16.01.2004

Immer Ärger mit der Verwandtschaft

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Immer Ärger mit der Verwandtschaft

Die europäische Verfassung ist eine Unternehmung bislang ungekannten Ausmaßes. Dass es bei der Umsetzung zu etlichen Schwierigkeiten kommt, ist daher kaum verwunderlich. Doch das Fiasko, das der Gipfel vom letzten Dezember in Brüssel gebracht hat, ist mehr, nämlich ein Symptom der Krise. Im Zuge der Erweiterung von ehedem 6 über 15 auf demnächst 25 Mitgliedstaaten ist die Frage der Entscheidungskompetenzen besonders heikel. Unstrittig ist hingegen, dass das bisherige finanzielle Subventionssystem nicht aufrechterhalten werden kann, da die Mehrzahl der neuen Beitrittsländer eher zur ärmeren Verwandtschaft gehören. Bei der Diskussion um die Zukunft der EU muss es vor allem darum gehen, das Europa des Marktes durch ein Europa der Bürger zu ergänzen und womöglich zu kontrollieren.

Von BERNARD CASSEN

ES ist schon erstaunlich, wie anders manche Europapolitiker nach dem Brüsseler Gipfel vom 12. und 13. Dezember klangen. Unter Vorsitz des italienischen Ratspräsidenten Silvio Berlusconi sollte die Versammlung des Europäischen Rats – dem die Staats- und Regierungschefs der Fünfzehn und ab 1. Mai dieses Jahres auch der zehn Neumitglieder angehören – als Meilenstein in die Geschichte Europas eingehen. An die Stelle der bisherigen EU-Verträge1 sollte das Verhandlungsergebnis des Konvents2 , der so genannte Verfassungsvertrag treten. Im Vorfeld wurde vor einem Scheitern der Konferenz, die dem bisherigen Einigungsprozess angeblich den Gnadenstoß versetzen würde, allseits eindringlich gewarnt.

Die Spannung stieg mit jedem Tag. Doch schon am frühen Nachmittag des 13. Dezember, 24 Stunden vor dem geplanten Ende des Gipfels, erklärte Berlusconi das Treffen angesichts fortbestehender Meinungsverschiedenheiten für beendet und reiste schleunigst nach Italien zurück, um sich ein Fußballspiel anzuschauen. Das Treffen war gescheitert, aber zur allgemeinen Überraschung wollte das jetzt niemand mehr ganz so dramatisch sehen. „Es gibt keine crise mit einem großen C“, meinte der französische Staatspräsident Jacques Chirac und gab damit den Tenor vor.

Bestand also im Grunde – und anders als uns einige vorschnell einreden wollten – gar keine Gefahr im Haus der Fünfundzwanzig? Die Chronik des europäischen Einigungsprozesses ist voller solcher Episoden, bei denen künstlich herbeigeredeter Handlungsbedarf und medial inszenierte Fristen als Druckmittel dienten, um eine Verhandlungsrunde zum Abschluss zu bringen. Tradition hat auch schon eine Vorgehensweise, für die der in Brüssel einstweilen gescheiterte Prozess nur ein weiteres Beispiel liefert: die Flucht nach vorn in die Erweiterung der Gemeinschaft, ohne dass man im Vorfeld die nötigen institutionellen Anpassungen beschlossen hätte. So war es schon beim Übergang der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Europäischen Union im Jahre 1993, und so war es auch bei der Osterweiterung auf 25 Mitgliedstaaten, die am 1. Mai 2004 Wirklichkeit wird. Wobei im letzteren Fall nicht einmal die notwendigen Konsequenzen für den EU-Haushalt mitbedacht wurden.

Überdies zeugt die Arbeit des Verfassungskonvents und der Regierungskonferenz von einem Demokratiedefizit, das die Geschichte der Gemeinschaft von Anfang an prägt, sich aber seit den Achtzigerjahren noch vergrößert hat, und zwar ganz besonders seit der 1986 verabschiedeten Europäischen Einheitsakte. Seitdem gilt der Wirtschaftsliberalismus, der sich immer ungehemmter entwickelt, nicht etwa als eine mögliche Ideologie oder Option unter anderen, die einer Mehrheitsentscheidung zu unterziehen wäre, sondern als Acquis communautaire, als der gemeinschaftliche Besitzstand, der jeder weiteren Diskussion oder gar Infragestellung enthoben ist.

