14.02.2003

Die letzten Tage des Saddam Husseins

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Die letzten Tage des Saddam Husseins

Obwohl die Wiederwahl von Ariel Scharon düstere Perspektiven für den Frieden im Nahen Osten eröffnet, lassen sich George W. Bush und seine Falkenfraktion nicht von ihrem längst gefällten Kriegsbeschluss abbringen. Trotz der Proteste aus aller Welt und entgegen den Vorbehalten vieler Regierungschefs kündigte der amerikanische Präsident am 6. Februar an, die Uhr für Saddam Hussein sei abgelaufen. Doch niemand weiß bislang, wie ein Konflikt unter der einheimischen Bevölkerung aufgenommen würde. Während das Regime Lebensmittel verteilt, Brunnen bohrt und ein bewaffnetes System aus lokaler Abwehr und Überwachung errichtet, bleibt die Frage, welchen Reim sich die Iraker auf ihre Lage und ihre möglichen Nachkriegsperspektiven machen.

Von DAVID BARAN *

DIE Bush-Administration konnte die Menschen im Irak nicht davon überzeugen, dass sie den kommenden Krieg aus moralischen Beweggründen führt und als zivilisatorische Mission und Friedenswerk versteht. Gleichwohl bezweifelt im Irak mittlerweile niemand mehr, dass die Drohungen der USA, die man noch vor kurzem für leere Worte hielt, ernst gemeint sind. Die Iraker hatten geglaubt, es handele sich um eine weitere jener Krisen, die das Land seit 1991 heimsuchen und aus denen Präsident Saddam Hussein merkwürdigerweise jedes Mal gestärkt hervorgegangen war – so dass im Irak das Gerücht über eine nicht nur objektive Allianz zwischen Bagdad und Washington zeitweise Hochkonjunktur hatte.

Auf die ständig wiederkehrenden Krisen reagierte die irakische Bevölkerung nur noch mit Gleichgültigkeit und Resignation, obwohl sie jedes Mal unter gezielten Bombenangriffen zu leiden hatte. Selbst während der Operation „Wüstenfuchs“ im Dezember 1998, während der schwersten der zahlreichen militärischen Angriffe in den 1990er-Jahren, waren Hamsterkäufe die Ausnahme. Am Morgen nach den ersten nächtlichen Luftangriffen gingen die Schüler und Studenten wie gewohnt zum Unterricht, und jeder Abwesende wurde registriert. Abends stieg man mit der ganzen Familie aufs Dach, um die herannahenden Raketen zu beobachten und Wetten über den jeweiligen Einschlagsort abzuschließen. Die Erzählungen aus jenen Kriegstagen vermitteln noch immer Urlaubsstimmung.

Heute dagegen dominiert im Lande eine ungewohnte Nervosität. Auf den ersten Blick scheint alles normal, aber es mehren sich die Anzeichen zunehmender Spannung. Der Handel ist zum Erliegen gekommen. Jeder tätigt nur noch die lebensnotwendigen Investitionen und Anschaffungen. Die Autopreise gehen in den Keller. Der Dollarkurs schwankt heftig und erreicht an manchen Tagen den Rekordstand von fast 2 800 Dinar, obwohl der Staat nach Kräften versucht, den Kurs zu stabilisieren.

Der Devisenmarkt mit seiner besonderen Volatilität drückt jedoch nur, wenn auch verstärkt, eine allgemeinere Stimmung aus. Viele Iraker hören ausländische Sender, vor allem Radio Monte Carlo und einen iranischen Satellitensender in arabischer Sprache, den man seit einigen Monaten legal empfangen darf. Im Freundeskreis zirkulieren auch eingeschmuggelte ausländische Zeitschriften.

Sogar Leute, die immer so tun, als seien sie der aktuellen Ereignisse längst überdrüssig, kolportieren die neuesten Gerüchte. Der Irak erlebt eine Explosion des gesprochenen Worts, so dass man glauben könnte, die Angst, auf die das Regime sich gründet, lasse allmählich nach.

