16.01.2004

Die Ohnmacht der Sieger

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Die Ohnmacht der Sieger

JE größer die Überlegenheit der USA und des Westens in der konventionellen Kriegsführung wird, umso mehr verlagert sich die Auseinandersetzung weg vom klassischen Schlachtfeld und hin zur unsichtbaren Front des Terrorismus. Mit jeder militärischen Entscheidung eines Konflikts nimmt die Gefahr weltweiter Attentate zu. Ob die USA ihren Grenzschutz ins Ausland verlagern, Passagierflüge ausfallen müssen oder die Falken des Pentagon mit dem Einsatz von „Mini-Nukes“ spekulieren: In der Sicherheitspolitik stehen alle Zeichen auf Eskalation.

Von PIERRE CONESA *

Seit dem offiziellen Ende des Krieges im Irak kommen pro Tag im Durchschnitt ein bis zwei Soldaten der Vereinigten Staaten ums Leben. Die Nachkriegszeit erweist sich als eine Periode, die gefahrvoller ist als der eigentliche Krieg. Seit zwei Jahren erleben die in Afghanistan stationierten Soldaten tagtäglich, was diese neue paradoxe Situation für sie bedeutet. Dabei hatte alles wie großes Kino begonnen, als der US-Generalstab seine mit Monitoren gespickte Kommandozentrale in Katar installierte, um den Angriff auf den Irak vorzubereiten.

In den verschiedenen Denkschulen innerhalb des militärischen Establishments der USA wurden, von grenzenloser technologischer Überlegenheit ausgehend, großartige politisch-militärische Strategien ersonnen und publizistisch wirkungsvoll verkauft – verpackt in Begriffe wie „intelligente Waffen“ oder „Zero-Death“, die einen Krieg ohne eigene Verluste suggerieren. Die Reaktion der US-amerikanischen Intellektuellen auf solche Beschönigungen war ein Spiegel ihrer inneren Zerrissenheit angesichts des jugoslawischen Dramas, des traumatischen 11. September und der Möglichkeit, das Regime im Irak zu stürzen. Letztendlich waren sie bereit, ihr Verhältnis zu internationaler Gewaltanwendung neu zu bestimmen. Der Krieg wurde mit diplomatisch-militärischen Begriffen neu legitimiert – etwa mit dem „Recht auf humanitäre Einmischung“ oder der Forderung nach „militärisch-humanitären Operationen“, die man für Staaten wie Somalia und Ruanda reklamierte.

Und noch etwas kam den US-Strategen zugute: Die jüngsten Konflikte waren immer schnell zu Ende: Fünf Wochen Luftangriffe und 100 Stunden Truppeneinsatz genügten 1991 für die Befreiung Kuwaits, sechs Wochen reichten 2003 zur Eroberung des Irak. Damit war von vornherein die Gefahr ausgeschaltet, dass die öffentliche Meinung kriegsmüde werden könnte. In dieser Hinsicht wirkte der Krieg in Bosnien als abschreckendes Beispiel nach. Man wollte nicht noch einmal unzureichend bewaffnete Bodentruppen zwischen den Fronten operieren lassen. In den nachfolgenden Konflikten wurden aggressive Strategien denn auch mit dem Argument gerechtfertigt, man müsse die angestrebten Erfolge rasch erreichen.

Die unter dem Stichwort „Revolution des militärischen Sektors“1 (Revolution in Military Affairs, RMA) bekannt gewordene US-amerikanische Militärdoktrin ist Grundlage der neuen weltweiten Vormachtstellung der USA. Sie gilt als derzeit ausgefeilteste Version der konventionellen Kriegsführung und wird von allen westlichen Streitkräften kopiert. Die dazu nötigen Waffensysteme bedingen hochwertige Investitionen in die technologische und industrielle Zukunft der betreffenden Länder. Demgegenüber hat die jüngste Krise eine andere Denkschule hervorgebracht. Man könnte sie auch als Doktrin von der „Einebnung des Machtgefälles“ bezeichnen. Sie bezieht sich auf den Terrorismus und die zuweilen mit ihm in Verbindung gebrachte Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Beide Ansätze weisen in konzeptioneller wie operativer Hinsicht verblüffende Parallelen auf.