Die Devise lautete also, die Regierungskonferenz müsse sich vor In-Kraft-Treten der Osterweiterung am 1. Mai 2004 unter allen Umständen auf einen Vertrag einigen, der die Funktionsweise der auf 25 Mitglieder anwachsenden Union festlegt. Das klingt gewiss wie ein Gebot des gesunden Menschenverstands. Doch weit weniger vernehmlich folgte sodann der Hinweis, dass die neuen Regeln erst 2009 in Kraft treten sollten. Mit anderen Worten: Die erweiterte Union würde ohnehin noch weitere fünf Jahre auf der Grundlage des im Dezember 2000 verabschiedeten Vertrags von Nizza funktionieren müssen.

Es gab also in Brüssel gar keinen Handlungsbedarf im zeitlichen Sinne, wohl aber eine gewissermaßen logische Notwendigkeit. Diese logische Notwendigkeit hat eine funktionelle und eine – wichtigere – politische Seite. Wenn die Fünfundzwanzig ihre Arbeit in diesem Frühjahr auf einer institutionellen Grundlage aufnehmen, die nach allgemeinem Dafürhalten nicht tragfähig ist und auf absehbare Zeit auch nicht verbesserungsfähig erscheint, besteht die Gefahr einer allgemeinen Lähmung. Gleichzeitig werden Länder wie Spanien und Polen, denen der Vertrag von Nizza ein überproportionales politisches Gewicht zugesteht (siehe Kasten links), in Zukunft immer weniger geneigt sein, auf ihre einmal errungene Machtposition zu verzichten.

Völlig unabhängig von seinem ideologischen Gehalt ist dem in Brüssel vorliegenden Verfassungsentwurf des Konvents3 zugute zu halten, dass er eine institutionelle Bereinigung vornimmt, die eigentlich schon 1995 fällig gewesen wäre, als Österreich, Finnland und Schweden der Union beitraten. Die Kommission hatte dies damals auch ausdrücklich gefordert. Doch selbst die späteren EU-Verträge von Amsterdam (1997) und Nizza (2000) ließen die Erkenntnis vermissen, dass ein institutionelles Modell, das 1957 für sechs Mitgliedstaaten entworfen wurde, den späteren Anforderungen immer weniger genügen könne.

Auf einige der vom Konvent vorgeschlagenen Neuerungen konnte sich die Regierungskonferenz einigen. So soll der Ratspräsident, der bisher im Halbjahresturnus wechselte – in diesem Jahr sind zunächst Irland und dann die Niederlande an der Reihe –, sein Amt in Zukunft zweieinhalb Jahre lang wahrnehmen, mit der Möglichkeit, das Mandat einmal zu verlängern. Darüber hinaus ernennt der Rat einen Minister für Auswärtige Angelegenheiten, der zugleich als Vizepräsident der Kommission amtiert.

Als dritte Neuerung wurde die Zahl der stimmberechtigten Kommissionsmitglieder auf fünfzehn reduziert. Damit bleiben neben dem Präsidenten, der auf Vorschlag des Rats vom Parlament gewählt wird, dem Vizepräsidenten und dem Außenminister nur noch zwölf stimmberechtigte Kommissare übrig; zehn Mitgliedstaaten werden also über keinen „vollwertigen“ Kommissar mehr verfügen. Dahinter steht eine Überlegung, die dem Geist und Buchstaben der Verträge endlich voll gerecht wird: Zwar werden die Kommissare von ihrer Regierung ernannt, doch sind sie einmal im Amt, wird von ihnen erwartet, dass sie ihre „nationalen“ Reflexe ablegen und „europäisch“ denken. Theoretisch spielt es also keine Rolle mehr, welcher Nationalität die Kommissare sind, sie könnten sogar – absurd überspitzt – allesamt aus demselben Land kommen. Aber all das ist natürlich reine Theorie, denn in Brüssel weiß jeder, dass beispielsweise die britischen Kommissare, ein Konservativer und ein Labour-Mitglied, an einem Strang ziehen, sobald es um – vermeintliche – britische Interessen geht.