Woher rührt diese neu gewonnene Gewissheit, dass die Zeiten sich ändern? Der Ton der US-amerikanischen Erklärungen kann den Umschwung nicht hinreichend erklären, doch Saddam Husseins Reaktionen lassen ahnen, dass die Stunde der Entscheidung naht. Hussein hatte sich dem Druck der USA gebeugt und vorbehaltlos die Rückkehr der Unmovic-Waffeninspektoren akzeptiert. Wenig später lud er die CIA ein, die Kommissionsmitglieder zu begleiten, was manche Iraker geradezu als Verrat empfanden. Er erklärte sich bedingungslos bereit, sämtliche Rüstungsfabriken, ja sogar seine eigenen Paläste zu öffnen, und er entschuldigte sich zwölf Jahre nach der Invasion in Kuwait bei dem Nachbarvolk. Um seine persönliche Macht zu retten, scheint Saddam also zu allem bereit, auch auf Kosten des Irak und seiner eigenen Würde. Es gibt sogar Gerüchte, wonach er Geheimverhandlungen führt, um sich seinen Verbleib an der Macht mit Öl zu erkaufen.

Doch dieses Gefühl, dass die Dinge sich derzeit ändern, ist noch schwach. Viele beschreiben das aktuelle Geschehen als „Theater“. Die Iraker sehen sich als Zuschauer einer Intrige, die in Wirklichkeit hinter den Kulissen spielt. Und die wahren Motive, die Bush zum Krieg veranlassen, liegen ihrer Meinung nach weder in der Sorge um ihr Schicksal noch in der Frage begründet, ob der Irak über Massenvernichtungswaffen verfügt.

Für die Zukunft des Irak hat die Bush-Administration bislang kein glaubwürdiges Projekt vorgelegt. Die Opposition, innerlich zerstritten und ohne jeden Rückhalt in der Bevölkerung, spricht über die „Nach-Saddam-Zeit“ nur mit den Amerikanern. Ihre „subversiven“ Radiosendungen gelten als ebenso „zuverlässig“ wie die amtlichen Medien, deren Methoden sie reproduzieren (Propaganda, Desinformation, Sonntagsreden). Umso verständlicher ist das Bedürfnis der Menschen, über die Zukunft zu sprechen, Erklärungen zu suchen, Alternativen durchzuspielen.

Die Fantasie wird beflügelt durch das unbezähmbare Bedürfnis nach Sinngebung und durch die Tatsache, dass keine stimmige und hinreichend konsistente Erklärung dieses Grundbedürfnis befriedigt. Da man die Amerikaner nicht als Befreier wahrnimmt, ist ihre Präsenz nur als demütigende Besatzung vorstellbar. Manche malen sich aus, dass sie demnächst in ihrer eigenen Stadt an jeder Ecke von GIs kontrolliert werden. Andere empören sich bereits beim Gedanken an die siegreichen und arroganten Marines, in Shorts und mit einem Bier in der Hand, denen sich die Mädchen anbieten, die der allgemeinen Armut entkommen wollen.

Die Fantasie will auch die tieferen Ursachen des drohenden Schicksals ergründen und sie will die Mächte des Bösen identifizieren, die so viel Unrecht und Grausamkeit verursachen. Am meisten verbreitet ist die (im arabischen Massenbewusstsein fest verankerte, vom Regime noch geschürte) These, der US-Imperialismus verfolge das Ziel, sich die gesamte arabische Welt unterzuordnen und deren Ressourcen anzueignen, und das Ganze sei selbstredend eine zionistische Verschwörung. Dass sich in diesem Punkt Massenbewusstsein und offizielle Verlautbarungen decken, darf indes nicht zu falschen Schlüssen verleiten. Immer wieder hört man, Saddam Hussein, der sich selbst zum Vorkämpfer gegen die Vereinigten Staaten und Israel erkoren hat, sei womöglich ein Agent dieser Länder, weshalb zu befürchten sei, der angekündigte Krieg werde – trotz der militärischen Drohkulisse – am Ende durch eine gütliche Geheimvereinbarung verhindert.

