Armes Bihar – reiches Gujarat
DAS Weltsozialforum, das 2002 und 2003 in Porto Alegre stattfand, trifft sich dieses Jahr im indischen Mumbai (Bombay). Indien hat sich seit Ende der 1980er-Jahre unter dem Druck einer Wirtschaftskrise zwar schrittweise dem internationalen Handel geöffnet, doch das Misstrauen und der Widerstand gegen die Globalisierung sitzen noch tief. Seit seiner Unabhängigkeit 1947 hat das Land seine traditionell geprägte Wirtschaft mit hohen Zöllen und einem starken Staat vor der ausländischen Konkurrenz geschützt. Diese Barrieren werden nun allmählich abgebaut – zum Vorteil einer städtischen Mittelklasse, deren Lebensstandard langsam, aber sicher steigt, und zum Nachteil aller anderen. Auf die größte Demokratie mit den meisten Armen der Welt kommen damit soziale und regionale Konflikte zu, deren Folgen noch gar nicht abzusehen sind.
Von CHRISTOPH JAFFRELOT *
In den 1950er-Jahren begann Indien unter Jawaharlal Nehru, mittels einer Politik der Importsubstitution die eigene Volkswirtschaft anzukurbeln. Dieses System beruhte auf vier Säulen: Investitionslenkung zur Förderung der Industrie, Ausweitung des staatlichen Sektors, kompakte Zollbarrieren und ein striktes staatliches Lizenzierungssystem (licence raj) mit dem Ziel, die Produktionskapazität der privaten Wirtschaft zu erhöhen und zu diversifizieren. Abgeschottet gegen die Konkurrenz der Weltmärkte, konnte sich in Indien ein tragfähiges wirtschaftliches Fundament herausbilden. Diese Politik förderte auch die Voraussetzungen dafür, dass eine breite mittlere Bürokratie entstand und dass sich die regionalen Ungleichgewichte dank einer umfassenden Raumplanungspolitik in Grenzen hielten.
Das Modell krankte jedoch an der geringen Produktionskapazität und extremen bürokratischen Schwerfälligkeit der staatlichen Industrie – die außerdem den staatlichen Auftrag hatte, die Arbeitslosigkeit einzudämmen. Mangels Konkurrenz blieb die Wettbewerbsfähigkeit dieser Betriebe allerdings gering, und ihre Investitionstätigkeit hielt sich in so engen Grenzen, dass sie keine kostengünstige Massenproduktion aufnehmen konnten. So fiel der Anteil Indiens am Weltexportvolumen von 1,9 Prozent (1950) auf nur 0,6 Prozent im Jahr 1973. Doch Indien war und ist allein schon zur Finanzierung seiner Importe (vor allem Erdöl) darauf angewiesen, seine Produkte im Ausland abzusetzen. Unter Rajiv Gandhi begann daher in den 1980er-Jahren eine schrittweise Öffnung des Binnenmarktes. Doch da Gandhi den internationalen Konzernen, die er immer noch als Symbole des westlichen Imperialismus sah, nicht so recht traute, ließ er keine Direktinvestitionen zu. Die Modernisierung der indischen Wirtschaft wurde also nur über internationale Kredite finanziert. Dadurch stieg die Auslandsverschuldung Indiens bis 1991 auf 72 Milliarden Dollar.
Im Juni 1991 konnte Indien mit seinen Devisenreserven nur noch für vier Wochen seine Importe finanzieren. Die Regierung musste einem Strukturanpassungsprogramm des Internationalen Währungsfonds (IWF) zustimmen und als Gegenleistung für den eingeräumten Kredit die Wirtschaft liberalisieren: Das staatliche Lizenzsystem wurde abgeschafft, bei staatlichen Unternehmen eine ausländische Beteiligung von bis 51 Prozent möglich, um Joint-Ventures zu bilden, die Zollschranken mussten abgebaut und die Importquoten abgeschafft werden.1
Tatsächlich sanken die Zölle aber nur zaghaft und schrittweise. 1991 lagen sie noch durchschnittlich bei 79 Prozent, mit Spitzensätzen von 400 Prozent, und machten noch 38 Prozent der Staatseinnahmen aus. Die Spitzenzölle wurden bis 1993 auf 110 Prozent und bis 2000/2001 auf 35 Prozent abgesenkt. Der durchschnittliche Zollsatz ging bis 1996/1997 zwar auf 24,6 Prozent zurück, stieg in den nächsten drei Jahren aber wieder auf 30,2 Prozent. Wie man sieht, hält sich die Hinwendung zum Neoliberalismus noch sehr in Grenzen.