Bei der ersten Schule ist in operativer Hinsicht immer wieder von „intelligenten“ Waffen die Rede, womit deren Fähigkeit gemeint ist, ihr Ziel ganz genau zu treffen. Doch parallel dazu existiert der Begriff „Kollateralschäden“, als solle damit entschuldigt werden, dass besagte Waffen doch nicht so effizient sind, wie die Bezeichnung nahe legt.2 Die zweite Denkschule stellt der angeblichen chirurgischen Präzision das blinde Attentat auf Menschenmengen gegenüber. Dabei ist den Tätern das Zielobjekt – Tankschiffe, Gebäude, internationale Großhotels, Nachtclubs, U-Bahnen, Militärbasen – ebenso gleichgültig wie die Herkunft der Opfer (australische Touristen, französische Ingenieure, Muslime, Einheimische). Der Anschlag auf das World Trade Center war so gesehen der erste Terrorakt im Zeichen der Globalisierung, denn er zielte auf ein Bürogebäude, mit dem er auf einen Schlag mehrere tausend Menschen aus fast hundert verschiedenen Nationen treffen konnte.

Auch die Ideologie des „Kriegs ohne eigene Verluste“ entspringt einem Gefühl der technologischen Überlegenheit. Sie ist ein entscheidendes Vehikel, um den Krieg als „tolerierbares“ Mittel des internationalen Handelns zu legitimieren. Dazu muss die US-Öffentlichkeit allerdings davon überzeugt werden, dass man GIs ohne das Risiko blutiger Niederlagen wie 1993 in Mogadischu einsetzen kann.

Dagegen schließt das Selbstmordattentat3 die Vorstellung von einem „Krieg ohne eigene Verluste“ a priori aus. Dafür sorgt schon die Auswahl und Vorbereitung der Kamikaze-Kandidaten. Denn es wird ganz bewusst eine Person ausgesucht, die nicht das übliche Profil eines Kombattanten aufweist – etwa eine junge Frau mit Universitätsabschluss, die gesellschaftlich eher gut integriert und ohne politische Vergangenheit ist. Die Kandidaten werden über längere Zeit auch psychologisch intensiv auf ihre Aufgabe vorbereitet und stets von der Familie isoliert. Das ist zum Beispiel von al-Qaida, Hamas und den Tamil-Tigern (LTTE) bekannt. Für die Angehörigen stellt die „Opfertat“ eine Ehre und eine Einkommensquelle dar, wie im Fall der palästinensischen, tschetschenischen und tamilischen Kamikaze-Attentäter.

Die Methode wurde im Iran und im Nahen Osten erfunden und von den Befreiungstigern auf Sri Lanka perfektioniert. Die drei Attentate am 13. Mai vorigen Jahres in Saudi-Arabien rissen 30 Menschen in den Tod, darunter die 9 Selbstmordattentäter; dagegen hat der gesamte Irakkonflikt auf alliierter Seite „nur“ 178 Menschenleben gefordert (einschließlich der Opfer des friendly fire).

Der Krieg im Irak und in Afghanistan wurde zum Teil durch Kampfflugzeuge entschieden, die in den Vereinigten Staaten gestartet waren. Das belegt die Fähigkeit der USA, dank der enormen Reichweite ihrer Waffensysteme ihre Kriegsmacht in jede Region der Welt zu projizieren. Demgegenüber zeigen die Anschläge vom 11. September 2001, aber auch die Geiselnahme durch tschetschenische Terroristen im Moskauer Musical-Theater, dass ein Attentat im eigenen Land auf die Schwachstellen der nationalen Sicherheitssysteme4 zielt. Denn die Staaten überschätzen ihre eigene Leistungsfähigkeit oft leichtsinnig und achten zu wenig auf gute Abstimmung zwischen ihren inneren und äußeren Sicherheitsorganen.

Dass westliche Streitkräfte die Kampfhandlungen auf dem Schlachtfeld durch Drohnen oder Satellitenobservationen völlig transparent machen können, verleiht ihnen eine unbestreitbare Überlegenheit – vorausgesetzt, es gibt überhaupt ein Schlachtfeld oder eine erkennbare Front. Wenn sich aber der Krieg – wie im Irak – zum Kampf gegen eine Stadtguerilla entwickelt oder – wie in Afghanistan – in schwierigem Gelände verzettelt, schwindet dieser Vorteil. In einer „unbefriedeten urbanen Zone“ ist man von einer effektiven „Beherrschung des Schlachtfelds“ weit entfernt. Umgekehrt hat al-Qaida mit den ihr zugeschriebenen Attentaten an weit verstreuten Punkten der Erde zugeschlagen: in Pakistan, Kenia, Tunesien, Bali, Kuwait, Saudi-Arabien und Marokko. Auch die Auswahl der Ziele (Tankschiffe, große Touristenhotels) und die Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern (Franzosen, Australier, Amerikaner, Israelis, Kenianer, Marokkaner) machen leider deutlich, dass die Front praktisch überall verläuft. Das Schlachtfeld ist nicht länger ein begrenzter Raum, in dem zwei Armeen aufeinander treffen.