Aufgrund der zweideutigen Informationen und der ambivalenten Gefühlslage hört man allenthalben widersprüchliche Äußerungen. Diese geistige Konfusion beeinträchtigt auch die Einschätzung des kommenden Kriegs. Die Mehrheit der Bevölkerung wünscht zwar einen Wechsel, doch das unerträgliche Maß an Ungewissheit lässt die Menschen am Bestehenden, am Bekannten festhalten, statt auf das Abenteuer eines Umbruchs zu setzen. Wird der Krieg kurz sein, oder müssen wir uns auf monatelange Versorgungsmängel einrichten? Sollen wir in Bagdad bleiben oder aufs Land fliehen? Wird Saddam Hussein nichtkonventionelle Waffen gegen die eigenen Bürger einsetzen?

Diese und andere Fragen laufen auf folgende Haltung hinaus: Das Regime wird am Ende fallen – umso besser –, aber um welchen Preis? Wie soll man glauben, dass einem nach einem Krieg, in dem es nur um Interessen geht, eine bessere Zukunft bevorsteht? Der Zusammenbruch des Systems wird eine große Leere hinterlassen. Ein Wettlauf um die Macht wird beginnen, und was daraus für die Demokratie folgt, ist ungewiss. Wenn sich nämlich das dicht gewebte Netz aus Baath-Partei1 , Polizei und Sicherheitsapparat auflöst, wer wird dann die aggressiven Triebe einer verarmten, gedemütigten, frustrierten, rachsüchtigen Bevölkerung zügeln? Die Unruhen im Gefolge der Operation „Wüstensturm“, die man auch als „Intifada von 1991“ bezeichnet hat, waren durch Plünderungen und Racheakte gekennzeichnet.

Viele Stützen des Regimes, vom Mitglied der örtlichen Parteizelle bis zum Geheimdienstoffizier, fürchten Repressalien. In einer Zeit, da jedes Anzeichen mangelnder Loyalität fatale Folgen haben kann, bleibt ihnen keine andere Wahl, als weiterhin ihr Amt auszuüben, was sie morgen zu Opfern ihrer ehemaligen Opfer machen wird. Einige versuchen, sich mit den Menschen, die sie geschurigelt haben, rechtzeitig zu versöhnen, und argumentieren dabei, sie hätten die von ihnen ausgeführten Befehle innerlich nicht gutgeheißen. Andere ziehen aus ihrer Umgebung weg und versuchen so, in der Anonymität unterzutauchen. Im Falle eines Krieges wollen sie die Befehle zwar befolgen, doch ohne jeden Eifer, um einerseits für den Fall vorzubauen, dass das Regime auf wundersame Weise überlebt, und sich andererseits keine neue Feinde zu machen. So beginnt ein riskantes Spiel der Neupositionierung, dessen Erfolg erst mit dem Zusammenbruch des Regimes sichtbar werden wird.

Clans und Kalaschnikows

DIE Existenz von Clanstrukturen2 , die ihre Angehörigen in feste Gemeinschaften einbinden, wird in dieser Phase die Versuche, die Karten neu zu mischen, noch komplizierter machen. Diese Clans, denen wichtige Persönlichkeiten des sozialen und politischen Lebens vorstehen, verfügen über ein hohes Mobilisierungspotenzial, wenn die Interessen oder die Ehre ihrer Gemeinschaften auf dem Spiel stehen. Sie sind bereits heute gut mit Waffen versorgt (Kalaschnikows, Granaten, Mörser) und werden den Zerfall des derzeitigen Sicherheitsapparats zu nutzen wissen, um sich noch besser einzudecken. Sie verfügen über eine weitgehende Autonomie und regeln viele ihrer inneren Streitigkeiten nach dem traditionellen Stammesrecht. Es steht daher zu erwarten, dass diese Clans untereinander wie auch mit der Zentralmacht ein kompliziertes Machtgerangel initiieren werden, wenn es an die Aufteilung der Ressourcen geht (Land, Wasser, Waffen, Prestige, Lebensart). Und bewaffnete Auseinandersetzungen sind nicht auszuschließen.