Das Land ist auch keineswegs unter die Fuchtel internationaler Konzerne geraten. Zwar dürfen ausländische Investoren im Hotelgewerbe, in der pharmazeutischen Industrie und im Energie- und Transportsektor bis zu 100 Prozent des Unternehmenskapitals erwerben, in der Automobilindustrie sind sogar mindestens 51 Prozent und im Telekommunikationssektor zwischen 49 und 100 Prozent vorgeschrieben (bei Banken 20 und 40 Prozent). Dennoch hat Indien aus dem Ausland nur Investitionen von 47 Milliarden Dollar angezogen, also ein knappes Zehntel der Gesamtinvestitionen in China (420 Milliarden Dollar).2
Gewiss sehen einige internationale Unternehmen – etwa der koreanische Automobilbauer Hyundai – in Indien auf lange Sicht wegen seiner niedrigen Löhne einen interessanten Fertigungsstandort im Hinblick auf ihre Exportmärkte. Die Integration des riesigen Landes in den Weltmarkt steckt aber noch in den Kinderschuhen. Nach wie vor entfallen 30 Prozent der indischen Exporte auf Textilien und 15 Prozent auf Nahrungsmittel. Immerhin stieg die Ausfuhr chemischer Erzeugnisse von 6,2 Prozent im Jahr 1980 auf 14,7 Prozent 2001. Indien ist also durchaus in der Lage, ausländische Technologie nachzuahmen – und sei es in Form von Raubkopien. Am stärksten wuchs jedoch die IT-Branche: Mit 20 Prozent Weltmarktanteil ist Indien vor Irland und den USA der größte Exporteur von IT-Dienstleistungen. 2002 nahmen die Ausfuhren in diesem Sektor um 30 Prozent zu.3
Daher liegt der Anteil der Dienstleistungen am Gesamtexport in Indien auch deutlich höher als in China (3,9 bzw. 2,9 Prozent). Im internationalen Vergleich ist Indien allerdings unverändert ein Wirtschaftszwerg mit einem niedrigen Außenhandelsvolumen: Sein Anteil am Welthandel liegt unterhalb der 1-Prozent-Marke, seine Exporte machen insgesamt nur 9,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.
Indiens Reformen der Neunzigerjahre haben erheblich zu seinem Wirtschaftswachstum beigetragen. Nach 3,6 Prozent im Zeitraum von 1951 bis 1979 und 5,5 Prozent in den 1980er-Jahren betrug das jährliche Wachstum in den 1990ern durchschnittlich 6,5 Prozent. Seit 1996 gehört Indien neben China zu den wachstumsstärksten Ländern Asiens (5,5 bzw. 7,6 Prozent). Seine geringe Einbindung in den Welthandel erklärt natürlich auch, warum Indien 1997 von der asiatischen Finanzkrise kaum betroffen war.
Die wirtschaftliche Liberalisierung des Landes verläuft also in sehr kontrollierten Bahnen. Auch versucht Neu-Delhi neuerdings, die Globalisierung zu bremsen und auf WTO-Ebene die westlichen Pläne zu bekämpfen. Das Scheitern des WTO-Gipfels von Cancún ging nicht zuletzt auf das Konto der indischen Regierung, die in Mexiko eine vielleicht dauerhafte Allianz mit anderen Ländern des Südens – China, Südafrika, Brasilien – geschmiedet hat.
