16.01.2004

Modell Deutschland – warum ist der Reifen platt

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Modell Deutschland – warum ist der Reifen platt

ALLE Parteien in Deutschland wollen den „Reformstau“ auflösen, der angeblich den Wirtschaftsaufschwung blockiert. Die Gewerkschaften sind trotz defensiver Lohnpolitik unter Druck wie nie zuvor. Wer widerspricht noch dem liberalen Credo, wonach nur forcierte Deregulierung und radikaler Sozialabbau zu neuen Investitionen führen. Doch dieses Argument verkennt die Investitionshemmnisse der Vergangenheit – und übersieht, dass die Zukunft gerade dann bedroht ist, wenn die soziale Stabilität des deutschen Modells verspielt wird.

Von Heiner Ganßmann *

Deutschland hinkt seit einiger Zeit als der kranke Mann Europas daher. Die Symptome: hohe Arbeitslosigkeit, stagnierende Wirtschaft. Niedriges Wachstum und niedrige Beschäftigung, dazu der Alterungsprozess, zehren den Sozialstaat aus. Das schrumpfende Umverteilungspotenzial wiederum bedroht die relativ egalitäre Einkommensverteilung, durch die sich die Bundesrepublik lange von anderen reichen Ländern unterschieden hat.

Zudem gilt die Seuche, die den kranken Mann Europas heimsucht, auch noch als infektiös: Wenn der deutschen Wirtschaftslokomotive der Dampf ausgeht, bleibt der ganze Euro-Zonen-Zug stehen. Für dieses Elend muss es Schuldige geben. Alljährlich treiben Experten, voran der Sachverständigenrat, die üblichen Verdächtigen zusammen: die unbewegliche, vom Sozialstaat verwöhnte Gesellschaft, den unflexiblen Arbeitsmarkt und natürlich die Gewerkschaften.

Die Reaktionen auf diese Routineübungen sind längst genauso routiniert. Auf die Forderungen nach weit reichenden „Reformen“, wie sie etwa von der OECD kommen – und durch die Medien handlich verpackt weitergereicht werden –, antwortet die Politik wie auf Zuruf, aber mit Stückwerk. Ein wenig Deregulierung hier, ein paar Kürzungen dort und so weiter. Seit den 1980er-Jahren sind die Politiker bewegungsunfähig, weil sie in einer Entscheidungsfalle stecken: entweder neoliberalen Ratschlägen folgen oder die nächste Wahl gewinnen. Allein die Finanzklemme zwingt zu riskanten Entscheidungen, die einer fatalen Logik folgen: Haushaltskürzungen dämpfen die Wirtschaftsaktivität, damit wächst die Zahl der Sozialstaatsklienten. Weil aber weniger Beschäftigte Beiträge zahlen, werden die sozialstaatlichen Programme genau dann teurer, wenn die Einnahmen zurückgehen.

Auf die verschärfte Finanzklemme hat der Staat drei mögliche Antworten: Einnahmen erhöhen, mehr Schulden machen oder die Ausgaben kürzen.

1. Da Steuern oder Sozialbeiträge kaum erhöht werden können, ohne die Abwärtsspirale des wirtschaftlichen Aktivitätsniveaus zu verstärken, gibt es für Einnahmesteigerungen keinen Spielraum.

2. Der Alternative, gezielt mehr Schulden zu machen, stehen nicht so sehr die mittlerweile aufgeweichten Maastricht-Kriterien entgegen als vielmehr die erwartbaren Reaktionen der Europäischen Zentralbank. Wie die Bundesbank in den 1990er-Jahren auf die beschleunigte Staatsverschuldung in der Ära Kohl mit dem Tritt auf die Zinsbremse reagierte, wird auch die EZB eine drastische Erhöhung der Staatsverschuldung mit Zinssteigerungen beantworten. Diese deflationär wirkende Zinspolitik hat bereits riesige Wohlfahrtsverluste verursacht, indem sie Produktion und Beschäftigung in Deutschland und weiten Teilen der EU dämpft.

Dennoch sind die Zentralbanker bereit, im politischen Spiel um die Vermeidung von Verantwortung den Schwarzen Peter zu übernehmen. Sie wollen niedrige und stabile Inflationsraten. Jeder Konflikt, der zu unvereinbaren Ansprüchen an das Volkseinkommen und damit zur Inflation führen könnte, muss unterdrückt werden, egal ob der Patient nach erfolgreicher Operation tot ist oder nicht. Deficit-Spending ist nicht erlaubt. Und die dennoch unvermeidlichen öffentlichen Defizite müssen dazu dienen, die Notwendigkeit von Ausgabenkürzungen zu demonstrieren.

