16.01.2004

Unsere Conquista

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Unsere Conquista

Von ANDRZEJ STASIUK *

VON Guatemala nach Mexiko ist es ein Katzensprung. Andrzej Bobkowski1 hätte eine Version von Malcom Lowrys „Unter dem Vulkan“ schreiben können. Schließlich hatte er, ähnlich wie Lowrys Konsul, noch eine Rechnung mit dem alten Europa zu begleichen. Er hätte aus der Ferne den Niedergang Europas betrauern und wie jener sein Schuldgefühl pflegen können, das allein der Tatsache entsprang, dass er Europäer war. Doch der Konsul hatte ein mehrere Jahre jüngeres Europa betrachtet, er hatte dessen Krankheit, nicht aber dessen Agonie gesehen. Außerdem war er Engländer, das heißt, er trug die Last der Verantwortung für die ganze Welt, denn selbst wenn über dem Imperium allmählich die Sonne unterging, so war doch der Schatten, den es warf, noch recht lang. Und außerdem war die unglückliche Seele von Konsul Geoffrey Firmin aus feinem Stoff gewebt: „Pass auf, alter Junge“, hörte der Konsul sich sagen, „Franco oder Hitler gegen sich zu haben, ist eine Sache, aber Aktinium, Argon, Beryllium, Dysprosium, Niobium, Palladium, Praseodym […], Ruthenium, Samarium, Silikon, Tantal, Tellurium, Terbium, Thorium […], Thulium, Titan, Uran, Vanadium, Viriginium, Xenon, Ytterbium, Zirkonium, ganz zu schweigen von Europium, Germanium […], und Columbium – und all die anderen gegen sich zu haben, ist etwas anderes.“

Wahnsinn ist im Gegensatz zu Dummheit immer die Frucht der Spannung zwischen der Subtilität des Geistes und der Trägheit der Materie.

Im Werk Andrzej Bobkowskis finden wir keine Spuren von Schmerz, Sehnsucht oder Unzufriedenheit. Diese Erkennungszeichen der Vertreibung sind ihm vollkommen fremd. Er hat Europa voller Abscheu verlassen, er überließ es den Toten, ihre Toten zu begraben. „Die Wiege der Kultur und der Konzentrationslager“, ohne großen Widerstand vom Faschismus vergewaltigt, zitternd vor Angst vor den Bolschewiki und kokett in Richtung Kommunismus schielend – so hat er es während seines achtjährigen Aufenthalts in Paris gesehen, und die Entfernung durch Guatemala verlieh diesem Blick noch größere Schärfe. „Der Europäer verwandelt sich in ein Rindvieh, er verliert alle Eigenschaften, die seine frühere Überlegenheit ausmachten: Unternehmungsgeist, gesunde Risikofreude, die Fähigkeit des individuellen Urteils, vernünftigen Ungehorsam. Im Gegenteil – er unterwirft sich dem Staat und fremden Staaten. Heute steht er geduldig Schlange, füllt gewissenhaft dutzende von Formularen aus, befriedigt sich mit passivem Kritizismus und Intellektualismus als Ersatz fürs Leben und offenbart seinen ganzen Individualismus und Unternehmungsgeist im Schwarzhandel, in miesen kleinen Schmalspurgeschäften.“ (aus: „Coco de Oro“)

Der anachronistische und anarchische Andrzej Bobkowski: Rudyard Kipling und Joseph Conrad leben seit Jahren nicht mehr. Auch Conrads Kurtz ist gestorben und hat die abtretende Epoche in einem Wort zusammengefasst: „Grauenvoll.“ Wenn jemand an Expansion denkt, so hat sie nicht die romantische Aura des Kolonialismus, sondern verläuft eher im Zeichen ideologischer und politischer Interessen, im Zeichen der Omnipotenz des eigenen und anderer Staaten.