Im Unterschied zu Afghanistan werden die USA diese traditionellen Clans während der Kämpfe in keiner Weise für sich einspannen können. Die mächtigsten unter ihnen haben keinen Grund, sich über die Politik des Regimes zu beschweren, und werden über genügend Macht verfügen, um ihr Wohlwollen von einer künftigen Regierung teuer bezahlen zu lassen. Durch Verrat an Saddam Hussein haben sie nichts zu gewinnen – jedoch alles zu verlieren, wenn dieser politisch überleben sollte. Was nicht völlig ausgeschlossen ist, wenn man an die unzähligen Attentate und Putschversuche denkt, die er genauso überlebt hat wie den Krieg gegen das Bündnis von 33 Staaten. Kein Zweifel also, dass sich niemand von der Stelle rühren wird, bis klar ist, dass der König fällt.

Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Situation ab einem bestimmten Moment kippen wird. In den ersten Stunden oder Tagen der US-Intervention wird sich der lokale Sicherheitsapparat im Hintergrund halten, und die rebellisch gestimmten Einwohner der alten Elendsviertel in Bagdad und in den südlichen Städten werden erst einmal abwarten. Doch dann wird das Regime plötzlich am Ende sein. Es wird schlagartig auseinander fallen und sich rasch auflösen. Es wird zu Aufständen, Plünderungen, Lynchmorden kommen, die aber für den Kriegsverlauf ohne Bedeutung sind. So unterschiedlich die Iraker die Widerstandsfähigkeit des Regimes einschätzen, so einstimmig sagen sie solche chaotischen Zustände voraus.

Dass die Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt kippen wird – den Washington nicht kennt –, zeigt sich an den Kriegsvorbereitungen des Regimes. Sie sind darauf gerichtet, diesen Augenblick möglichst lange hinauszuzögern und die Bevölkerung möglichst lange unter Kontrolle zu halten. Entgegen allen hochtönenden Verlautbarungen erwartet das Regime nicht, dass sich die Massen gegen den Eindringling erheben, sondern dass sie sich ruhig verhalten und zu Hause bleiben. Mit Beginn der Feindseligkeiten soll eine totale Ausgangssperre in Kraft treten. Man verteilt bereits Lebensmittelrationen, die bis Juni reichen sollen. Im Fernsehen wird die Bevölkerung gewarnt, die Lebensmittel (wie gewöhnlich) weiterzuverkaufen – man werde sie noch dringend benötigen. In Bagdad und in den Städten des Hinterlands lässt man überall Brunnen bohren, um die Wasserversorgung durch die Partei sicherzustellen.

Die örtlichen Parteibüros in den einzelnen Stadtvierteln wurden in Schulen verlagert. Sie sind dafür zuständig, die eingelagerten Vorräte an Wasser und Brennspiritus (für Beleuchtung, Heizung und Küche) zu verteilen und für jede Straße einen Verantwortlichen für Ruhe und Ordnung zu benennen. Jeder Haushalt wird für das Verhalten seiner einzelnen Mitglieder verantwortlich gemacht. Es wird verboten sein, das Haus zu verlassen. An jeder Kreuzung sind bereits Absperrungen aus Sandsäcken errichtet, um die Straßenzüge besetzen zu können.

