Wenn sie wenigstens Englisch läsen
Von BERNARD CASSEN
DEN Wissenschaftlern wird oft vorgeworfen, dass sie sich in ihrem Elfenbeinturm einschließen, ohne sich für die Probleme ihrer Mitbürger zu interessieren, deren Steuern immerhin die staatliche Forschung finanzieren. In Frankreich, um nur ein Beispiel zu nennen, hüllten sich in den Neunzigerjahren zwei angesehene Institutionen, die Akademie der Wissenschaften und die Akademie für Medizin, bei dem Riesenskandal um verseuchtes Blut in absolutes Schweigen. War es ein Zeichen von Gleichgültigkeit oder gar Ignoranz der Hohepriester der Medizin auf ihrem ureigensten Gebiet? Oder galt hier, wie einige sogleich verkündeten, die Omertà, um Kollegen zu „decken“, die sich der unterlassenen Hilfeleistung für gefährdete Blutempfänger schuldig gemacht hatten?
Um dem Vorwurf zu entgehen, sie würden sich über die öffentliche Debatte stellen, veröffentlichten die Akademien für Medizin und Pharmazie am 12. Dezember 2002 und die Akademie der Wissenschaften am Tag darauf in einer konzertierten Aktion Berichte über eine mögliche Gesundheitsgefährdung durch gentechnisch veränderte Organismen (GVO). Der Zeitpunkt für diese Äußerung konnte nicht besser gewählt sein. Ende Januar wird das weitere Schicksal von José Bové bekannt, der für die Zerstörung gentechnisch veränderter Pflanzen im Internationalen Kooperationszentrum für landwirtschaftliche Entwicklungsforschung (Cirad) zu vierzehn Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt wurde. Ebenfalls Ende Januar fällt das Appellationsgericht in Grenoble sein Urteil über zehn Aktivisten der Bauernvereinigung und von Attac, die aus denselben Gründen wie Bové in Valence in erster Instanz zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt wurden.
Die GVO sind außerdem Gegenstand einer internationalen wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung von großer Reichweite: Man streitet sich, ob das europäische Moratorium über die Einführung gentechnisch veränderter Pflanzen aufgehoben werden soll oder nicht. Aufgestachelt von den Multis des genetisch-industriellen Komplexes verliert die Bush-Regierung die Geduld1 : Einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) – darunter Frankreich – weigern sich hartnäckig, den Vorschlägen der Kommission in Brüssel zu folgen, die sich die Wunschliste aus Washington zu eigen gemacht hat. Die Schlagzeile eines Artikels der Financial Times vom 10. Januar 2003 lautet: „Die USA sind bereit, den GVO-Krieg zu erklären“, denn sie erheben vor dem Schlichtungsgremium der Welthandelsorganisation (WTO) Klage gegen die EU.
All das unterstreicht, wie wichtig die Berichte der drei Akademien sind. Um es gleich vorwegzunehmen: die Industrie, EU-Handelskommissar Pascal Lamy und sein US-amerikanischer Kollege Robert Zoellick hatten allen Grund, zufrieden zu sein. Für die Autoren stellen die GVO kein besonderes Gesundheitsrisiko dar. Die Zusammenfassungen der Kapitel im Bericht der Akademien für Medizin und Pharmazie2 sind eindeutig: „Es gibt kein besonderes Risiko im Zusammenhang mit der Art der Erzeugung von GVO“, „die möglichen Risiken der GVO für die Gesundheit sind kontrollierbar“, „die zu erwartenden Vorteile überwiegen die möglichen Risiken“, „die gesetzlichen Zwänge, die gegenwärtig die Erforschung der GVO und ihre Verwendung einschränken, sollten überprüft werden.“
Zoellick, der die „antiwissenschaftliche Politik der Europäer“ anprangert, hat auch in der Akademie der Wissenschaften gewichtige Verbündete gefunden. Deren Bericht3 geht sogar über Zoellicks Forderungen hinaus. Er ist lediglich ein Abklatsch der Veröffentlichung der Medizin-Akademie. Eine solche Einstimmigkeit in der Welt der Forschung ist höchst ungewöhnlich. Aber ist es überhaupt die Welt der Forschung oder eher der Fürsprecher der Industrie? Man kann sich diese Frage aus mindestens drei Gründen stellen: Die Arbeiten anderer Einrichtungen oder Wissenschaftler zum selben Thema bleiben unberücksichtigt; die Akademien greifen in ein Gebiet ein, das keineswegs in ihr Ressort fällt, nämlich die Handelspolitik; schließlich, und das ist zweifellos die Erklärung, bestehen enge Verbindungen zwischen einigen Akademiemitgliedern und den großen Konzernen dieses Sektors.