Andrzej Bobkowski überquert den Ozean und träumt den Traum des weißen Mannes aus dem 19. Jahrhundert, den Traum von Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten, von einer Welt, in der die Zivilisation nicht an Altersschwäche leidet und nicht Beschränkung, sondern Werkzeug ist. „Ich denke […], dass Kali und Nel Staś Tarkowski erst zu achten begannen, nachdem er zuerst den Löwen und dann die Beduinen erschossen hatte. Wenn ich an die Zukunft unserer Zivilisation denke, an die Kalis, die sie von allen Seiten der Welt aus betrachten, dann scheint mir, dass diese Episode aus ‚Durch Wüste und Wildnis‘ ein hervorragendes Kürzel für das Wesen des Problems ist. Nein – wir sind nicht nur eine von vielen, von diesen gut zwanzig Zivilisationen, die vergangen sind. Es ist doch etwas mehr, und vielleicht sollte man das verteidigen.“ (aus: „Federskizzen“) Diese Sienkiewicz‘sche Naivität hat etwas Rührendes. Sie erlaubt es, all das, was sich in der europäischen Kultur spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch schon früher abgespielt hat, einfach nicht wahrzunehmen.

Rimbaud ist nach Afrika gefahren, aber sicher nicht, um es zu erobern und zu zivilisieren. Paul Gauguin war auf Tahiti. Er hatte das Licht Europas satt und ließ sich von der Überzeugung leiten, das wirkliche Leben sei „anderswo“, in Regionen, die von der Zivilisation des weißen Mannes unberührt geblieben sind. Und dann Antonin Artaud. Er kam nach Mexiko (wieder Mexiko), um bei den Tarahumara-Indianern nach einer Arznei gegen die tödliche Krankheit der westlichen Welt zu suchen. Ein archaisches Ritual sollte das sterbende Christentum ersetzen. „Wir brauchen deinen Kanon nicht, deinen Index, deine Sünde, deinen Beichtstuhl und deine Pfaffen, wir denken an einen anderen Krieg, an einen Krieg mit dir, Papst, du Hund“, schrieb Artaud 1925. Und in einem Brief an den Dalai Lama: „Wir leiden an einer Zersetzung des Verstands. Das logische Europa zermalmt seinen Geist endlos mit Hämmern der Extremität, befreit ihn und sperrt ihn wieder ein […]. So wie ihr verwerfen auch wir den Fortschritt: kommt, verwüstet unsere Häuser.“

All diese Wanderer haben Europa verlassen in der Überzeugung, ein sinkendes Schiff zu verlassen. Andere, ferne Kulturen erschienen ihnen nicht als Kuriosum, Irrtum der Evolution oder Reservat, sondern als notwendige Alternative, als gleichrangiges Angebot oder geradezu als Verifizierung des eigenen Erbes. Im Grunde waren sie Inseln, auf denen die Schiffbrüchigen des Westens Rettung finden konnten.

Und was suchte Andrzej Bobkowski in Guatemala? Sein Ekel, nach seinen Schriften zu urteilen, hatte eine ähnliche Intensität wie der von Artaud. „Das normale Leben. Das alte, kultivierte Europa. Um es wiederzufinden, muss man es heute verlassen […] – und weiter: Höflichkeit, Ruhe, im Geschäft gekaufte Produkte werden sorgfältig verpackt und ohne Aufschlag und Trinkgeld nach Hause gesandt, die Post wird auch an Sonn- und Feiertagen zugestellt.“ Und weiter bis zu einer Liste der in den Läden erhältlichen Marken und Waren. Das sind die ersten Eindrücke Andrzej Bobkowskis nach seiner Ankunft in Guatemala, die er in „Coco de Oro“ beschrieben hat. Sie erinnern auf seltsame Weise an die Erzählungen unserer Gastarbeiter, die vor ein paar Jahren aus Deutschland oder Österreich zurückgekehrt sind. So paradox ist unsere Conquista. Sie bezieht sich nicht auf andersartige, fremde oder unbekannte Dinge; sie hat nichts Räuberisches an sich, sondern ist nur ein Versuch, das zurückzubekommen, was uns durch eine Laune der Geschichte vorenthalten wurde, weggenommen, noch bevor wir es hatten.

