Bombay – the place to be
Tag für Tag lockt Bombay tausende Zuwanderer aus ganz Indien an. Hier suchen sie ihr Glück, und viele finden es auch. Doch die meisten schaffen es nur zu einem elenden Dasein in den Slums oder noch schlimmer: auf der Straße. Und viele enden in den Fängen der mächtigen Mafia. Doch für alle ist Bombay der einzige Ort, an dem man leben kann – „the place to be“.
Von MILA KAHLON *
EINE meiner ersten und eindrücklichsten Erinnerungen an Bombay ist der Weg zur Arbeit auf der berühmt-berüchtigten Reay Road entlang den Hafendocks. Die Reay Road, ursprünglich als vierspurige Schnellstraße geplant und gebaut, hat heute nur noch zwei Spuren. Sie sind zu beiden Seiten von unzähligen mehrstöckigen Slumbehausungen eingegrenzt. Die Bewohner, meist Binnenmigranten, gehen, reden, schlafen, sitzen, arbeiten und waschen ihre Wäsche auf der Reay Road. Ihre Kinder machen auf dem Asphalt ihre ersten Gehversuche. Einen Fußweg hat es neben der Straße nie gegeben, und es wird ihn wohl auch nie geben. Auf der Reay Road machen sich Menschen und Fahrzeuge gegenseitig den Platz streitig. Jeder findet hier auf engstem Raum sein persönliches kleines Königreich – oder zumindest tut er so.
Viele Slumbewohner haben noch zwei oder gar drei Stockwerke auf ihre Hütte draufgesetzt, um den Platz an andere zu vermieten. Zehn Menschen wohnen durchschnittlich in ungefähr zehn Quadratmeter großen Behausungen. Keiner weiß genau, wie viele Menschen in der Reay Road leben. Sicher ist nur, dass es jeden Tag mehr werden und das Chaos entsprechend zunimmt.
Eigentlich weiß niemand so recht, wie viele Einwohner Bombay hat. Nach offiziellen Angaben sind wir 12 Millionen (mehr Menschen als in Griechenland), die Hälfte davon Obdachlose. Doch weil ständig neue Binnenmigranten in die Stadt strömen, weil die Slums überquellen und täglich hunderte von Kindern zur Welt kommen, ohne registriert zu werden, könnten wir tatsächlich schon an die 16 Millionen sein. Ich habe sogar schon von inoffiziellen Prognosen gehört, wonach Bombay bis 2020 die größte Stadt der Welt sein wird.
Man kann angesichts solcher Zahlen den Kopf schütteln, doch die traurige Wahrheit ist, dass die Bewohner der Reay Road und vieler anderer Slums, die in der Metropole aus dem Boden schießen, nirgends einen besseren Platz zum Leben finden. Viele kommen von weit her in diese „Stadt der Hoffnung“. Sie glauben fest, dass sie Arbeit und ein geregeltes Einkommen finden – und wer weiß, vielleicht werden sie sogar über Nacht zum Millionär. Ihre illegal und behelfsmäßig errichteten Hütten (oft mit gestohlenen Telefonen und Farbfernsehern ausgestattet und mit abgezapftem Strom versorgt) sind gemessen an dem, was sie von zu Hause gewohnt sind, wahre Luxusvillen.
Also leben und überleben diese Menschen Tag für Tag auf Bombays Straßen – trotz Luftverschmutzung, unmenschlicher Hitze, Unterernährung und Dreck, trotz der vorbeirasenden Lastwagen und Autos, trotz Unfällen und Krankheiten, trotz der riesigen Ratten und Krähen, trotz der stinkenden Rinnsteine, trotz der angewiderten Blicke besser gekleideter Passanten und trotz des sintflutartigen Monsuns. Was mich immer am meisten erstaunt und auch fasziniert hat, wenn ich in meiner bequemen und klimatisierten Wohlstandskapsel die Reay Road entlangfuhr, waren die vielen lächelnden Gesichter. Auch wenn es mir gänzlich unbegreiflich war: Die Menschen wirkten glücklich. Glücklich darüber, dass sie es in dieses Monster von Stadt geschafft hatten, die ihnen alles nehmen oder ihnen die Chance ihres Lebens geben konnte. Bereit, jede sich bietende Möglichkeit zu nutzen, sahen sie den Traum von ihrem Mini-Amerika zum Greifen nahe – denn genau das ist es letztendlich, was Bombay für das übrige Indien bedeutet.