Diese Sicherheitsmaßnahmen sollen auf psychologisch subtile Weise die Funktionäre einschüchtern. Die meisten würden schnell desertieren, wenn sie direkt der ungeheuren technologischen Überlegenheit der Amerikaner entgegentreten müssten. Wie groß die Angst ist, zeigen die umlaufenden Gerüchte über Panzer, die ihre Granaten mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs abfeuern, über Flugzeuge, die 25-fache Schallgeschwindigkeit erreichen, über Raketen, die plötzlich abstoppen können, um die kleinste Bewegung aufzuspüren.

Nützlicher werden diese Stadtteilfunktionäre dort sein, wo es darum geht, die öffentliche Ordnung zu wahren. Und diese Aufgabe werden sie sich zu Eigen machen. Gleichwohl werden sie auch auf den Ernstfall von Straßenkämpfen vorbereitet. Zu diesem Zweck organisieren die Republikanische Garde und die „Saddam-Fedayyin“3 derzeit Trainingslager. An ausgewählte Bevölkerungsgruppen wurden bereits Kalaschnikows verteilt. Unmittelbar vor Ausbruch des Krieges wird das Regime zweifellos alle leichten Waffen ausgeben.

Das Hauptziel des Regimes besteht darin, die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten. In den Städten, wo die Gefahr von Aufständen am größten ist, stützt sich das Regime auf die Partei und den Sicherheitsapparat. Aber es weiß auch, dass deren Loyalität durchaus fragil ist. Einerseits droht es indirekt mit Repressalien, andererseits verlangt es auch kein übermäßiges Engagement. So wird von den Angestellten der politischen Polizei und der Nachrichtendienste nicht erwartet, dass sie ihr Leben opfern. Sie sollen nur ihren normalen Pflichten nachkommen. Dieses Minimalprinzip gilt auch für die ländlichen Regionen. Von den regimetreuen Stammesorganisationen wird nicht etwa erwartet, dass sie sich in einen sinnlosen Kampf stürzen. Es genügt, wenn sie Aufstände und die Infiltration der von ihnen kontrollierten Gebiete zu verhindern wissen. Dafür werden sie bezahlt und ausgerüstet.

Diese Strategie zielt darauf ab, das in Friedenszeiten eingeübte Stillhalten der Bevölkerung auch in Kriegszeiten zu gewährleisten. Ihre Schlagkraft und abschreckende Wirkung bezieht diese Strategie aus der Allgegenwart der Sicherheitskräfte, die ebenso abschreckend wirken soll wie die Propaganda, die hinreichend Angst verbreitet, um jeden Aufstandsgedanken im Keim zu ersticken.

Was die persönliche Sicherheit des Präsidenten betrifft, so gibt es hier eine erprobte Taktik, die nicht auf befestigte Verteidigungsanlagen, sondern auf Mobilität setzt (falsche Präsidentenkonvois, Ortswechsel mit „normalen“ Autos, unangekündigte Übernachtungen bei ausgewählten Familien). Unzählige Gerüchte inszenieren Saddam Hussein als vielgestaltiges, ungreifbares, erfindungsreiches Wesen, das alle denkbaren Verstecke des Landes zu nutzen weiß, bis hin zu den verschlungenen Gängen in den Grundmauern der gigantischen Moscheen, die in Bagdad derzeit errichtet werden.

Die totale militärische Überlegenheit der US-Streitkräfte verbietet jeden herkömmlichen Gegenangriff. Erfolg verspricht allein eine Taktik, die das genaue Gegenteil der US-Strategie ist. Sollte sich der Krieg in die Länge ziehen und auf einer oder auf beiden Seite sehr viele Opfer fordern, könnte die Situation auch in die andere Richtung kippen und eine Volkserhebung gegen den Eindringling auslösen. Auch die Iraker, welche die US-Politik für akzeptabel halten, falls es ihr gelingt, Saddam Hussein rasch zu stürzen, empfinden den Krieg als ungerecht und unmoralisch. Deshalb muss dem Regime daran gelegen sein, den Kampf auf die Straße zu tragen.