3. Als einziger Ausweg aus der Finanzklemme bleiben nach der herrschenden „Logik“ Etatkürzungen. Das politische Kunsthandwerk im gegenwärtigen Deutschland erschöpft sich im Auffinden von Sparmöglichkeiten, die für die politische Klasse am wenigsten schmerzhaft sind: Die Opfer der Einsparungen sollen entweder nicht merken, dass sie Opfer sind, oder so bei Laune gehalten werden, dass sie sich nicht an der politischen Klasse „rächen“ – durch Entzug der Wahlstimme oder durch Abwanderung. Daher nehmen die Politiker zu Argumenten Zuflucht, die den Betroffenen vorspiegeln sollen, ihre Opfer seien nur temporär oder aber fürs Gemeinwohl zwingend notwendig.

Bei der Suche nach solchen Argumenten bieten sich willige Helfer aus der Wissenschaft an. Ökonomen wie Hayek oder Friedman haben die Rechtfertigung für eine einfache, universell anwendbare Rezeptur geliefert. Die wichtigsten Ingredienzien: knappes Geld, weniger Staat, weniger Steuern, ein flexibilisierter Arbeitsmarkt. Die Politiker sollen deregulieren, privatisieren, die nationale Wirtschaft für den Weltmarkt öffnen, um Wachstum und Wohlstand für alle zu fördern.

Bemerkenswerterweise sind diese Anweisungen so gestrickt, dass man nie wissen kann, ob man sie ausreichend befolgt hat. So kann etwa der Staat, solange es ihn überhaupt gibt, immer noch weiter schrumpfen. Bei ausbleibendem Erfolg der Rezeptur lässt sich dann immer aufs Neue behaupten, die sozialstaatlichen Leistungen und die Barrieren für Kapitalmobilität seien eben noch nicht hinreichend abgebaut, und selbstredend seien die Steuern noch immer zu hoch.

Den größten Coup im Spiel um die Rechtfertigung von Ausgabenkürzungen landete die politische Klasse, die in dieser Frage offenbar keine Parteien mehr kennt, mit der Umdefinition des Sozialstaats. Dieser galt lange Zeit als wichtige Institution zur Lösung wirtschaftlicher Probleme. Inzwischen wird er weithin selbst zum Kernproblem erklärt. Im deutschen Fall soll er schuld sein an der Starrheit des Arbeitsmarkts, also an der Arbeitslosigkeit, also an der wirtschaftlichen Stagnation. So argumentieren etwa die Ökonomen der Deutschen Bank. Sie nennen als Hauptprobleme des deutschen Arbeitsmarkts: – die Schere zwischen Brutto- und Nettolöhnen, die durch hohe Steuern und hohe Sozialversicherungsbeiträge entsteht; – die hohen Reallöhne, die durch eine zu stark auf die Verteilung starrende Lohnpolitik durchgesetzt wurde; – eine zu geringe Lohndifferenzierung zwischen Sektoren und Regionen, aber auch zwischen unterschiedlichen Qualifikationsgruppen; – einen zu starker gesetzlicher Kündigungsschutz; – zu hohe Hürden für eine höhere Arbeitszeitflexibilität; – zu schwache Arbeitsanreize durch zu hohe Lohnersatzleistungen für Arbeitslose und Sozialhilfebezieher.

Wie hängen in diesem Weltbild all die skizzierten Probleme zusammen? In der wunderbar gehobenen Sprache der diensttuenden Ökonomen: „Letztlich haben die niedrige Erwerbsbeteiligung älterer Arbeiter, die hohe Arbeitslosigkeit bei den niedrig Qualifizierten und der vergleichsweise hohe Anteil nicht vermarkteter Hausarbeit alle denselben Grund: der hoch entwickelte Sozialstaat mit hohen Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen.“ Wegen der zu großzügigen Sozialleistungen leidet folglich die deutsche Wirtschaft nicht etwa an Arbeitslosigkeit, sondern an einem „kosteninduzierten Rückgang von Arbeitsinputs“. Ihren gedanklichen Gipfel erklimmt die Diagnose zur Misere der 1990er-Jahre mit der empirisch kühnen Behauptung: „Die Anbieter von Arbeit als Produktionsfaktor waren die großen Gewinner der letzten Jahrzehnte.“1 Da staunen nicht nur die vermeintlichen „Gewinner“. Fragen wir also: Wie haben sich Wirtschaft und Löhne in den letzten 15 Jahren tatsächlich entwickelt? Natürlich muss jeder Versuch einer Antwort mit der deutschen Vereinigung beginnen.