Auf die militärische Überlegenheit des Westens reagieren Terroristen damit, dass sie zivile Hilfsmittel für ihre Ziele zweckentfremden. Das erklärt, warum sämtliche Indikatoren, die bei den Sicherheitskräften der Terrorismusbekämpfung normalerweise Alarm auslösen (Waffen- oder Sprengstofftransporte, auffällige Reisetätigkeit einschlägig bekannter Personen) bei dem Attentat gegen das World Trade Center versagten – und zwar selbst im militärisch extrem sensiblen C4I-Bereich (Command, Control, Communications, Computer and Intelligence). Hier konnten die Netzwerke des Terrors moderne Internettechniken zur Absicherung ihrer Kommunikationskanäle nutzen. So ließen sie ihre Telefongespräche etwa über britische und jemenitische Vermittlungszentralen umleiten.

Die enormen Investitionen in die militärische Forschung machen neue Waffensysteme äußerst kostspielig. Kein potenziell aufsässiges Regime könnte den konventionellen Streitkräften des Westens auf dem Schlachtfeld Paroli bieten, denn die Länder, in denen konkurrenzfähige Systeme produziert werden, sind fast ausnahmslos Verbündete der Vereinigten Staaten – abgesehen davon, dass kein nichtwestliches Land solche Waffen bezahlen könnte. Die Regime können nur versuchen, das Ungleichgewicht mit wesentlich billigeren Massenvernichtungswaffen oder Terroranschlägen auszugleichen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die japanische Aum-Sekte, die für das Giftgasattentat in der U-Bahn von Tokio am 20. März 1995 verantwortlich war, ohne äußere Hilfe Chemiewaffen beschaffen und sogar ihre eigene bakteriologische Forschung betreiben konnte. Die Kosten für das Attentat vom 11. September schätzt man auf 100 000 Dollar; der unmittelbare Schaden betrug dagegen 40 Milliarden Dollar, und als Folgeschäden muss man noch einmal zwischen 100 und 200 Milliarden Dollar dazurechnen.

Auch soziologisch betrachtet sind die ungleichen Streitkräfte extrem unterschiedlich: Auf der einen Seite kämpft der Typus des uniformierten Berufssoldaten im Dienst eines modernen Staates, auf der anderen Seite steht bestenfalls ein Milizionär im Sold eines lokalen Kriegsherren und schlimmstenfalls ein militanter Dschihad-Kämpfer. Letztere sind eingebunden in ein Netz, das die Metropolen der industrialisierten und der Dritten Welt gleichermaßen umspannt und über das Internet kommuniziert.6 Die so genannten Afghanen – es handelt sich um Veteranen aus dem Krieg gegen die sowjetischen Besatzungstruppen – spielten beispielweise in Algerien und in Saudi-Arabien eine bedeutende Rolle. Ihre Zahl wird auf mehrere zehntausend geschätzt. Und Gefahr droht keineswegs nur vom islamistischen Terrorismus: Schließlich ging das erste Massenattentat in den Vereinigten Staaten auf das Konto von Rechtsextremisten, und der erste Terroranschlag der Geschichte wurde von einer japanischen Sekte verübt.

Islamistische Terrornetze schlagen ihre Operationsbasen bevorzugt in den „Grauzonen“ staatlicher Souveränität auf, etwa in Afghanistan und Somalia, in den Stammesgebieten des westlichen Pakistan, und morgen vielleicht schon im Irak oder in den Hauptstädten der Metropolen der Welt7 . Ganz allgemein werden es die westlichen Berufsarmeen verstärkt mit nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen zu tun bekommen: vor allem mit Terroristen, Milizen und mit einer neuen Art von Söldnern, wie sie derzeit in der Elfenbeinküste agieren – aber auch mit führungslosen Haufen oder Warlord-Armeen wie in Afghanistan, in Somalia oder im Kongo8 .