Es dauert eine Weile, bis man versteht, warum diese Stadt immer noch massenhaft Zuwanderer anzieht, die hier ihr Glück machen wollen. Bombay ist überwältigend groß, heiß, eng, schmutzig, stickig, überfüllt, die Straßen ein einziger Verkehrsstau, auf Schritt und Tritt entsetzliche Bilder und Gerüche von Armut und Siechtum. Wer arm ist, lebt unter unmenschlichen Bedingungen, wer reich ist, hat ständig die Mafia am Hals. Gehört man zum Mittelstand, beginnt jeden Morgen der Kampf, sobald man aus dem Haus tritt: Man schlägt sich durch den Verkehr, versucht die Schlaglöcher zu ignorieren und die winzigen Hände der bettelnden Kinder, die an den Autoscheiben kratzen.
Nichts lässt sich hier auf die Schnelle erledigen, jede kleine Arbeit, alles was mit Organisation zu tun hat, kostet Zeit und Mühen. Korruption und Bürokratie stehen in voller Blüte, und die typisch indische laxe Art kann einen zum Wahnsinn treiben. Doch Bombay ist kein Ort der Verzweiflung. Trotz der endlosen Schwierigkeiten des Alltags hat diese Stadt einen unbändigen Lebenswillen, hat etwas Unbezwingbares an sich. Jeder Bombayer würde dir sagen: „Was beklagst du dich? Hier ist es doch besser als in anderen Städten!“ – und man schaudert bei der Vorstellung, wie es in diesen anderen Städten aussehen muss.
Wer in der glücklichen Lage ist, eine Arbeit und ein finanzielles Polster zu haben, der ist geradezu süchtig nach Bombay – süchtig nach dem schnellen Tempo, nach den höchsten Gehältern in ganz Indien, nach dem Leben-und-leben-Lassen, dem alternativen Lifestyle und den unendlichen Möglichkeiten für Leute, die sich trauen. Es gibt Kinos und Multiplexe, mit Importwaren voll gestopfte Kaufhäuser, aufgestylte Nachtclubs (deren Besitzer der Polizei saftige Schmiergelder zahlen, damit sie nach Mitternacht geöffnet haben dürfen), Theater, astronomisch teure und dennoch immer überbuchte Gourmettempel, Händler exotischer Automarken, Mobiltelefone überall, Bürohäuser wie in Manhattan und zwanzigstöckige Apartmenttürme. Es gibt Designerläden, Schönheitswettbewerbe, Fünfsternehotels, internationale Schulen, moderne Krankenhäuser und riesige Straßenbrücken.
Bombay ist die einzige wirkliche Metropole in Indien. Dagegen wirken Chennai (Madras), Kalkutta, das indische Silicon Valley Bangalore und sogar die Hauptstadt New Delhi wie piefige Provinzstädte. Für Außenstehende mag das schwer nachvollziehbar sein, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Indiens ländliche Bevölkerung noch immer wie im 18. Jahrhundert lebt. Und in Anbetracht dessen ist Bombay tatsächlich ein Wunder – eine echte Stadt der Träume.
Bombay ist ganz zweifellos die reichste Stadt Indiens – aus ihr kommen über 50 Prozent der gesamten Einkommensteuern des Landes. Aber Bombay ist zugleich die korrupteste Stadt Indiens – mehr als die Hälfte der im Lande zirkulierenden Bestechungsgelder hat hier ihren Ursprung. Hier leben mehr Millionäre als in allen anderen indischen Städten zusammen. Hier werden 90 Prozent aller Transaktionen von Geschäftsbanken abgewickelt. Hier haben 80 Prozent aller indischen Sozialversicherungsfonds ihren Sitz, hier gibt es sogar zwei Börsen. Der indische Rentenmarkt ist in Bombay angesiedelt und natürlich der Geld- und Devisenmarkt. Außerdem befinden sich die indische Zentralbank, die drei größten Privatkunden-Banken des Landes und die beiden größten Kreditinstitute im Business District von Mumbai. Über die Häfen der Stadt gehen 40 Prozent des gesamten indischen Seehandels. Der Immobilienmarkt ist eine einzige Goldgrube, ein schickes Apartment kostet bis zu 2 Millionen Dollar, mehr als in Tokio oder New York.
