Zwischen Nouakchott und Abidjan
DER Schwarze Kontinent bekommt die Destabilisierung durch die wirtschaftliche Globalisierung mit besonderer Schärfe zu spüren. Nach ihrer nationalen Unabhängigkeit konnten die ohnehin schwachen jungen Staaten keine staatliche Souveränität im eigentlichen Sinne ausüben. Die mächtigen internationalen Konzerne und die von IWF und Weltbank verordneten Strukturanpassungsprogramme haben dafür gesorgt, dass der Spielraum der Staatsmacht in vielen afrikanischen Ländern gegen null geht.
Von PIERRE FRANKLIN TAVARES *
Staatsstreich in Guinea-Bissau (September 2003), Umsturz in São Tomé und Principe (Juli 2003), Putschversuche in Mauretanien und Burkina Faso (Oktober 2003), Aufstand gegen Charles Taylor in Liberia, der zu dessen Abdankung führt (August 2003), politische Unruhen im Senegal (2003), Destabilisierung der Elfenbeinküste (seit September 2002) – Westafrika scheint sich in der politischen Dauerkrise einzurichten.
Die aktuellen Krisen sind anderer Natur als die, mit denen die afrikanischen Staaten unmittelbar nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit zu kämpfen hatten. Auf die ideologische Konfrontation des Kalten Kriegs folgte ein Prozess der doppelten Destabilisierung: einerseits durch die überstürzte Einbindung in die Weltwirtschaft, andererseits durch die improvisierte Demokratisierung mittelloser Staaten. Beide Entwicklungen führten dazu, dass die im Aufbau befindlichen nationalen Strukturen delegitimiert wurden. Die Souveränität dieser Staaten wurde zur bloßen Fiktion.
Dabei kamen ganz verschiedene Faktoren zusammen, deren destabilisierende Wirkungen sich addierten: 1. Das Ende des Ost-West-Konflikts reduzierte die geopolitische Bedeutung Afrikas. 2. Die Geldgeber stießen zwar eine Art Demokratisierung an,1 aber auf überstürzte und unangemessene Weise. 3. Die neoliberalen makroökonomischen Vorgaben führten zu unkontrollierten Privatisierungen und zu drastischen wie auch konfusen Strukturanpassungsprogrammen. 4. Die terms of trade verschlechterten sich, auch wegen der sinkenden Preise für die in Afrika produzierten Rohstoffe2 . 5. Das begünstigte drastische Interventionen seitens westlicher Multis und mächtiger Banken. 6. Die Verschuldung erreichte dramatische Ausmaße. 7. Viele politische Führer haben weder kurzfristige Pläne noch langfristige Visionen; viele Beamte sind korrupt. 8. Der Waffenhandel erlebte eine neue Blüte.
All diese Entwicklungen trugen zum Zusammenbruch eines Kontinents bei, der schon zuvor höchst unstabil war. Die makroökonomischen und sozialen Indikatoren haben sich seit den 1980er-Jahren rapide verschlechtert. Das führte zum Verschwinden der Mittelschichten, zu tiefgreifenden sozialen Spannungen und einer allgemeinen Verarmung. In ganz Westafrika ging das Bruttoinlandsprodukt erheblich zurück. Die von den internationalen Geldgebern versprochene Steigerung der Wachstumsraten blieb aus: Sie sanken von durchschnittlich 3,5 Prozent im Jahr 1975 auf 2 Prozent in 2000.3 Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) spricht in seinem Jahresbericht 2003 von einem beispiellosen Rückgang des „Human Development Index“.4 Die meisten westafrikanischen Staaten können die Gehälter ihrer Beamten und Angestellten nur mit Mühe bezahlen. In der Zentralafrikanischen Republik bestand eine der ersten Maßnahmen der Regierung des Putschgenerals François Bozizé im Frühjahr 2003 in der Ankündigung, dass man die ausstehenden Gehälter zahlen werde.