Das Tauziehen um die Machtverteilung zwischen den Mitgliedstaaten hat die Union schließlich in die Sackgasse geführt, in der sie jetzt steckt. Dabei geht es hauptsächlich um die Bestimmungen über eine qualifizierte Mehrheit (siehe Text rechts). Was die Verteilung der Kommissariate betrifft, so ist am Ende ein Kompromiss vorstellbar, bei dem jedes Land einen Kommissar stellen darf. Damit würde aber die Brüsseler Exekutive auf 25 Mitglieder anwachsen, oder sogar auf 31, falls die sechs „großen“ Länder – die fünf derzeitigen plus Polen – wie bisher zwei Kommissare bekämen. Das aber würde zu einer stark aufgesplitterten Verantwortlichkeit und damit bestimmt zu großer Ineffizienz führen.

Es geht insgesamt also um die Neuverteilung der Machtbefugnisse. Aber welche Befugnisse stehen überhaupt zur Debatte? In den Diskussionen der Regierungskonferenz ging es hauptsächlich um ein Dutzend Artikel des Verfassungsentwurfs, der in seinen ersten drei Teilen 342 Artikel, im vierten Teil („Allgemeine und Schlussbestimmungen“) 10 weitere Artikel und dazu acht Protokolle und Erklärungen umfasst. Verfolgt man die Debatte, so ging es in Brüssel eher um die Machtbefugnisse der Mitgliedstaaten als um die Kompetenzen der EU als solcher – und schon gar kein Thema waren ihre Beziehungen zum Rest der Welt. Mit den großen Fragen der europäischen Zukunft haben die innergemeinschaftlichen Querelen jedenfalls nichts zu tun. Es geht vor allem um Besitzstandswahrung: Wer etwa wie Großbritannien, Irland und Luxemburg wirksame Maßnahmen gegen Sozial- und Fiskaldumping verhindern will, muss dafür sorgen, dass die entsprechenden Entscheidungen nur einstimmig gefällt werden können. Dasselbe gilt für Frankreich im Kulturbereich: Schließlich kann den EU-Partnern der Erhalt der französischen Film- und Musikindustrie ziemlich egal sein. Und wenn Frankreich die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), die vor allem den eigenen Großbauern zugute kommt, möglichst lange fortschreiben will, muss es eine Sperrminorität gegen die GAP organisieren. Klar ist auch, dass sich Spanien selbst nach dem Beitritt der zehn Neumitglieder, die wirtschaftlich viel schlechter dastehen, nach wie vor großzügig aus den Struktur- und Kohäsionsfonds bedienen will. Keine Frage auch, dass Malta und Zypern Griechenland unterstützen werden, wenn es darum geht, verschärfte Sicherheitsbestimmungen für den Seeverkehr durchzusetzen.

Was die EU-Außen- und Sicherheitspolitik anbelangt, so ist diese schon dadurch gelähmt, dass die Mehrheit der Unionsmitglieder fast reflexhaft auf eine „atlantische“ Loyalität festgelegt sind. Das schlägt sich auch in dem Verfassungsentwurf nieder, der dem Nato-Oberkommandierenden ausdrücklich das Recht einräumt, europäische Verteidigungsinitiativen zu blockieren. Manche Kommentatoren hätten gern, dass wir uns vor Begeisterung überschlagen, weil George W. Bush und Tony Blair netterweise bereit waren, mit Frankreich und Deutschland ein vage formuliertes Abkommen über die Schaffung einer „kleinen Europazelle“ im Nato-Hauptquartier im belgischen Mons zu unterzeichnen. Besagtes Abkommen sieht großzügigerweise vor, dass auch innerhalb der EU eine „Zelle“ gegründet werden darf, die sich mit „strategischen Planungen im Vorfeld militärisch-ziviler Operationen“ befasst.

Man muss sich schon viel Mühe geben, um in solchen Schritten zaghafte Ansätze zu einer „eigenständigen europäischen Verteidigungspolitik“ zu sehen, die diesen Namen verdienen würde. Und wie steht es um die Möglichkeit, dass einige Mitglieder die Entwicklung durch „verstärkte Zusammenarbeit“ vorantreiben, ohne auf den Rest des Vereins zu warten? Dem stehen schon die Bestimmungen des Verfassungsentwurfs (Artikel I-43) entgegen, die für diesen Fall erstens einen Ratsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit vorschreiben, und zweitens die Beteiligung von mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten voraussetzen. Die Frage lautet konkret also, ob es neun Unionsmitglieder gibt, die sich der Vormundschaft Washingtons entziehen wollen. Die Antwort ist allgemein bekannt.