Obwohl die Regierung seit Jahren immer wieder ankündigt, auf die erste Liberalisierungswelle von 1991 werde eine zweite folgen, sind erst wenige Schritte in diese Richtung erfolgt. Das gilt auch für die als „Investitionsrücknahme“ bezeichnete Privatisierung staatseigener Betriebe. Die Erlöse aus Privatisierungen haben seit 1999 nur ein Drittel der jährlich geplanten 1,8 bis 2,4 Milliarden Euro erbracht. Und der für 2003 angekündigte Verkauf der beiden größten Erdölfirmen des Landes wurde nach heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Regierungskoalition auf unbestimmte Zeit vertagt.
Die politische Elite hat sich zwar zum Liberalismus bekehrt, bleibt aber vorsichtig. Weil die Beteiligung des Staates an der Wirtschaft zugleich die Möglichkeit bietet, klientelistische Beziehungen zu bedienen, hat sie unter den Politikern noch viele Anhänger. Keine Partei will ihre Wähler durch Massenarbeitslosigkeit vergraulen. Da ein Drittel der Staatsunternehmen rote Zahlen schreibt, würde jede größere Privatisierung unweigerlich tausende von Beschäftigten „freisetzen“. Insofern verhindert die indische Wahldemokratie offensichtlich, dass die Logik der Liberalisierung sich voll durchsetzen kann.
Auch Indiens Sozialgesetzgebung, die Arbeitnehmer in vieler Hinsicht absichert, wird zurzeit nicht ernsthaft attackiert. Zwar würden Regierung und Arbeitgeberverbände den „Industrial Disputes Act“ von 1947 gern abändern, der vor willkürlicher Entlassung schützt und die Entscheidung von Arbeitskonflikten an Gerichte verweist. Doch die tatsächlichen „Reformen“ halten sich bislang in Grenzen. Dasselbe gilt für den „Contract Labour (Abolition and Regulation) Act“, der die prekären Arbeitsverhältnisse regelt, die mitunter wie Sklaverei anmuten. Allerdings muss man wissen, dass diese Gesetze nicht für den informellen Sektor gelten, sondern ausschließlich für die privilegierten Fabrikarbeiter und die Angestellten, die zusammen nur 7,5 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ausmachen.4
Dass der indische Staat seinen Widerstand – respektive seinen Handlungsspielraum – nicht ohne weiteres aufgibt, belegt das Beispiel der cottage industries. Diese handwerklichen Kleinbetriebe genießen immer noch starken rechtlichen Schutz und verfügen bei 674 Produkten sogar über ein Herstellermonopol (zum Beispiel in der gesamten Spielzeugbranche). Da 45 Prozent der Industrieproduktion bis heute aus Kleinbetrieben stammen, zügeln auch hier die Wahlstrategen den Reformeifer der Ökonomen. Die sind der Auffassung, dass derartige Regelungen den Konzentrationsprozess der Industrie bremsen und Indiens Eingliederung in den Weltmarkt behindern – was sich auch am Beispiel des Spielzeugsektors, in dem China Weltmarktführer ist, gut belegen lässt. Obwohl die Liberalisierung der indischen Wirtschaft also nur allmählich und in vorsichtigen Schritten voranschreitet, sehen viele Beobachter in ihr eine schwere Belastung für die künftige soziale Entwicklung.
Betrachten wir diese Entwicklung genauer. Seit Ende der 1990er-Jahre ermitteln die meisten einschlägigen Untersuchungen, dass die Armut „in relativen Zahlen“ zurückgeht. Der Anteil der Bevölkerung, der unterhalb der – sehr umstrittenen – amtlichen Armutsgrenze lebt, sank zwischen 1992 und 2003 von 41 Prozent auf 25 Prozent. Das kaufkraftparitätische Pro-Kopf-Einkommen lag 1980 bei 20 Prozent des weltweiten Durchschnitts, stieg aber 1990 auf 25 Prozent und 2000 auf 32 Prozent oder 2 300 Dollar.
Ist diese Entwicklung nun das Ergebnis einer wirtschaftspolitischen Wende seit 1991, oder sind hier noch andere Faktoren maßgeblich? Eine Verbindung mit dem allgemeinen Produktionsaufschwung der vergangenen zehn Jahre ist offenbar kaum zu leugnen. Ihm verdankt Indien seit 1996 eine jährliche Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens um 3,5 Prozent – der Durchschnitt der Entwicklungsländer lag in diesem Zeitraum bei 3,1 Prozent – und eine deutliche Verbreiterung seiner Mittelschicht. 35 Millionen Inder verfügen inzwischen über ein Jahreseinkommen von über 1 000 Euro, und ihre Zahl wächst Jahr für Jahr um 10 Prozent.