Welche Rolle fällt in diesem Szenario der regulären Armee und der Republikanischen Garde zu, den einzigen bewaffneten Verbänden, die der amerikanischen Feuerkraft entgegentreten könnten? Saddam Hussein kann sich auf seine Truppen weder in militärischer noch in politischer Hinsicht verlassen. Dem könnte der Präsident Rechnung tragen, indem er von seinen Männern nicht mehr erwartet, als auf ihren Posten auszuharren und ein minimales Pflichtbewusstsein zu zeigen. Die außerhalb von Bagdad stationierten Truppen werden den Luftangriffen und dem Vormarsch der US-Streitkräfte nur schwachen Widerstand entgegensetzen können, so dass der Weg nach Bagdad frei wäre. Die in Reserve gehaltenen Elitetruppen könnten in einer zweiten Phase zum Einsatz kommen. Sie haben in den städtischen Wohngebieten Stellung bezogen, wo sie für die US-Luftwaffe ein schwieriges Ziel abgeben.

Wie immer sich die an der Front geopferten Truppen schlagen mögen, in erster Linie muss das Regime versuchen, die militärische Konfrontation in die Fläche zu tragen. Nur so kann es hoffen, dass die Situation in die andere Richtung kippt – wenn es nicht zuvor durch eine Rebellion hinweggefegt wurde. Doch selbst in dem wahrscheinlichen Fall, dass das Regime stürzt, bleibt die Frage, ob sich die Bevölkerung nicht jeder US-Präsenz gewaltsam widersetzen wird. Ohne Zweifel werden nur wenige zu den Waffen greifen, um das Regime zu verteidigen, doch viele Iraker haben Zugang zu Waffen und kündigen an, dass sie Soldaten der Besatzungsstreitkräfte töten werden.

Für eine solche mögliche Radikalisierung gibt es reichlich Anhaltspunkte. Jahre der Entbehrung und der Demütigung durch das Hussein-Regime, aber auch die Sanktionen der Weltgemeinschaft haben ein explosives Spannungspotenzial aufgebaut. Die Vorstellung, nach dem Krieg würden rasch demokratische Verhältnisse einkehren, ist eine Kopfgeburt. Im Prinzip sind die Iraker durchaus offen für vernünftige Sinnangebote, aber simplizistische, dogmatische und militante Phrasen sind wirksame Propagandamittel – ein gutes Beispiel dafür sind ja die USA selbst.

Und was sagen die eigentlich Betroffenen, die Iraker selbst, die sich in der aktuellen Debatte kaum zu Wort melden können? Einer meint, seine Entscheidung stehe fest: Wenn es nicht zum Krieg kommt, werde er das Land verlassen, weil er das Regime von Saddam Hussein nicht „weitere zehn Jahre“ ertragen könne. Und ein anderer wiederum sagt, er würde sich lieber weiterhin mit einem „voll gefressenen“ Präsidenten arrangieren als mit irgendwelchen Nachfolgern, die das verarmte Land mit ihrer Unersättlichkeit kahl fressen würden. Doch der irakische Bürger, der ernsthaft glaubt, die USA würden verantwortungsbewusst handeln, einen Marshallplan auflegen und dem Irak Frieden und Wohlstand bringen, ein solcher Optimist muss erst noch gefunden werden.

dt. Bodo Schulze

* Journalist, Ottawa.

Fußnoten: 1 Dazu David Baran, „Baath-Partei im Irak: Kuschen, schwitzen, Punkte sammeln“, Le Monde diplomatique, Dezember 2002. 2 Dazu Faleh A. Jabar, „Parti, clans et tribus: un fragile équilibre“, Manière de voir 67, Januar/Februar 2003. 3 Miliz, die Saddam Husseins ältestem Sohn Uday untersteht, bestehend aus jungen, entmachteten, sorgfältig ausgewählten Freiwilligen.

Le Monde diplomatique vom 14.02.2003, von DAVID BARAN