Vielleicht werden sich die Gebiets- und Bevölkerungsgewinne für die Bundesrepublik irgendwann als wirtschaftliche Vorteile herausstellen. Bisher waren sie eine Belastung. Die neuen Länder machen etwa 30 Prozent des Territoriums und 20 Prozent der Bevölkerung aus, haben aber 1992 weniger als 8 Prozent der Wirtschaftsleistung erbracht. Nach der Vereinigung sackte im Osten die Wirtschaftsaktivität ab.

Die Beschäftigung schrumpfte rapide von fast 10 Millionen 1989 auf weniger als 6 Millionen. Nach der Deindustrialisierung in den frühen 1990er-Jahren gab es zwar immer noch eindrucksvolle Wachstumsraten. Doch die rührten – außer vom niedrigen Ausgangsniveau – vor allem von der Überausdehnung des Bausektors, der durch Subventionen, Steueranreize und öffentliche Infrastrukturinvestionen aufgebläht wurde.

Die Kosten der Vereinigung

DANN blieb der Prozess des Angleichens stecken. Seit 1997 ist das ostdeutsche Wirtschaftswachstum niedriger als das schwache westdeutsche: Der Abstand zwischen beiden Teilen des Landes wächst. Die Arbeitslosenrate ist mehr als zweimal so hoch, die Produktivität liegt sogar in Betrieben mit hochmoderner Kapitalausrüstung deutlich niedriger als erwartet.

Kurzum, die Vereinigung brachte nicht den Take-off des Ostens, sondern gebremstes Wachstum im Westen. Die Kosten belasteten vor allem die westdeutschen Sozialprogramme, die auf den Osten ausgedehnt wurden. Sozialtransfers machen mehr als 50 Prozent der öffentlichen Bruttotransfers in die neuen Länder aus. Die Nettotransfers während der gesamten 1990er Jahre entsprachen 4,5 Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Der Vereinigungseffekt lässt sich am steilen Anstieg der Sozialleistungsquote ablesen. Diese stieg zwischen 1990 und 1995 rapide von 22,2 Prozent des BIP auf 32,2 Prozent an und blieb seitdem etwa auf diesem Niveau.2 Erstaunlicherweise wurden die zusätzlichen Transfers nicht über zusätzliche allgemeine Steuern finanziert – was ihren „gemeinschaftlichen“ politischen Charakter unterstrichen hätte. Nach 1990 ist die gesamte Steuerbelastung – als Anteil am Bruttoinlandsprodukt – nicht gewachsen; nur ihre Zusammensetzung hat sich verändert, weil die Kapital- und Selbstständigeneinkommen entlastet, die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung hingegen belastet wurden.

Statt über Steuern wurden die Transferleistungen von West nach Ost durch erhöhte Sozialversicherungsbeiträge und eine rapide steigende öffentliche Verschuldung finanziert. Solange die ostdeutsche Wirtschaftsmisere als vorübergehend galt – man durchquerte ja das „Tal der Tränen“ in Richtung der „blühenden Landschaften“ –, tolerierte die Bundesbank die starke Neuverschuldung. Zunächst strömten reichlich Investitionen in die neuen Länder, doch das änderte sich mit der Rezession 1993. In ganz Deutschland gingen die Investitionen zurück, das Wachstum im Osten blieb ab 1997 hinter dem im Westen zurück. Damit zerstob jeder Rest von Hoffnung, die hohen Transferbelastungen könnten bald überflüssig werden.

Von 1991 bis 2001 wuchs die gesamtdeutsche Wirtschaft jährlich um 1,5 Prozent – schwächer als alle anderen OECD-Länder außer der Schweiz und Japan. Da das Wirtschaftswachstum nicht ausreichte, die Beschäftigung mehr als marginal und vorübergehend zu erhöhen, belastete die wachsende Arbeitslosigkeit zusätzlich die sozialstaatlichen Kassen. Die Arbeitslosenquote stieg 1993 auf zuvor nie erreichte 7,7 und 1997 sogar auf 9,7 Prozent. Bis 2000 sank sie langsam wieder auf 7,8 Prozent, seitdem steigt sie erneut an.