Aus alledem lassen sich eine Reihe von strukturellen Entwicklungen ableiten, die für das Verständnis der internationalen Sicherheitslage grundlegend sind:

1. Krieg als Ersatz für Politik: Das Denken der amerikanischen Neokonservativen kreist um den Begriff des „Präventivkriegs“9 und spielt mit dem Einsatz atomarer Waffen von geringer Stärke („Mini-Nukes“). Es vollzieht geradezu eine „Flucht nach vorn“ in den Krieg. Diese kriegerische Hybris der Washingtoner Regierungskreise hat innerhalb von nicht einmal zwei Jahren zwei internationale Konflikte ausgelöst. Auf einer „Achse des Bösen“, die zur Zeit um angebliche „Metastasen“ wie Syrien erweitert wird, verortet die derzeitige US-Regierung drei Staaten. Zudem wurde am 23. Oktober 2002 vom amerikanischen Außenministerium eine Liste mit 204 nichtamerikanischen Terror- und Deckorganisationen veröffentlicht. Der Konflikt im Irak erweist sich immer mehr als konventioneller Krieg gegen einen Staat, dem die Produktion von Massenvernichtungswaffen zugeschrieben wurde, und nicht als Vorgehen gegen eine terroristische Gruppe. Eine Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden ergibt sich schon aus der Tatsache, dass mit jeder siegreichen Beendigung eines konventionellen Krieges immer neue potenzielle terroristische Bedrohungen entstehen können.

2. Schwierigkeiten der Nachkriegsagenda: Das konkreteste Ergebnis der jüngsten Kriege, etwa in Afghanistan oder im Kosovo, war im günstigen Fall ein Regimewechsel, nicht jedoch die Rückkehr zum Frieden. Die Nachkriegszeit ist schwieriger zu bewältigen als der Krieg selbst, denn es gilt politische Lösungen für die Konflikte zu finden, den Wiederaufbau zu finanzieren, die öffentliche Ordnung wieder herzustellen und regionale Integrationsprozesse in Gang zu bringen. Ein gutes Beispiel für diese Schwierigkeiten ist das Wiedererstarken der Kriegsherren in Somalia und Afghanistan. Die Zerstörung der noch bestehenden, häufig aber bereits angeschlagenen Staatsgewalt offenbart erst, dass eine fortgeschrittene Fragmentierung in lokale Gesellschaften durch die Diktatur nur übertüncht wurde. Beispiele hierfür sind etwa die starke Stellung der Schiiten in Irak oder der Paschtunen in Afghanistan. In derartig heiklen Übergangszeiten werden die Verbündeten für die Vereinigten Staaten nützlicher als im Krieg selbst. Ein amerikanischer Journalist hat es so formuliert: „US fight, UN feed, EU funds“.10

3. Verteilung der exorbitanten Sicherheitskosten: Die Kosten der Sicherheit sind nach dem 11. September 2001 geradezu explodiert. Das zwingt die Entscheidungsträger in den Metropolen, den Terrorismus als Kostenfaktor einzukalkulieren, obwohl der finanzielle Aufwand bislang schwer zu beziffern ist. Michael O‘Hanlon von der Universität Princeton veranschlagt die Kosten in seinem Bericht „Protecting America‘s Homeland“ auf 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; das entspricht einem Siebtel der nationalen Verteidigungsausgaben bzw. einem Siebtel der Kommunalhaushalte. Bart Hobijn von der US-Zentralbank schätzt die Produktivitätseinbußen durch Antiterrormaßnahmen auf rund 0,8 Prozent. Eine wesentliche Frage ist daher, wie diese finanzielle Belastung aufzuteilen ist.

Seit der Verabschiedung des USA Patriot Act11 am 26. Oktober 2001, der die Verteidigungsmaßnahmen der USA gegen die neuen Bedrohungen regelt, genießt die Terrorismusbekämpfung bei sämtlichen Regierungsentscheidungen eine hohe Priorität. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Sicherheitsregeln für den Finanzsektor. So sind inzwischen alle US-Banken verpflichtet, die Identität ihrer Transaktionspartner und die Herkunft der von ihnen überwiesenen Gelder zu ermitteln.

Hinter einer Fassade scheinbar harmloser technischer Einzelheiten haben die USA also ein umfassendes Instrumentarium zur Kontrolle der weltweiten Finanzströme aufgebaut. Denn ein Großteil aller Transaktionen wird entweder in Dollar oder über US-Banken abgewickelt. Und weil die neuen Regelungen nicht nur für US-Institute, sondern auch für deren Transaktionspartner gelten, können die amerikanischen Behörden mit diesem einfachen Überwachungsmechanismus einen wesentlichen Teil der Geldbewegungen kontrollieren.

