übrigen Institutionen des Staates Auflösungserscheinungen zeigen, wächst die Bedeutung des Repressionsapparats. Um sich gegen alle gesellschaftlichen Ausbrüche zu wappnen, ließ die Putin-Administration eine Reihe von Gesetzen verabschieden, die das Entstehen einer Opposition erschweren und diese sogar in die Illegalität drängen sollen. Das neue Parteiengesetz unterwirft politische Organisationen drakonischen gesetzlichen Bedingungen – zumindest solche, die nicht über die nötige Protektion verfügen. Im selben Geist hat die Duma im Juli 2002 unter dem Vorwand des Kampfs gegen die Skinheads ein „Extremismus“-Gesetz verabschiedet, das das bereits sehr breite Repressionsarsenal erweitert. Und die Reform des Ausländergesetzes vom Juni 2002 macht den legalen Aufenthalt in Russland zu einer albtraumhaften Erfahrung mit der russischen Bürokratie, die unzählige Gastarbeiter in die Illegalität drängt.

Der blutige Krieg gegen die tschetschenische Bevölkerung und die „Antiterror“-Rhetorik verhelfen Putin dazu, sich als Staatschef darzustellen, der mit eiserner Faust gegen jedes Streben nach Unabhängigkeit, gegen jegliche Form des ernsthaften Protestes vorgeht. Gleichzeitig wird das verwüstete Tschetschenien zum idealen Terrain für Wirtschaftsbetrügereien. Inzwischen wurde der russische Geheimdienst FSB mit der Leitung der „Antiterror“-Operationen betraut. Er ist jetzt der Armee und der Polizei übergeordnet. Im Namen der „staatlichen Sicherheit“ plündern die Soldaten tschetschenische Zivilisten aus und sperren sie in Lager, wo sie auf ihre politische Gesinnung überprüft werden. Aber auch in Moskau erpresst die Polizei Lösegeld, nachdem sie Ausländer – bevorzugt mit dunklerer Hautfarbe – oder Russen, die keine Aufenthaltsgenehmigung nachweisen können, inhaftiert hat.

Die Repression macht vor der gesellschaftlichen und politischen Opposition nicht Halt. Immer häufiger werden Versammlungen durch Ordnungskräfte gewaltsam aufgelöst. Ebenso wächst die Zahl der routinemäßigen Verhaftungen, die für Aktivisten jeder Couleur zum Alltag geworden sind. Dagegen unternimmt der Staat bis auf wenige Ausnahmen fast nichts gegen die Organisationen der extremen Rechten und die tschetschenischen Terroristen. Böse Zungen gehen sogar so weit, zu behaupten, dass Letztere heimlich ermutigt würden.10

Was die Justiz angeht, die Garantin für die Anwendung der Gesetze, so bleibt sie korrumpiert und unterwürfig, vor allem in den Regionen. Eine Reform im Frühjahr 2001 hat die Abhängigkeit der Richter von den politischen Organen vergrößert, obwohl sie vorgab, die Kompetenzen der Richter zu erweitern. Die wenigen Urteile, die einem Kläger gegen eine Behörde Recht geben, werden meistens nicht umgesetzt. Selbst das Verfassungsgericht hat viele Male seinen Gehorsam gegenüber der politischen Macht unter Beweis gestellt, besonders mit seinem berüchtigten Beschluss, dass der Krieg in Tschetschenien zum „Menschenrecht auf Leben“ in keinem Widerspruch stehe.

Darüber hinaus geraten sämtliche potenziellen Gegenkräfte innerhalb des System der staatlichen Institutionen nach und nach unter die Kontrolle des Kremls. Die legislative Gewalt ist dem Präsidenten vollkommen untergeordnet. Der Föderationsrat besteht nur mehr aus von den Regionalmächten ernannten Repräsentanten, wodurch er sowohl an Legitimität als auch an Unabhängigkeit verliert. Und die Duma wird immer mehr zu einem Organ der Kenntnisnahme. Zur Annahme gewöhnlicher Gesetze reicht die einfache Mehrheit der Regierungspartei, des „Einigen Russland“.

Falls eine Verfassungsänderung angestrebt wird, fährt die Präsidialverwaltung schwere Geschütze auf. Die Methoden, die sie während der Sitzung im Oktober 2002 anwandte, um Referenden im Vorfeld der Präsidentenwahlen verbieten zu lassen, schockierten sogar die Abgeordneten. Die Duma wurde zum Zirkus, die Emissäre der Präsidialverwaltung belagerten widerspenstige Abgeordnete, wobei sie den einen drohten, andere kauften und die übrigen erpressten.