Die Arbeitslosigkeit nimmt ständig zu. Krankheiten wie Aids und Tropenkrankheiten breiten sich rasch aus, die Lebenserwartung geht zurück. Viele tausend Menschen sind auf der Flucht. Verarmte Soldaten sind zu einer ständigen Bedrohung für die Regime vieler Länder geworden, wie der Putsch in der Zentralafrikanischen Republik, der Putschversuch in Burkina Faso und die Rebellion in der Elfenbeinküste belegen.5
„Demokratischer“ wurden im Grunde nur die Putschversuche und die von allen möglichen Grenzkonflikten überlagerten Bürgerkriege. So leidet der Kongo unter der Invasion aus Nachbarstaaten und zugleich unter der Spaltung in verschiedene Politklüngel, die ihrerseits von ausländischen Kräften unterstützt werden.6 Ein gemeinsames Wollen gibt es nicht mehr, es dominiert der Streit zwischen unterschiedlichen Partikularinteressen. Und die machen sich fast nur noch an der ethnischen Zugehörigkeit fest und sind entsprechend leicht zu manipulieren, wie es zum Beispiel in Elfenbeinküste mit Hilfe des Begriffs „Ivoirité“ geschieht.
Die Häufung von Kriegen und Staatsstreichen in den letzten fünfzehn Jahren ist nicht zufällig. Wir haben es mit einem historischen Entwicklungstrend zu tun, der in Westafrika noch stärker hervortritt als in anderen Teilen des Kontinents. Es gibt es keine Staaten mehr im Sinne politisch unabhängiger Einheiten. Die in den 1960er-Jahren erlangte formale, auf dem Papier stehende Unabhängigkeit ist zu einem Abstraktum geworden. In den Augen der Bürger, der Führungsschichten, der politischen Gruppierungen und der militärischen Führer ist Staatsmacht nur noch etwas, was man erträgt oder woraus man Gewinn zu schlagen versucht.
Die Existenz wie auch das Funktionieren aller westafrikanischen Staaten hängt zudem vom Kalkül der jeweiligen Nachbarländer ab. Man denke an die Auswirkungen der Instabilität in der Elfenbeinküste auf die angrenzenden Regionen (etwa von Mali und Burkina Faso), an die massive Arbeitsmigration (zum Beispiel von Burkina Faso in die Elfenbeinküste) oder an politische Interventionen (etwa der Republik Guinea-Bissau in Casamance oder des Tschad in der Zentralafrikanischen Republik).
Zugleich ist das innerstaatliche Recht – sprich die Verfassung – der einzelnen Länder heutzutage dem Völkerrecht untergeordnet, wird also durch die Beziehungen zu anderen Staaten mitbestimmt. Das kann zwar zu positiven Friedensregelungen führen (wie im Kongo, wo die UN und Südafrika ein Abkommen vermittelt haben7 ), wird aber gelegentlich auch als negativ empfunden und abgelehnt.
Die Krise in der Elfenbeinküste ist dafür ein aufschlussreiches Beispiel. Die ivorische Präsidialverfassung steht im Widerspruch zum Abkommen von Linas-Marcoussis vom 24. Januar 2003, das den Rebellengruppen einen Teil der Macht zugesteht, also den Präsidenten schwächt und die Regierung stärkt. Dieses Abkommen mag legitim und notwendig sein, aber in ihm kulminiert auch eine seit 1990 laufende Entwicklung, die das Amt des Präsidenten ständig geschwächt und das Ende des Regimes Houphouët-Boigny besiegelt hat.
Doch in der Elfenbeinküste lässt sich die Institution des Präsidenten nicht einfach durch einen allmächtigen Ministerpräsidenten ersetzen, denn das Land hat, anders als etwa die Kapverden, noch kein parlamentarisches System entwickelt. Für die Bewohner der Elfenbeinküste ist ein mangelhaftes Staatsrecht immer noch nützlicher als ein gutes Völkerrecht. Diese Widersprüche können nicht rechtfertigen, aber doch erklären, warum Präsident Laurent Gbagbo seine Einstellung zu dem von ihm unterschriebenen Abkommen geändert hat (siehe nebenstehenden Text).
Auch die Gleichgültigkeit der afrikanischen Eliten hat dazu beigetragen, die Souveränität des Staates zum Verschwinden zu bringen. Beim nationalen zentralafrikanischen Dialog nach dem Militärputsch vom Frühjahr 2003 hörte man einen Delegierten argumentieren: „Alle Zentralafrikaner sind korrumpierbar und korrupt. Da der Staat Zentralafrika nun aber Steuereinnahmen braucht, muss man Organisation und Verwaltung des Fiskus französischen Emigranten anvertrauen.“ Damit wäre eines der zentralen Attribute staatlicher Souveränität – die Steuerhoheit und folglich auch der Staatshaushalt – dem unmittelbaren Einfluss des französischen Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit ausgesetzt. Diese eigentümliche Logik illustriert an einem besonders naiven Beispiel, wie Politiker sich ihrer afrikanischen Identität entledigt haben.