Diese Arbeitslosigkeit drückt – wie nach dem Lehrbuch – auf die Löhne, doch wird dieser Druck erst sichtbar, wenn man die Nettoreallöhne betrachtet (statt der für die Einkommensbezieher uninteressanten Bruttolöhne). Während das reale Bruttoinlandsprodukt um 15 Prozent und die Produktivität pro Arbeitsstunde um fast 21 Prozent wuchsen, schrumpften die durchschnittlichen jährlichen Nettoreallöhne von 1991 bis 2002 um 2,6 Prozent. In diesem Zeitraum wuchs die Steuer- und Sozialversicherungsbelastung der Löhne um 56,4 Prozent. Die Schere zwischen Brutto- und Nettolöhnen hat sich in der Tat immer weiter geöffnet. Das heißt, dass die deutschen Arbeitnehmer ihr verfügbares Realeinkommen seit langem nicht mehr verbessern konnten. Dieses lag 1978 im Durchschnitt schon genauso hoch wie 2002. Abzulesen ist dieser Lohndruck auch am Anteil der Nettolöhne an den durchschnittlichen verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte, der von 1991 bis 2002 von 49,6 auf 43,4 Prozent zurückging, während der Anteil der Kapital- und Selbstständigeneinkommen von 27,9 auf 29,9 Prozent und der Anteil der (überwiegend staatlichen) Nettotransferleistungen von 22,6 auf 26,7 Prozent stieg. Der Rückgang des Lohnanteils lässt sich also zu zwei Drittel auf den wachsenden Anteil der öffentlichen Transfers zurückführen.3

Welche Folgen haben der Rückgang des Lohnanteils und die Stagnation der Nettoreallöhne? Für die Haushalte der „Anbieter des Produktionsfaktors Arbeit“ hängt das von der Zusammensetzung ihrer verfügbaren Einkommen ab. Lohnverluste könnten durch wachsende Kapitaleinkommen oder sozialstaatliche Transferleistungen kompensiert werden. Aber das ist unwahrscheinlich. Auch in Deutschland ist ja die Vermögensverteilung deutlich ungleicher als die Einkommensverteilung, so dass der weit überwiegende Teil der Kapitaleinkommen den Spitzenverdienern zugute kommt. Zugleich konzentrieren sich die sozialstaatlichen Transfers auf die Älteren: 77,5 Prozent davon gehen an die über 51-Jährigen, 55, 2 Prozent an die über 65-Jährigen.4 Diese Verteilung der Kapital- und der Transfereinkommen zeigt: Der sinkende Anteil der Nettoeinkommen aus abhängiger Beschäftigung an den Gesamteinkommen der privaten Haushalte bedeutet reale Einkommensverluste für die Haushalte der Lohnabhängigen.

Dagegen ließe sich allenfalls aufrechnen, dass diese Verluste durch mehr Freizeit kompensiert werden. Immerhin sind die durchschnittlichen jährlichen Arbeitsstunden, soweit statistisch erfasst, von 1991 bis 2002 um 6,3 Prozent zurückgegangen. Da die Nettoreallöhne nur um 2,6 Prozent fielen, profitierte der Durchschnittslohnabhängige also von seiner höheren Produktivität und dem Wirtschaftswachstum bestenfalls in Form von etwas mehr Freizeit. Zudem ist die Frage, ob diese Arbeitszeitreduktion freiwillig zustande kam. Dagegen spricht, dass der Rückgang im Gesamtarbeitsvolumen von 60 auf 56 Milliarden Stunden dem Überschuss des Produktivitäts- über das Wirtschaftswachstum entspricht.

Das heißt im Klartext: Bei sehr niedrigem Wirtschaftswachstum und hoher Arbeitslosigkeit konnten die Lohnabhängigen kaum ihr Nettorealeinkommen verteidigen. Sie gerieten in die Verteilungsklemme zwischen wachsenden Steuern und Sozialabgaben auf der einen und wachsenden Kapital- und Selbstständigeneinkommen auf der anderen Seite. Indem der Staat die Vereinigungslasten auf die Löhne abwälzte, war er verantwortlich für die Öffnung der Schere zwischen Brutto- und Nettolöhnen. Die ging so weit, dass Arbeit trotz fallender Nettoreallöhne teurer wurde.