Und dann noch die Geografie. Als Papst Alexander VI. die Linie zog, die die Neue Welt zwischen Portugal und Spanien aufteilte, konnten wir höchstens unsicher nach dem germanischen Westen schielen oder besorgt gen Osten, nach Russland. Expansion war eher unmöglich. Und selbst wenn, was hätten wir dort schon finden können außer dem, was wir schon kannten: Ebene, Nebel und die traurige preußisch-slawische Pflanzenwelt. Kein Gold, keine Myrrhe, keinen Weihrauch – nur Bekanntes, quantitative Veränderungen; also kein Anreiz für die Fantasie, kein Material für einen anständigen Mythos.

Die letzte Aufzeichnung der „Federskizzen“ trägt das Datum des 25. August 1944. Die Amerikaner befreien Paris. Andrzej Bobkowski steht auf der Straße und betrachtet mit kindlicher Freude die Kaugummi kauenden Soldaten. Kurz danach fängt er an zu weinen. Eine amerikanische Krankenschwester fragt ihn, warum er weine. Ich bin Pole und denke an Warschau, erwidert er. Das Mädchen bietet ihm eine Zigarette an, und Bobkowski geht weg. „Ich hielt zum ersten Mal eine Zigarette mit meinem Lieblingsgeschmack in der Hand, und schließlich zündete ich sie an. Sie roch ein bisschen nach Kölnischwasser, ein bisschen nach Seife, eben nach Chesterfield. Ich rauchte sie und dachte, sie beinhalte eine Welt, die bestimmte Dinge nicht begreifen kann. Vielleicht deshalb, weil sie selbst nie gezwungen war, etwas Schlechteres als Chesterfield zu rauchen.“

Das Faszinierende an Andrzej Bobkowski ist, dass sein Widerspruch gegen das „polnische Schicksal“ eine für einen Schriftsteller ungewöhnlich konkrete und pragmatische Form annahm. Das oben zitierte Schlussfragment hat die Präzision einer mathematischen Gleichung. Um diejenigen, die der heldenhafte, absurde Tod trifft, vergießt man vielleicht Tränen, mehr nicht. Denn wir weinen nur über die Vergangenheit oder über die Gegenwart, die sich vor unseren Augen in Vergangenheit verwandelt. Über die Zukunft weinen wir nie. Andrzej Bobkowski gibt sich keinerlei Illusionen hin, was Polen betrifft. Es sollte in einer veränderten historischen Dekoration nur seine alte Rolle wiederholen. Heldenhaft, zerrissen und gedankenlos sollte es immer wieder, immer von Neuem seine Vergangenheit wiederholen. Zeitverschwendung, vergebliche Liebesmüh, hätte er sagen können. Nichtreformierbare Dinge reformiert man nicht, über verschüttete Milch vergießt man keine Tränen. Die Zeit ist ein Vektor, und ihr Pfeil zeigt immer auf die Zukunft. Nur in den Uhren, diesen leblosen, betrügerischen Mechanismen, berührt der Zeiger hartnäckig Stunden, die längst tot sind.

Bobkowski, der Sienkiewicz-Anhänger, begeistert von Elan, Phrase, Kernigkeit, von dem, was in der Sprache sinnlich, unwiederholbar und menschlich ist, hat die ideologischen Implikationen der „Trilogie“ völlig ignoriert. Offensichtlich hatte er von allem, was nach Vaterland und Patriotismus roch, die Nase voll, denn das roch nicht gut für ihn. In den „Federskizzen“ erwähnt er seinen Vater, Stabschef der elften Infanteriedivision. Während des Krieges gegen die Bolschewiki wurde die fliehende Division eingeschlossen, und der führende General sagte: „Meine Herren, jetzt müssen wir sterben.“ Der Vater erwiderte damals: „Wenn die von Ihnen vorgeschlagene Lösung des Problems auch die einfachste ist, Herr General, so sollte man doch versuchen, eine komplizierteren Weg der Rettung zu finden.“

Für Andrzej Bobkowski war der Weg der Rettung – wörtlich und metaphorisch – die Reise in eine ferne Welt, die nicht nur in die Kategorie des Raums gehörte, sondern auch in die Kategorie der Zeit: Sie war Zukunft.