Sollte der vorliegende Entwurf doch noch verabschiedet werden (vielleicht entwickelt die irische Ratspräsidentschaft ja mehr Verhandlungsgeschick als die italienische), stellt sich eine weitere Frage: Wie viel Handlungsspielraum bliebe einer Regierung, die etwa die ultraliberale Ausrichtung der EU-Innen- und Wirtschaftspolitik und deren Verlängerung in die nationale Gesetzgebung revidieren wollte? Nehmen wir das Beispiel der Liberalisierung der französischen Post oder der Unterstützung strategisch wichtiger Unternehmen, die wie der französische Energie- und Transportkonzern Alstom vom Bankrott bedroht sind.

Der EU-Vertrag firmiert unter der Bezeichnung Verfassung, doch er sieht nicht eines der zentralen Merkmale vor, die eine Verfassung ausmachen. Die Wahl einer konstituierenden Versammlung ist darin nicht vorgesehen, ebenso wenig die Möglichkeit eines Politikwechsels. Der große Schwindel wird schon darin offenbar, dass Abschnitt III des Dokuments, aber auch einige Artikel in Abschnitt I nichts anderes tun, als die derzeitige EU-Politik samt ihres ideologischen Überbaus festzuschreiben.

Eine Verfassung bestimmt normalerweise den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen verschiedene oder auch ganz konträre Politikansätze verfolgt werden können. Im vorliegenden Fall aber werden nicht nur formale Verfahren, sondern auch bestimmte Inhalte „konstitutionalisiert“, also verfassungsförmig fixiert. Das gilt etwa für das Primat des „freien unverfälschten Wettbewerbs“, dem sich auch die öffentlichen Dienstleistungen unterzuordnen hätten, oder für die Behauptung, der Freihandel diene dem „Gemeinwohl“, oder für das Verbot jeder Einschränkung des freien Kapitalverkehrs, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) und ähnliche Prinzipien. Sie alle figurieren nicht als Meinung, mit der man einverstanden sein kann oder auch nicht, sondern als satzungsmäßige Zielvorgaben, die den gleichen Rang haben wie zum Beispiel die Verpflichtung auf den Erhalt des Friedens oder wie die Förderung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts.

Der ultraliberale Geist, in Marmor gemeißelt

JEDE Modifizierung dieser Zielvorgaben erfordert in Zukunft eine Revision des Verfassungsvertrags. In Artikel IV-7 heißt es hierzu: Änderungen „treten in Kraft, nachdem sie von allen Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden sind“. Der ultraliberale Geist des Vertrags ist damit gleichsam in Marmor gemeißelt: Wenn auch nur eine der 25 Regierungen Einwände hat, ist ein Änderungsvorschlag durchgefallen. Dass Parteien, die sich das ultraliberale Wirtschaften auf die Fahne geschrieben haben, diese inhaltliche Festlegung begrüßen, liegt auf der Hand. Weniger verständlich erscheinen die begeisterten Bekundungen von Politikern anderer Parteien. Das gilt etwa für die sozialistische Exministerin Elisabeth Guigou, die sich über die „naserümpfenden“ Kritiker mokierte und befand: „Wir müssen die europäische Verfassung retten. Für die europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten ist dies eine historische und politische Pflicht.“4 Andere Befürworter des Entwurfs räumen zwar ein, dass für Teil III, der „die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union“ regelt, ein vereinfachtes Änderungsverfahren angebracht wäre. Das Problem der „wirtschaftsliberalen Einfärbung“ der Verfassung aber wäre damit nicht gelöst, denn ähnliche Bestimmungen finden sich auch in anderen Teilen des Verfassungstexts. Hier würde nur eine generelle Korrektur Abhilfe schaffen.

Die Vertagung der Regierungskonferenz auf unbestimmte Zeit ist eine neuerliche Flucht nach vorn. Denn es wird nicht leicht sein, auf der Grundlage der Beschlüsse von Nizza – und in einer nicht sehr harmonischen Atmosphäre – mit künftig 25 Vollmitgliedern zu arbeiten. Allerdings kommt die abermalige Fristverlängerung vielen Mitgliedern gerade recht. Denn wenn der Verfassungsentwurf vor den Europawahlen im Juni noch nicht verabschiedet wäre, könnten Gegner wie Befürworter auf gemeinsamen Listen kandidieren und ihre Zwistigkeiten auf die Zeit nach der Wahl vertagen. Auch müsste sich Frankreichs Staatspräsident Chirac nicht entscheiden, ob er seine Zusage, die Ratifizierung per Referendum absegnen zu lassen, tatsächlich einhalten soll. Auf der anderen Seite kommt die Verzögerung auch den Kritikern zugute, die ein anderes Europa für möglich, ja für notwendig halten (siehe Beitrag auf Seite 4).