Dennoch war der Staat bemüht, auf keinen Fall die berühmten Arbeitsanreize zu schwächen: Die Ausgaben pro Arbeitslosen sind seit 1996 – sowohl absolut als auch relativ zu den durchschnittlichen Nettolöhnen – deutlich zurückgegangen. Besonders drastisch wurde die Arbeitslosenhilfe gekürzt. Die seit Anfang 2004 geltende Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe treibt diese Entwicklung nur noch weiter voran.

Verglichen mit der Belastung der Löhne durch staatliche Abgaben hält sich die Verantwortung der Gewerkschaften für die angeblich zu hohen Löhne in Grenzen. Wenn es den Gewerkschaften gerade eben gelingt, in einem Vierteljahrhundert mit deutlichem, wenn auch schwachem Wirtschaftswachstum das Niveau der Nettoreallöhne zu halten, kann man nicht im Ernst behaupten, die Löhne hätten nicht ausreichend auf die Arbeitslosigkeit reagiert. Auch wenn die Langzeitarbeitslosen – etwa die Hälfte aller Arbeitslosen – keinen direkten Konkurrenzdruck im Sinne des wirtschaftsliberalen Wunschdenkens ausüben, können die Gewerkschaften aus politischen Gründen die Arbeitslosigkeit nicht ignorieren. Sie haben ihre eigenen Antworten auf das Problem gesucht: Zum einen drängten sie auf Reduktion der Arbeitszeit, um das nachgefragte Arbeitsvolumen auf mehr Personen zu verteilen, zum anderen (im Bündnis mit den Großunternehmen) auf Frühverrentung, um durch Ausscheiden der Älteren den Jungen Arbeitsplätze frei zu machen. Inwieweit diese Strategien die Arbeitslosigkeit und ihre Auswirkungen tatsächlich dämpfen können, bleibt unklar; sicherlich haben sie dazu beigetragen, dass der Mobilisierungsgrad des Arbeitspotenzials relativ niedrig liegt. Hingegen gilt die gängige Behauptung, dass zu hohe Löhnen zu Arbeitslosigkeit führen, zwar für den Osten, wo die Löhne im Verhältnis zur Produktivität zu hoch sind, aber keinesfalls für Deutschland insgesamt.

Die Behauptung, die Löhne seien zu hoch, stützt sich auf eine der öffentlichen Verwirrung dienende, aber sachlich irreführende Art des Lohnvergleichs: Die Löhne in der Industrie werden im internationalen Vergleich auf Basis der Wechselkurse in Dollar ausgedrückt. Im Hinblick auf die internationale Konkurrenzfähigkeit sind aber die relativen Lohnstückkosten unstrittig die entscheidende Größe. Sie hängen von den Wechselkursen wie von der Arbeitsproduktivität ab, deren Einfluss rein empirisch schwer auseinander zu halten ist. Vergleiche zeigen, dass die industriellen Lohnstückkosten in Deutschland, legt man die nationalen Währungen zugrunde, stärker zugelegt haben als bei den Hauptkonkurrenten, auf Dollarbasis berechnet aber deutlich hinter diesen zurückgeblieben sind. Bei einem Ausgangsindex von 1992 gleich 100 fielen die Lohnstückkosten auf Dollarbasis bis 2001 auf den Index 94,1 in den USA, 89,3 in Japan, 62,6 in Frankreich, 78,7 in Deutschland und 95,3 in Großbritannien.5

Im Übrigen hat die immer wieder geforderte Lohnzurückhaltung in Deutschland nicht einmal stabile Exportvorteile eingespielt. Denn sie führte nach der Rezession von 1993 nicht etwas zu verbesserter Konkurrenzfähigkeit der Exporte, sondern zu einer Aufwertung der Mark. Die Lohnstückkosten auf Dollarbasis stiegen bis 1996 sprunghaft an. Die Konkurrenzfähigkeit, soweit sie überhaupt etwas mit Lohnkosten zu tun hat, verbesserte sich erst, als der Dollar ab 1997 gegenüber der Mark stieg. Offensichtlich hat die gesamtdeutsche Wirtschaft (wie sich beim aktuellen Höhenflug des Euro gegenüber dem Dollar erneut zeigt) weit weniger ein Lohnkosten- als ein Wechselkursproblem.