Die Grenzen, die einst auf der Berliner Konferenz von 1885 gezogen und im Gründungstext der Organisation für Afrikanische Einheit bestätigt wurden, sind in den letzten fünfzehn Jahren porös geworden. Keine Rebellengruppe hält sich an diese künstlichen Grenzen. In der Elfenbeinküste sind die konkurrierenden Söldnergruppen und Milizen kaum noch zu kontrollieren, manche Landesteile sind deshalb von mafiosen Strukturen durchdrungen. Das gilt auch für Liberia, wo Kämpfer aus dem Bürgerkrieg in Sierra Leone im Sommer 2003 am Sturz des Präsidenten Charles Taylor mitgewirkt haben.
Die starke Abhängigkeit der afrikanischen Staaten untereinander hat aber auch viel mit der Rolle der multinationalen Konzerne zu tun. Sie haben die alten Grenzen aus der Kolonialzeit de facto abgeschafft und den Charakter der afrikanischen Staaten so verändert, dass diese nur noch als ihr verlängerter Arm oder als Kontrollorgan fungieren.
Hinter den ethnischen Konflikten verbergen sich häufig die Interessen lokaler Mächte oder multinationaler Konzerne. Die Multis nutzen regionale oder lokale Konflikte, um Märkte zu erschließen oder zu sichern, um Konzessionen zu erlangen oder zu verlängern. Dass etwa die Holzindustrie bei der Auflösung Liberias oder dem Konflikt im Kongo eine zentrale Rolle gespielt hat, geht aus mehreren Berichten von NGOs und der UN hervor.8 Und in der Presse der Elfenbeinküste wurde häufig darauf verwiesen, dass die innere Krise begann, als Präsident Gbagbo neue Verhandlungen über bestimmte staatlich regulierte Märkte ankündigte.9
Der Einfluss der multinationalen Konzerne – und die Auswirkungen der ökonomischen Globalisierung – auf den öffentlichen Sektor der westafrikanischen Länder lassen die Grenzen zwischen öffentlichem Recht und Zivilrecht immer mehr verschwimmen. Der öffentliche Bereich funktioniert nicht nach den universellen Regeln staatlicher Verwaltung, sondern faktisch nach den Regeln des Zivilrechts. Die meisten afrikanischen Staatschefs verstehen sich nicht als Wahrer der allgemeinen Interessen, sondern sie handeln wie Aufsichtsratsvorsitzende. Ob es um die Unterschrift unter eine Konzession für den Abbau von Rohstoffen oder um die Verteilung der auf dem Weltmarkt erzielten Gewinne geht, die alles entscheidende Rolle spielen am Ende die Clanstrukturen oder die quasifeudalen Hörigkeitsverhältnisse.
Ein klassisches Beispiel ist die Art und Weise, wie das Regime in Gabun und die Regierung von Angola mit den reichen Ölvorkommen ihrer Länder umgehen. Die von internationalen Geldgebern verordnete Privatisierung hat zu einem allgemeinen Ausverkauf geführt. So verhandelt die senegalesische Regierung bereits endlos über die Bedingungen der Privatisierung der nationalen Stromversorgung. Größter Verlierer dabei ist freilich das Volk. In einer solchen Situation wird der Staatsstreich zur normalen Methode der Machtübertragung.
Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts können die multinationalen Konzerne immer freier agieren, weil es kaum noch einen politischen Kontrahenten gibt.10 Da sie von vornherein mit den Regierungen kooperieren und zum Teil deren Interessen wahrnehmen, erlangen sie eine beträchtliche Autonomie. In Afrika mit seinen schwachen Staaten können sie zudem die Außenpolitik bestimmen, wobei sie letztlich davon profitieren, dass die europäischen Staaten Afrika den Rücken kehren – mit dem Argument, sie wollten sich nicht in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten einmischen. Im Prozess gegen leitende Angestellte des französischen Erdölriesen Elf wurde deutlich, dass deren Vertreter Loïc Le Floch-Prigent mit den angolanischen Rebellen der von Jonas Savimbi geführten Unita verhandelte, während das Unternehmen offiziell die MPLA-Regierung finanzierte.11
Auf dem afrikanischen Sozialforum im Februar 2003 in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba meinte ein Delegierter aus Kongo-Brazzaville ironisch, in seinem Land stünden sich die „demokratische Legitimität“ und die „Erdöl-Legitimität“ gegenüber. Der neu aufgekommene Begriff des „zivilen Neokolonialismus“ beschreibt diese Situation sehr treffend, die durch die Schwächung der Staatsmacht in Afrika entstanden ist.