Einstweilen sollten wir versuchen, den Verfassungstext breit bekannt zu machen, damit möglichst viele Bürger die Tragweite der anstehenden Entscheidung ermessen können. Die europäische Dimension im Alltag jedes einzelnen EU-Bürgers muss deutlicher ins Bewusstsein rücken. Wer weiß denn schon, dass die meisten Gesetze, die von den Parlamenten beschlossen werden und das Leben der EU-Bürger bestimmen, nicht auf Initiative ihrer Regierung oder ihrer Volksvertreter zurückgehen, sondern auf das, was der Rat der Fünfzehn beschlossen hat. Viele der „Reformen“, die in Frankreich in jüngster Zeit verabschiedet wurden oder in Vorbereitung sind – der Umbau der Alterssicherung, die liberale Dezentralisierung des Bildungswesens, das Statut des Stromversorgers EDF, die sozialen Sicherungssysteme – gehen auf Beschlüsse der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank zurück, die wiederum nur durchreichen, was die Weltbank, der Internationale Währungsfonds oder die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung entschieden haben.

Dass viele Politiker, auf der Linken wie auf der Rechten, nicht erpicht darauf sind, ihren Wählern die Inhalte des Verfassungsentwurfs ausführlich darzulegen, ist verständlich. Denn dann würde man sofort erkennen, dass die Herrschaften in Brüssel der Union und ihren Mitgliedstaaten abermals eine neoliberale Rosskur verordnen wollen. Europa ist krank, und wer sich unter Europa etwas anderes vorstellt als das schmächtige Geschöpf, das es derzeit ist, muss dafür sorgen, dass der Patient wieder zu Kräften kommt.

deutsch von Bodo Schulze

Fußnoten: 1 Gemeint sind die Römischen Verträge von 1958, die Europäische Einheitsakte von 1986, der Vertrag von Maastricht von 1992, der Vertrag von Amsterdam von 1997 sowie die Beschlüsse von Nizza aus dem Jahr 2000. 2 Dazu Bernard Cassen, „Une convention européenne conventionnelle“, Le Monde diplomatique, Juli 2002; ders., „Die fehlende Hälfte der EU-Verfassung“, Le Monde diplomatique, Juli 2003. 3 Die EU hat den Verfassungsentwurf auf ihrer Webseite veröffentlicht: http://european-convention.eu.int/docs/Treaty/cv00850.de03.pdf. Text und Kommentar finden sich auch in folgenden drei Buchveröffentlichungen: Valéry Giscard d‘Estaing, „Constitution pour l‘Europe“, Paris (Fondation Robert Schuman/Albin Michel) 2003. Die 75-seitige Einleitung aus der Feder des Konventsvorsitzenden sucht den Leser aufzuklären und zu begeistern – und den Autor in ein vorteilhaftes Licht zu rücken. Denselben Ansatz verfolgt Olivier Duhamel, „Pour l‘Europe. Le texte intégral de la Constitution expliqué et commenté“, Paris (Seuil) 2003. Der Sozialist, der ebenfalls im Konvent saß, veröffentlicht hier 146 Seiten aus seinem Tagebuch und wendet sich vorsorglich gegen die „beklagenswerte Aggressivität der Populisten“, die gegen seine Darstellung etwas einzuwenden haben könnten. Immerhin besitzt das Buch ein hervorragendes Stichwortverzeichnis. Die dritte Veröffentlichung – „Vers une Constitution européenne“, Paris (10/18) – umfasst neben dem Vertragstext eine Einleitung des Diplomaten Étienne de Poncin, dessen ausführliche Kommentare nüchtern und faktenorientiert ausfallen. Ein Stichwortverzeichnis fehlt dem Buch allerdings leider. 4 Elisabeth Guigou und Yann Saccucci, „Il faut sauver la Constitution européenne“, Le Monde, 19. Dezember 2003.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2004, von BERNARD CASSEN