Fazit: Gegen die Behauptung, für die deutsche Wirtschaftsmisere seien zu hohe Löhne verantwortlich, spricht bereits die Tatsache, dass den Lohnabhängigen und den Arbeitslosen die Hauptlasten des niedrigen Wachstums aufgebürdet wurden. Die die vom gemeinen Sachverstand propagierte Standarddiagnose, dass auf der Liste der deutschen Unpässlichkeiten die Arbeitslosigkeit ganz oben stehe und dass diese auf den unflexiblen Arbeitsmarkt (also auf Sozialstaat und Gewerkschaften) zurückzuführen sei, beruht auf einem Fehlschluss. Robert Solow, Nobelpreisträger für Ökonomie, hat ihn seinen deutschen Kollegen mit dem schönen Vergleich ins Stammbuch geschrieben: „Die einseitige Konzentration auf den Arbeitsmarkt beruht auf dem naiven Glauben, dass Arbeitslosigkeit aus einem Defekt des Arbeitsmarkts entsteht, so als ob das Loch in einem platten Reifen immer unten sein muss, weil dort der Reifen platt ist.“6

Wenn das Loch nicht unten ist, wo ist es dann? Arbeitslosigkeit kann sich nicht nur aus Inflation, der Lohn-Preis-Spirale oder einem „starren“ (sprich: sozial und rechtlich ausgestalteten) Arbeitsmarkt ergeben. Sie kann auch schlicht durch eine Unterausnutzung des Produktionspotenzials, also aus Kapitalmangel entstehen. Die Produktion von Waren und Dienstleistungen erfordert den koordinierten Einsatz von Arbeit und Kapital. Kapitalakkumulation erfolgt durch Nettoinvestitionen. Wenn wegen zu geringer Nettoinvestitionen der Kapitalbestand nicht hinreichend wächst und zugleich die Produktion rationalisiert wird, schrumpft die Nachfrage nach Arbeit.

Genau dies ist der Trend in der Bundesrepublik seit den späten 1970er-Jahren. Der Anteil der Nettoinvestitionen (Investitionen abzüglich Abschreibungen) am Volkseinkommen geht zurück. Nur in den späten 1980er-Jahren – und im kurzen Vereinigungsboom – sah es so aus, als hätte sich der Abwärtstrend gewendet. Der aber setzte sich ab 1993 wieder durch. Man kann zwar behaupten, dass Investitionen auf die Löhne reagieren: Wenn Lohnerhöhungen die Gewinne beeinträchtigen, gehen die Investitionen zurück. Das müsste umgekehrt bedeuten, dass Lohnzurückhaltung über höhere Gewinnen zu höheren Investitionen führt. Im deutschen Fall lief es ganz anders: Die Gewinne stiegen, und die Investitionen gingen zurück.

Wer die deutschen Unpässlichkeiten verstehen will, muss dieses merkwürdige Investitionsverhalten erklären. Ein Teil der Erklärung ist einfach: Die niedrigen Nettoinvestitionen im Inland sind die Kehrseite eines steilen Anstiegs der Kapitalexporte. In der großen Spekulationswelle der späten 1990er-Jahre nahm der Bestand deutscher Direktinvestitionen im Ausland von 301 Mrd. (Ende 1998) auf 628 Mrd. Euro (Ende 2001) zu.7 Wenn wir diesen Zuwachs von 327 Mrd. Euro mit der Summe der gleichzeitigen Inlandsnettoinvestitionen von 372 Mrd. Euro8 vergleichen, begreifen wir Größenordnung und Bedeutung des abfließenden Kapitals.

Zudem nahm die deutsche Spekulation mit ausländischen Wertpapieren bis zum Crash von 2001 rapide zu: Allein von 1999 bis 2000 erhöhte sich der Außensaldo im Handel mit diesen Papieren von -11 auf -161 Mrd. Euro. Dieser negative Saldo bedeutet einen Nettokapitalexport. Und das Volumen an Aktien, die von Deutschen allein in den USA gehandelt wurden, erhöhte sich von 269 Mrd. Dollar 1999 auf 629 Mrd. Dollar 2001. Offensichtlich haben also deutsche Unternehmen und wohlhabende Privatleute einen Großteil der Gewinne, die sie in Deutschland gemacht haben, im Ausland „investiert“.