Im weltweiten Vergleich am ärmsten
DENNOCH ist Indien immer noch das Land mit den meisten Armen der Welt (nach Angaben der Weltbank müssen 430 Millionen Inder mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen). Außerdem fällt das Land gemessen am Human Development Index (HDI) immer weiter zurück. Nach dem letzten Bericht des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) rutschte Indien unter den 130 Entwicklungsländern vom 94. Platz (1994) auf den 124. Platz 1995 und den 127. Platz 2003 ab.5
Diese Platzierung reflektiert auch ein immer stärkeres soziales Ungleichgewicht. Denn der Anstieg des Durchschnittseinkommens kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass von ihm (wie fast überall) die Mittelschichten weitaus stärker profitieren als andere Teile der Gesellschaft. Zwar wird auch deren Situation allmählich besser, aber doch nur langsam, so dass der Abstand zu den Besserverdienenden unaufhaltsam wächst.
Zu dieser sozialen Schere kommt ein zunehmendes regionales Entwicklungsgefälle. Die Hälfte aller Armen lebt in den vier Bundesstaaten Bihar, Uttar Pradesh, Madhya Pradesh und Orissa. Es gibt also eine Grenze, die vom östlichen Punjab zum nördlichen Andhra Pradesh verläuft und den von der Entwicklung abgehängten Nordosten plus Rajasthan vom Südwesten trennt, der die Konjunktur Indiens antreibt. Dieses Gefälle wird in einem Vergleich zwischen Punjab und Orissa deutlich: Während im Punjab 6 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsschwelle leben, sind es in Orissa 42 Prozent.
Auch andere Indikatoren sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. So liegt im Staat Bihar der Pro-Kopf-Stromverbrauch bei 141 Kilowattstunden, in Gujarat hingegen bei 921 Kilowattstunden. Die Alphabetisierungsrate in Kerala erreicht rund 91 Prozent, in Uttar Pradesh stagniert sie bei 58 Prozent. Grob gesprochen ist das Pro-Kopf-Einkommen im Westen und Süden zwei- bis dreimal so hoch wie in den übrigen Landesteilen. Diese ungleiche Entwicklung ist ein unmittelbares Ergebnis der wirtschaftlichen Liberalisierung. Denn der Reichtum wächst am schnellsten in Bundesstaaten, die aufgrund ihrer guten Infrastruktur und dichten Industrialisierung für ausländische Investoren am attraktivsten sind. Kein Wunder also, dass sowohl bei der Modernisierung als auch bei der mit ihr verbundenen Polarisierung der Gesellschaft die Staaten Maharashtra und Gujarat an der Spitze liegen.
Dass sich die neoliberale Globalisierung in Indien bisher nicht konsequent durchsetzen konnte, liegt an der zögerlichen Öffnung seiner Wirtschaft und an seiner schwachen Einbindung in den Weltmarkt. Zweifellos hat es deutliche Schritte in Richtung Globalisierung gegeben, und in ihrem Gefolge die beschriebenen nachteiligen Entwicklungen wie wachsende soziale und regionale Ungleichheit. Dabei lässt sich die soziale Ungleichheit unter Umständen mit einer systematischen Politik der positiven Diskriminierung zugunsten der unteren Kasten bekämpfen. In Ansätzen existiert eine solche Politik bereits. Weit schwieriger wird es sein, die ungleiche Entwicklung der Regionen auszugleichen. Hier besteht die Gefahr, dass regionalistische Spannungen, die der Staat durch föderative Strukturen und Umverteilung vorübergehend dämpfen konnte, sich erneut bemerkbar machen.
deutsch von Bodo Schulze
* Centre d‘Études et de Relations Internationales, Autor von „Tribus et basses castes – Résistance et autonomie dans la société indienne“ (hrsg. in Zusammenarbeit mit Marine Carrin), Paris (Ehess) 2003.