Die großen Leidenschaften in Bombay sind spekulative Geschäfte, Lotterien, Pferderennen und Cricket. Das Leben in dieser Stadt, wo Werbefuzzis mehr verdienen als Ärzte, stellt zuweilen die so genannte amerikanische Konsumgesellschaft in den Schatten. Bombay ist der magische Anziehungspunkt für die besten Talente Indiens, für internationale Großkonzerne und Investoren, für Intellektuelle und Künstler.
Dem Glamour von Bollywood kann niemand widerstehen. Die größte Filmbranche der Welt ist hier zu Hause, und deshalb ist hier auch jeder Inder zu finden, der es im Filmgeschäft zu etwas bringen will. Sogar „pensionierte“ oder vergessene Größen aus dem Westen bemühen sich um einen Vertrag für eine Gaststarrolle in einem Hindi-Film, in der Hoffnung auf eine zweite Karriere. Schauspieler werden wie Götter behandelt, also versuchen Youngsters jeglicher Hautfarbe, Gestalt oder sozialen Herkunft sich ein kleines Stück von dem Bollywood-Kuchen abzuschneiden. Die Creme der „Filmi“-Meute bewohnt palastartige Villen in den schicken Außenbezirken der Stadt, allerdings in ständiger Angst vor den Anrufen von Mafiabosse, die Schutzgeld erpressen.
Zum Mythos Bombay tragen auch etliche „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Geschichten bei – etwa die vom inzwischen verstorbenen Dhurbhai Ambani, der sich vom Tankwart zum Ölmagnaten hochgearbeitet hat; oder die von Harshad Mehta, einem armen Jungen aus der Kleinstadt Raipur, der einen 6 Milliarden Rupien schweren Betrug mit Wertpapieren ausheckte und zum kleinen Börsenking wurde (um am Ende doch noch im Gefängnis zu sterben). Auch Shah Rukh Khan, Indiens beliebtester Schauspieler, kam einst mit leeren Taschen in die Stadt. Er schaffte es nach Jahren des Elends doch noch zum Superstar, obwohl er keinerlei Kontakte in der Stadt oder zum Filmgeschäft gehabt hatte.
Ohne Klischees zu bemühen, kann man sagen, dass Bombay tatsächlich eine Welt der Kontraste ist. Im Stadtteil Dharavi, Asiens größtem Slum, leben 600.000 Menschen eingepfercht auf zwei Quadratkilometern, die Luft ist zum Schneiden und stinkt nach menschlichen Exkrementen, und dennoch werden hier erstklassige Lederwaren produziert, die in alle Welt gehen. Hier gibt es Champagner zu kaufen, der etwa drei Monatseinkommen eines Mittelständlers kostet, aber die Menschen haben kein sauberes Trinkwasser. Hier gibt es mehr Diätkliniken und Fitnessclubs als NGOs. An den Bücherständen kann man massenhaft Ratgeber- und Management-Literatur erstehen, verkauft von Kindern, die nicht lesen können. Keine Stadt ist so begehrt und gefürchtet, so gnadenlos und einfühlsam zugleich. Die Tageszeitungen berichten von den brutalsten Verbrechen, und gleich daneben stehen schnulzige Geschichten über Kameradschaft und Nächstenliebe.
Vielleicht weil so viele hier ganz von vorne angefangen haben, um es dorthin zu schaffen, wo sie heute sind, war Bombay immer ein Ort der Toleranz, wo das Gebot des Leben-und-leben-Lassens gilt, wo Christen neben Parsen wohnen, wo Hindus muslimische Nachbarn haben, wo Sikhs, Jainisten1 , Juden und immer mehr „Phirangs“ (wie „Ausländer“ genannt werden) zusammen leben.