Die parlamentarische Opposition beschränkt sich auf die Kommunistische Partei Gennadi Sjuganows, die der Kreml als nicht ernst zu nehmende Oppositionelle gewähren lässt. Dabei nimmt er ihnen aber jede Möglichkeit zu wirklich kritischer Aktivität. Im April 2002 überließ der Kreml den Kommunisten den Vorsitz in verschiedenen Duma-Ausschüssen, um so die Prüfung liberaler Gesetzesvorhaben zu beschleunigen, wodurch sie der KP die Opferrolle zuwies. Im Oktober wurde die kommunistische Kampagne für das Referendum verboten, da man um die Popularität des Präsidenten fürchtete – und schuf sich so eine empörte, aber harmlose Opposition für künftige Wahlen.

Die Medien, die am Ende der Jelzin-Ära zumeist in die Abhängigkeit von privaten Großkonzernen geraten waren, unterliegen nun einem starken Einfluss des Kremls. Das gilt insbesondere für das Fernsehen, die wichtigste Informationsquelle für das „Russland von unten“. Die Zentralisierung der Medien ist mit dem Hinzukommen des staatlichen Senders RTR, des Kultursenders Kultura, der Nachrichtenagentur Nowosti, mehrerer Radiosender, offizieller Zeitungen sowie 92 regionaler Fernsehgesellschaften fortgeschritten. Nach Ausschaltung von Boris Beresowski hat der Staat auch die Kontrolle über den Fernsehsender ORT übernommen, während eine Gruppe von der Präsidialverwaltung nahe stehenden Bankiers den Sender TVS (früher TV6) aufkaufte. Weitere Sender im Besitz privater oder staatlicher Konzerne befinden sich in Wirklichkeit ebenfalls in der Einflusssphäre des Kremls: Sibneft besitzt TV-1, Gasprom ist der Eigentümer von NTV und der Stromriese RAO EES derjenige von Ren-TV.

Der für die Medien zuständige Minister Michail Lesin lenkt das Ganze mit eiserner Hand und zu seinem eigenen Vorteil – er steht weiterhin an der Spitze von Video International, dem Exklusivlieferanten von Werbeblöcken für das staatlich kontrollierte Fernsehen. Um die Gewinne, die er einstreicht, zu rechtfertigen, sorgt er dafür, dass dem Ansehen des Präsidenten und dessen Positionen Respekt entgegengebracht werden. Tschetschenische Separatisten, Oppositionelle oder Globalisierungskritiker erhalten selbstverständlich kein Rederecht.11 Sie tanzen schließlich nicht nach dem in der Mehrheitsgesellschaft so populären Schlager „Ich will einen wie Putin“.

dt. Markus Sedlaczek

* Journalistin, Moskau.

Fußnoten: 1 Umfrage des russischen Meinungsforschungsinstituts VTs IOM, Ende November 2002. 2 Wedomosti, Moskau, 29. Dezember 2000. 3 Die Investitionen erreichen gerade einmal 10 Prozent des Niveaus von 1990. 4 Schätzung der Literaturnaja Gaseta, Mai 2000. 5 Moskowskije Nowosti, Moskau, 9. August 2002. 6 Alexander Dynkin, „Hat Russland in der Weltwirtschaft eine Chance?“, Pro i Contra, Frühjahr 2002, S. 42–67. 7 Siehe Expert, Moskau, 7. Oktober 2002. 8 Nach Angaben von Politkom, Moskau, 15. Mai 2002. 9 Siehe Westi, Moskau, 25. November 2001. 10 Über die Verbindungen zwischen dem Geheimdienst FSB und der extremen Rechten siehe Oleg Roldugin, „Wen fürchtet der FSB?“, Sobesednik, Moskau, 4. Juni 2002; oder das Interview auf www.kom.ru mit dem Soziologen Alexander Tarasow vom 10. Oktober 2002, der der Meinung ist, dass die für ein Pogrom von Ende November 2001 verantwortlichen Skinheads vom FSB unterstützt worden seien, der eine Konfrontation mit „Globalisierungsgegnern“ suche. Zu den Vermutungen über eine Beteiligung des FSB an den Bombenattentaten vom September 1999, auf die der zweite Tschetschenienkrieg folgte, vgl. Nowaja Gaseta, Moskau, 13. März 2000; Obschtschtaja Gaseta, Moskau, 9/2000; Alexander Litwinenko (ehemaliges FSB-Mitglied) und Juri Felschtinski, „Der FSB lässt Russland hochgehen“, 2001 im Internet. 11 Siehe unter anderem Wersia und Nowaja Gaseta, Moskau, 25. November 2002.

Le Monde diplomatique vom 14.02.2003, von CARINE CLÉMENT