In Rio de Janeiro schreibt Julian Tuwim die „Polnischen Blumen“. In Buenos Aires veranstaltet Gombrowicz sein Mienenspiel vor dem Spiegel, doch der Rahmen des Spiegels ist ganz in polnischem Stil gehalten. In New Orleans erstellt Zygmunt Haupt ein Register der vergangenen Zeit. Andrzej Bobkowski spielt in einem anderen Orchester. Doch nein – welches Orchester erträgt einen Typ, der nur solo spielen kann. Vielleicht in Paris, vielleicht war er dort noch von Polen absorbiert, aber im Grunde wohl auch nur theoretisch, als Lektion über Irrtümer und Wahnsinn.

In den „Federskizzen“, einer lebendigen, malerischen Prosa, die sich zum großen Teil auf konkrete Dinge und Bilder stützt, kommen „Erinnerungen als solche“ nicht vor. Ähnlich in „Coco de Oro“, obwohl in Guatemala die Entfernung, nach allen Regeln der menschlichen Psyche, die Fäden der Sehnsucht hätte anspannen und in die Länge ziehen müssen. Na ja, einmal vielleicht blickt Andrzej Bobkowski zurück, um seine Kindheit zu betrachten, den Flugplatz in Lida, die Zeppeline und deutschen Albatrosse. „Geruch von Benzin und Rhizinusöl, mit Politur überzogene Propeller …“, doch die Bilder sind „vergessen und verstaubt“.

Die seltsame, paradoxe, ironische Wanderung Andrzej Bobkowskis. Er ging von Polen nach Frankreich, weil er Polen nicht ertragen konnte. Frankreich und Europa belogen und verrieten ihn, also machte er sich auf in die weite Welt, wie der arme Ritter, auf der Suche nach der einzigen echten Liebe – das sollten die USA sein. Doch er ließ sich in Guatemala nieder, wo die Indianer ihn an die Bauern von Polesie erinnerten. Er floh vor dem Kommunismus, aber in Guatemala geriet er in einen kommunistischen Umsturz, und bevor dieser niedergeschlagen wurde, ging er durch sein Haus, ließ die Patronen in der Tasche klimpern, betrachtete den auf dem Tisch liegenden Colt und gestand sich ein, dass er kein Gregory Peck war. Zu dieser Zeit packte das erträumte Amerika den Kapitalismus, die freie Konkurrenz, all diese Wunderdinge und Erfindungen zusammen und schickte sie nach Europa.

Und er baute irgendwo in den Tropen Modellflugzeuge – kleine Spitfires, kleine Hurricans – und ließ sie in den blauen Himmel steigen. Und ich wette, er hat gelacht, gelacht wie ein kleiner Junge, den die Vergangenheit einen Dreck angeht, wenn auch nur deshalb, weil man an ihr seine Träume bestimmt nicht festmachen kann.

Dieser Text erscheint nur in derdeutschsprachigen Ausgabe

* Polnischer Schriftsteller. Der Text ist ein Vorabdruck aus: Andrzej Stasiuk, „Das Flugzeug aus Karton“, Ü: Renate Schmidgall, © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. Das Buch erscheint im März 2004.

Fußnote: 1 Andrzej Bobkowski (1913 bis 1961) lebte seit 1938 in Paris und war 1940 bis 1944 mit dem Fahrrad im besetzten Frankreich unterwegs. Seine Tagebücher erstmals 1957 in Paris u. d. T. „Federskizzen“ veröffentlicht (auf deutsch erschien Teil 1 u. d. T. „Wehmut? Wonach zum Teufel?“ in der Übersetzung von Martin Pollack, Hamburg 2000), gehören zu den bedeutendsten Kriegsmemoiren der polnischen Literatur. 1948 wanderte er nach Guatemala aus. Der Band „Coco de Oro“, eine Sammlung von Skizzen und Erzählungen, entstand in Guatemala und wurde 1970 in Paris veröffentlicht.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2004, von ANDRZEJ STASIUK