Doch der ständige Zustrom von „Fremden“ und die traditionelle Mischung der Kulturen haben auch ein politisches Monster hervorgebracht: Die rechtsextreme Partei Shiv Sena – mit ihrem Führer Bal Thackeray und ihrem „Söhne des Bodens“-Programm – lebte anfangs von der Konfrontation „Einheimische gegen Zuwanderer“, schlug dann aber in eine Revolte gegen alles um, was nicht aus dem Staat Maharashtra stammt.2 Ihren Hassfeldzug eröffnete die Shiv Sena, die in Neu-Delhi an der Regierung beteiligt ist, mit Krawallen, mit Bombenanschlägen gegen ausländische Firmensitze, mit der Verwüstung von McDonald‘s-Restaurants und dem Zerschmettern von Cola-Flaschen. Vor kurzem gelang es der Partei, den Namen der Stadt (Bombay war ursprünglich eine portugiesische Kolonie, und sein Name bedeutet „ schöne Bucht“) zu ändern. „Mumbai“ ist der Name der lokalen Schutzgöttin – und eine klare Mitteilung an den Rest der Welt, dass die Stadt den Bewohnern von Maharashtra gehört. „Fremde“ sollen draußen bleiben.
Vor ein paar Wochen demonstrierte eine Horde von Sainiks (Shiv-Sena-Anhänger) ihre Entschlossenheit, die Zuwanderung zu stoppen, indem sie das Personalbüro der Staatsbahnen demolierten. Damit wollten sie erzwingen, dass die Einheimischenquote bei den Bahnangestellten angehoben wird, um der angeblichen „Bedrohung“ durch Bewerber aus dem Norden entgegenzutreten. Wenig später überfielen Parteiaktivisten, unter ihnen auch Frauen, auf einem belebten Bahnhof einige Jugendliche aus dem armen Bihar, die nach Mumbai gefahren waren, um ihr Eisenbahnerexamen abzulegen.
Eine Umfrage der Times of India und der bekannten landesweiten Fernsehsendung „The Big Fight“ brachte erschreckende Ergebnisse: Eine Mehrheit der Bevölkerung findet, dass die Shiv Sena nicht Unrecht hat, und ein hoher Prozentsatz befürwortet auch das „Sons of the Soil“-Programm. Außerdem waren viele der Befragten dafür, bei wenig qualifizierten Jobs eine Quote für Einheimische zu reservieren. Immerhin ahnten manche, dass solche Quotierungen dem Ruf der Stadt als Finanzzentrum von Weltrang schaden könnten.
Entwickelt sich das kosmopolitische Bombay also gerade zu einem chauvinistischen Mumbai? Die Antwort gibt vielleicht ein Zitat von Suketu Mehta, einem Journalisten aus Bombay, der heute in New York lebt: „Wenn du in Bombay auf dem Weg zur Arbeit spät dran bist und auf dem Bahnsteig anlangst, während der Zug gerade abfährt, hast du trotzdem noch eine Chance. Du brauchst nur den überfüllten Waggons hinterherzulaufen, und da wird es viele ausgestreckte Hände geben, die dich hochziehen wollen. Und während du neben dem Zug herrennst, wird man dich hochziehen und dir eine winzige Lücke für deine Füße frei machen. Dann liegt alles Weitere bei dir. Aber im Moment der Berührung wissen die im Zug nicht, wem die nach ihnen ausgestreckte Hand gehört, einem Hindu oder einem Muslim oder einem Christen, einem Brahmanen oder einem Unberührbaren. Sie wissen nicht, ob du in dieser Stadt geboren oder erst am Morgen angekommen bist. Sie wissen nicht, ob du aus Mumbai bist oder aus Bombay oder aus New York. Sie wissen nur, dass auch du versuchst, in die Stadt der Verheißung zu gelangen, und das genügt. ‚Komm an Bord‘, sagen sie, ‚wir kommen schon zurecht.‘ “3
deutsch von Elisabeth Wellershaus
* Journalist in Bombay.