Noch nie gab es auf dem afrikanischen Kontinent so viele Kämpfe und Krankheiten, so viel wirtschaftliche Ausbeutung und so viele Untergrundaktivitäten. Die in den letzten 15 Jahren angehäuften Profite sind beispiellos. Die Kürzung der Entwicklungshilfe hat die Staaten den Großunternehmen ausgeliefert. Mehrmals kam die Destabilisierung eines afrikanischen Regimes für die europäischen Länder völlig überraschend. Entsprechend konnten sie erst im Nachhinein versuchen, die Lage in den Griff zu bekommen. Dabei griffen sie dann vorzugsweise auf die bewährte Methode einer nationalen Versöhnungskonferenz zurück.
In der aktuellen Übergangsphase ist Afrika für die – wenn auch zunächst vorläufige – Lösung seiner Konflikte noch darauf angewiesen, dass sich die Europäer direkt engagieren. Gerade die Hauptstädte Europas und deren Vororte werden zu den Orten, wo die politischen Kreise Afrikas nach Versöhnung suchen, aber letztlich doch nur ihre Entfremdung besiegeln.
Man denke an die Verhandlungen zwischen den Streitparteien der Elfenbeinküste im Pariser Vorort Linas-Marcoussis. Nachdem private Akteure aus West und Ost Konflikte entfacht und Staatsstreiche angezettelt haben, ist früher oder später dann die Initiative der Staaten in West und Ost gefragt, die zwischen den zerstrittenen Parteien vermitteln sollen. Das ist eine im Grunde skandalöse Arbeitsteilung.
Insgesamt kann man sagen, dass die Aktivitäten des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank einerseits und der multinationalen Konzerne andererseits zur wachsenden Instabilität auf dem afrikanischen Kontinent beitragen. Auch das ist Französisch-Afrika. Der 2001 verstorbene Dichterpräsident und Vater der senegalesischen Demokratie, Léopold Sédar Senghor, hatte einst einen anderen Traum, für den Frankreich damals kein Verständnis hatte: ein Eurafrika von gleichberechtigten Partnern. Die Destabilisierung der afrikanischen Staaten liegt dagegen in der Logik einer auf Ungleichheit basierenden Weltordnung, die den öffentlichen Sektor unterminiert.
Man müsste daher nach Mitteln und Wegen suchen, die es ermöglichen, die multinationalen Konzerne sowie die Staatschefs und Kriegsherren, die tatkräftig zu der Destabilisierung beitragen, vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen. Dazu müsste man ein internationales juristisches Organ aus afrikanischen Richtern schaffen, die in finanziellen und ökonomischen Dingen genügend Durchblick haben, um die Kapitalbewegungen aufspüren zu können, über die Staatsstreiche und Rebellionen finanziert werden. Zudem müsste es stärkere Kontrollen bei der Privatisierung staatlich regulierter Märkte in Afrika geben.
Heute zeigt sich in den aktuellen politischen Krisen in Afrika zum ersten Mal das reale Bedürfnis, auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet eine neue afrikanische Einheit zu schaffen. Sie dürfte weder so aussehen wie die ausgediente Organisation für Afrikanische Einheit noch wie die Afrikanische Union; und auch nicht wie die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (Cedeao), die Westafrikanische Wirtschafts- und Währungsunion (Uemoa) oder die Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas (Nepad). Am Ende könnte eine reale – und nicht nur besungene – Einheit des Kontinents aus dem Niedergang der afrikanischen Staaten hervorgehen. Aus einem Desaster, das seit fünf Jahrhunderten andauert und an dem die Afrikaner alles andere als unschuldig sind.
deutsch von Michael Bischoff
* Politologe