Auch dafür gibt es eine Standarderklärung. So räumen die Ökonomen der Deutschen Bank ein, dass der Kapitalanteil am Volkseinkommen gewachsen sei. Zugleich behaupten sie, der Ertrag pro Einheit Kapital sei gefallen. Diese sinkenden Ertragsraten sollen erklären, was sie als Ursache für die Arbeitslosigkeit ausgeschlossen hatten: dass die Investitionen zu niedrig seien: „Wenn der Ertrag auf den Faktor Kapital zurückgeht, wird nicht mehr so viel zusätzliches Kapital zur Verfügung gestellt. Wenn gleichzeitig die Investitionsgelegenheiten im Ausland attraktiver sind, wird das Kapital dort eingesetzt.“9

Flieht das deutsche Kapital den deutschen Kapitalismus

AN dieser Erklärung ist angesichts der banalen Tatsache, dass kapitalistische Unternehmen Gewinne maximieren, nichts auszusetzen. Da es nicht an Ressourcen für Investitionen mangelte, war die Entscheidung, nicht in Deutschland zu investieren, schlicht und einfach das Ergebnis attraktiverer Investitionsgelegenheiten im Ausland. Der Kapitalexport ging also vor allem auf die Beobachtung und Erwartung hoher Gewinne in den USA zurück.

Solche Investitionsentscheidungen beruhten einesteils auf strategischen Kalkülen (Ausnutzung von Kostenunterschieden, Marktnähe). Zum andern aber wollten alle an den spektakulären Spekulationsgewinnen teilhaben. Schließlich muss auch die Explosion der Topmanager-Einkommen in den USA für eine neue Generation deutscher Manager eine Versuchung dargestellt haben. Daimler setzte das Signal. Der Merger mit Chrysler brachte den Vorstandsmitgliedern einen Einkommenszuwachs von 466 Prozent. Wer könnte da widerstehen?

Natürlich kam diese Kapitalbewegung in Richtung USA zum Erliegen, als 2001 die spekulative Blase platzte. Aber das hieß keineswegs, dass die deutschen Inlandsinvestititonen wieder zunahmen, im Gegenteil. Damit lautet die Frage: Flieht das deutsche Kapital den deutschen Kapitalismus?

Es ist eine Tatsache, dass 2001, als der Boom an der Wall Street zu Ende ging, eine Menge Geld durch Spekulation versenkt wurde. Doch Kapitalabwanderung kann auch einen ganz anderen Effekt hervorbringen – nämlich indirekt wieder zu profitablen inländischen Investitionsgelegenheiten führen. Denn Investitionszurückhaltung setzt sowohl die abhängig Beschäftigten als auch die Politiker unter enormen Druck. Wer sich in einem Umfeld mit hoher Arbeitslosigkeit von Entlassung bedroht sieht, wird sich mit der Umstrukturierung seiner Arbeitsbedingungen – und der Umverteilung zugunsten der Gewinne – viel eher abfinden. Und Politiker, die in einer immer schärferen Finanzklemme stecken, sind eher bereit, die neoliberale Agenda durchzusetzen. Das zeigt auch die Diskussion um die Agenda 2010 der SPD: Wenn die Investitionszurückhaltung nur lange genug dauert, lassen sich wichtige Bedingungen für höhere Gewinne durchsetzen: weniger Steuern, mehr Deregulierung, geringere Sozialausgaben.

Während einige dieser Bedingungen sich in der Tat „verbessern“, können freilich andere, die bislang die Stärken des deutschen Modells ausgemacht haben, unwiederbringlich verloren gehen. Tatsächlich beruht die deutsche Version des Kapitalismus auf einer Reihe „komparativer institutioneller Vorteile“, die – einmal verschwunden – kaum wieder aufgebaut werden können. In der deutschen „koordinierten Marktwirtschaft“ haben sich Unternehmen mit ihren Produktmarktstrategien traditionell auf einen Rahmen von außermarktlichen Beziehungen zu anderen Unternehmen, Finanzgebern, politischen Akteuren und der Arbeitsbevölkerung verlassen. Dieser stabile Rahmen verbürgt beträchtliche öffentliche Infrastruktur- und Bildungsinvestitionen, ein hohes Maß an sozialstaatlich gewährter Sicherheit und eine konsensuelle Kooperation von Unternehmensleitungen und Belegschaften.

Wird der Rahmen demoliert, müssen die Unternehmen nicht nur in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt, sondern auch am deutschen Standort ganz auf die Marktkoordination setzen und können nicht länger die Vorteile der hergebrachten Koordinationsformen genießen. Sie können dann auch nicht mehr ohne weiteres mit der Loyalität ihrer Beschäftigten und deren Bereitschaft rechnen, in unternehmensspezifische Ausbildung zu investieren.