Würden die Wissenschaftler Englisch lesen, kühlte sich ihr Optimismus bezüglich des gefahrlosen Verzehrs von GVO-Lebensmitteln und nicht vorhandener Risiken von GVO-Kulturen auf offenen Feldern bald ab. Sowohl die Royal Society als auch die British Medical Association (BMA) äußern starke Bedenken in dieser Frage.4 So erklärt die BMA, dass „man immer noch nicht mit der Erforschung möglicher negativer Folgen der GVO-Lebensmittel auf die menschliche Gesundheit begonnen hat. Nach dem Vorsichtsprinzip dürften GVO-Versuche auf freiem Feld nicht mehr genehmigt werden.“
Auch die Fragen, die ihnen von französischer Seite Jacques Testart, Forschungsdirektor des Nationalen Instituts für Gesundheit und medizinische Forschung (Inserm), stellt, scheinen sie nicht zu berühren: „Wie viele Akademiemitglieder wissen überhaupt, dass kein Versicherer die Risiken dieser Anbauflächen übernehmen will? Wie viele haben die Verletzung der Forschungsprinzipien festgestellt, wenn die Aussaat unter freiem Himmel (auf dem Feld) erfolgt? Wie viele kennen den Ausstreuungsradius der Pollen? Wie viele wissen, dass bei keinem Konsumenten von GVO – Tier oder Mensch – je eine konsequente Gesundheitskontrolle erfolgt ist?“. Man könnte hinzufügen: Wie viele kennen die Studien des Komitees für unabhängige Genforschung und -information (CRII-GEN)5 , dessen Wissenschaftsbeirat von Professor Gilles-Eric Seralini geleitet wird? Dieses Komitee wird übrigens in Kürze eine wissenschaftliche – und wirklich unabhängige – Analyse der Akademieberichte veröffentlichen.
Während die Autoren der Akademieberichte alle Forschungen zu ignorieren scheinen, die nicht in ihrem Sinne sind, reden sie besonders gern über Fragen, die überhaupt nicht wissenschaftlich sind. Steht es ihnen zu, Innenminister Nicolas Sarkozy aufzufordern, eine „feste Haltung einzunehmen“, vor allem „bei der Wahrung der öffentlichen Ordnung in der Umgebung der experimentellen Aussaaten von GVO“, wie im Bericht der Akademie der Wissenschaften zu lesen ist? Müssen sie sich zu Anwälten der amerikanischen Multis machen, indem sie die Aufhebung des europäischen Moratoriums fordern: „Mit Geltungsbeginn der neuen gesetzlichen Regelungen gibt es keinen objektiven Grund mehr, ein Moratorium (ohne juristische Grundlage) für die Zulassung von GVO zu verlängern“?
Man versteht diese Stellungnahmen besser, wenn man sich die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe ansieht, die den Bericht der Akademie der Wissenschaften vorbereitet hat. Sie besteht fast vollständig aus Persönlichkeiten, die seit langem für ihre GVO-freundliche Haltung bekannt sind. Ihre Schlussfolgerungen können ebenso wenig überraschen wie die eines Komitees, das sich über die Risiken des Tabakkonsums äußern soll und aus Vertretern der Tabakindustrie und „Wissenschaftlern“ besteht, die durch Forschungsverträge mit diesen verbunden sind. Ein paar Beispiele:
Der Leiter der Gruppe, Roland Douce, ist gut gewählt: Er war seit 1986 Leiter der gemeinschaftlichen Forschungseinrichtung CNRS/Rhône Poulenc (später Aventis) Agrochimie. Zu den Mitgliedern gehört auch Francine Cassé, die eine Vorlesung „Methode zur Gewinnung sowie landwirtschaftlich-lebensmitteltechnischen und biomedizinischen Anwendung gentechnisch veränderter Pflanzen“ hält, die den Studenten befähigen soll, „Beispiele möglicher Anwendung der pflanzlichen Transgenese in Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie, pharmazeutischer Industrie usw. zu nennen“. Nicht verwunderlich also, dass sie in einem in La Recherche veröffentlichten Artikel schreibt, die Gründe für den Widerstand gegen GVO seien ihr völlig unverständlich.
Auch Alain Rérad vom Cirad ist der richtige Mann an der richtigen Stelle: Seine Arbeiten werden auf der Internetseite der Agroindustrie – Vereinigungen von Saatgutherstellern und Pflanzenschutzindustrie, CFS, GNIS und UIPP – ausführlich zitiert. Der Titel einer seiner aktuellen Forschungsarbeiten ist vielversprechend: „Transgenese verheißt nachhaltige Landwirtschaft“. Alain Weil ist einer der beiden Leiter eines Gemeinschaftsprojektes von Cirad und der Stiftung Aventis-Institut de France, das die Länder des Südens an den Segnungen der „ertragreichen“ Landwirtschaft teilhaben lassen soll. Es geht vor allem um „alternative Lösungen zur Verwendung phytosanitärer Produkte“ (lies: GVO). Bernard Le Buanec schließlich ist Generalsekretär der Internationalen Saatgutföderation (FIS) und der Internationalen Züchtervereinigung, eine Funktion, die der Bericht seltsamerweise nicht erwähnt.
Zwar ist Vorsicht offensichtlich nicht das primäre Anliegen der Mitglieder der Arbeitsgruppe, allerdings scheint es durchaus ihre Auswahl bestimmt zu haben: Mit ihnen droht nicht die geringste Gefahr, den amerikanischen Industriellen und ihren französischen und europäischen Erfüllungsgehilfen wehzutun.
dt. Claudia Steinitz