Liegt es daran, dass Gier blind macht, wenn die Advokaten des neoliberalen Projekts – inner- wie außerhalb des deutschen Managements – diese qualitativen Vorteile übersehen? Oder ist es einfach Naivität, wenn ein großer, maßgeblicher Teil der deutschen Geschäftswelt meint, man könne in den Unternehmensstrategien nach wie vor auf die Vorteile einer koordinierten Marktwirtschaft bauen, aber zugleich schalten, walten und gewinnen wie im US-amerikanischen Modell?

Wenn durch Investitions- und natürlich durch Steuerzurückhaltung und mittels so genannter Reformen die komplementären institutionellen Rahmenbedingungen des „rheinischen“ Kapitalismus zerstört sind, könnten die deutschen Unternehmer recht bald in einer Welt aufwachen, in der sich nicht die Vorteile, sondern die Nachteile beider Kapitalismusvarianten zu einem Horrorbild zusammenfügen: ein geschrumpfter öffentlicher Sektor, der schlechte Leistungen bietet, eine deregulierte Privatwirtschaft mit schwacher Konkurrenz, schließlich eine Bevölkerung, die schlecht ausgebildet ist, und Beschäftigte, die ihre Arbeitsmotivation verloren haben und sich nur widerwillig von gierigen, auf moderne Weise autoritären Managern und ihren Helfern herumkommandieren lassen.

Anders formuliert: Die laufende Abwanderung des deutschen Kapitals könnte eine Abwärtsspirale in Gang setzen, deren destruktive Folgen wir schon aus Ostdeutschland kennen: Die Gründe für die Abwanderung werden umso zwingender, je mehr Menschen abwandern.

Ziemlich trübe Aussichten. Ist irgendwo ein Hoffnungsschimmer in Sicht? Wohl kaum auf Seiten der politischen Klasse. Gemessen an den Problemen der wirtschaftlichen Stagnation und der Arbeitslosigkeit beschränken sich Projekte wie die Agenda 2010 oder die Steuerreform auf symbolischen Aktivismus. Angesichts der finanzpolitischen Kontinuität von Waigel zu Eichel, erscheint schon die Hoffnung auf ein Ende der tumben prozyklischen Wirtschaftspolitik vermessen. Zwar ist die Bundesrepublik mal wieder Exportweltmeister, aber die traditionellen außenwirtschaftlichen Erfolge schlagen nicht nach innen durch.

Abgesehen davon, dass die Exporte demnächst vom weiter fallenden Dollar gebremst werden können. Auch dass ausländische Direktinvestitionen die deutsche Investitionsmisere beheben könnten, ist angesichts des Musters, nach dem solche Investitionen bisher gelaufen sind, kaum zu erwarten. Da es dabei überwiegend um den Ankauf, das Tranchieren und Umorganisieren existierender Unternehmen geht – wie im Fall Mannesmann geschehen –, werden die Beschäftigungseffekte eher negativ ausfallen.

Was bleibt? Es muss deutlich mehr und gezielt beschäftigungswirksam investiert werden. Wie soll das gehen? Entweder man lockt private Investoren über eine Brücke aus weiteren Zugeständnissen zurück. Oder man versucht es mit einer Variante von Angebotspolitik wie die skandinavischen Sozialdemokraten, mit mehr öffentlichen Investitionen. Aber dieser Gedanke erscheint angesichts der politischen Landschaft schon wie blanke Utopie.

* Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin.

Fußnoten: 1 Frankfurt Voice (2002) DB Research, 4. 12. und 23. 12. 2002 (www.dbresearch.com) 2 BMGS 2003, Statistisches Taschenbuch 2003 (www.bmgs.de), Tabelle 1. 17. 3 BMGS 2003, Tabelle 1. 15. bzw. 1. 17. 4 M. F. Förster und M. Pellizari, „Trends and Driving Factors in Income Distribution and Poverty in the OECD Area“, OECD Labour Market and Social Policy – Occasional Papers No. 42, Paris 2000 (www.oecd.org), 5 Bureau of Labor Statistics (des US-Arbeitsministeriums), News 26. February 2003, S. 28 (www.bls.gov). 6 R. M. Solow, „Unemployment in the United States and in Euope. A Contrast and the Reasons“, CESifo working paper Nr. 231, München 2000, S. 5. 7 Bundesbank, Monatsbericht März 2003, S. 52. 8 BMGS 2003, Tabelle 1.19. 9 Frankfurt Voice, DB Research, 4. 12. 2002.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2004, von Heiner Ganßmann