Ein europäisches Finanzinstitut, das geschäftliche Beziehungen mit einer US-Bank unterhält, muss diesem Partner nicht nur umfassende Auskunft über sich selbst geben, sondern auch sämtliche Informationen über die Herkunft der überwiesenen Gelder zur Verfügung stellen. Diese Informationen sind damit auch den einschlägigen US-Kontrollbehörden zugänglich. Und allein diese verfügen über die nötigen Mittel, um Querverbindungen zu anderen Transaktionen herzustellen. An andere Staaten werden diese Informationen nicht weitergegeben, denn schließlich dienen sie allein dem Schutz von US-Interessen.

Dieselbe Strategie verfolgt Washington bei der Absicherung des eigenen Staatsgebiets. Um sich vor terroristischen Anschlägen mit konventionellen oder ABC-Waffen zu schützen, haben die Amerikaner einseitig eine Liste von zwanzig „unbedenklichen“ Welthäfen erstellt, die den US-Kontrollnormen entsprechen und den US-Zollbehörden auf ihrem Gebiet Kontrollbefugnisse einräumen. Am Anfang stand kein französischer Hafen auf dieser Liste. Deshalb sah sich die französische Regierung gezwungen, die geforderten Bedingungen für Le Havre zu akzeptieren. Andernfalls wäre dieser Hafen, über den rund 85 Prozent des französischen Containerverkehrs in die USA abgewickelt werden, in eine echte Wirtschaftskrise geschlittert.

Ähnlich strenge Vorschriften gelten inzwischen auch für die rund 24 Millionen Besucher, die alljährlich in die USA einreisen. Sie müssen entweder einen fälschungssicheren Reisepass vorweisen oder sich einer erkennungsdienstlichen Behandlung unterziehen (Foto und digitaler Fingerabdruck).

Eine immer wichtigere Rolle spielt in der US-amerikanischen Strategiediskussion der Begriff „Smart Border“ (intelligente Grenze). Damit wird eine sicherheitsrelevante Grenze, im Unterschied zur geografischen, bezeichnet. Alle für die eigenen Interessen strategisch wichtigen Bereiche sind oder werden abgesichert, indem US-Normen auch im Ausland zur Geltung kommen, sozusagen externalisiert werden. Das Neue an dieser zweiten Phase der Globalisierung ist die Ausweitung direkter Eingriffsmöglichkeiten in das Wirtschafts- und Finanzsystem. Dieses war bisher nicht zuletzt deshalb gegen einen solche Interventionismus geschützt, weil die USA selbst es so wollten.

4. Vom lokalen Krieg zur globalen Krise: Da lokale Konflikte heute eine globale Finanzkrise auslösen können, muss strategisches Denken global ansetzen. Während der Irakkrise versuchten die USA den gleichzeitigen Ausbruch einer zweiten Krise zu vermeiden – sei es in einer anderen Region, sei es in einem der drei entscheidenden Bereiche der Weltwirtschaft: Finanzmärkte, Information und Kommunikation, strategische Rohstoffe.

Da die USA mit dem Irakkrieg voll ausgelastet waren, minderten sie denn auch den Druck auf Venezuelas Staatspräsidenten Hugo Chávez und die saudische Herrscherfamilie. Sie überantworteten die Nordkoreakrise der UNO, deren Legitimität sie ansonsten bekanntlich in Frage stellen. Tatsächlich war die Gefahr einer Finanzkrise angesichts der exorbitanten Kosten der Militärintervention groß. Immerhin schätzte man anfangs die Kosten des Krieges (von dem man nicht wusste, wie lange er dauern würde) auf 200 Milliarden Dollar, und das künftige US-Haushaltsdefizit wurde auf mindestens 350 Milliarden Dollar veranschlagt. Zudem hatten die arabischen Staaten seit dem 11. September 2001 rund 500 Milliarden Dollar aus den USA abgezogen.

Die Vorwürfe Washingtons gegenüber Frankreich und der Türkei lauteten unter anderem, deren Verweigerung habe die Kriegskosten in die Höhe getrieben. Umgekehrt waren Großbritannien und Japan auch deshalb so willkommene Kriegspartner, weil die „Allianz der Willigen“ damit 80 Prozent der Weltfinanzmärkte abdeckte. Die befürchteten Krisen sind bisher regional und sektorial beschränkt geblieben (Ölpreisschock, Finanzkrise, militärischer Konflikt), in Zukunft jedoch könnten sie rasch globale Dimensionen annehmen. Während aber die USA bereits über eine globale Strategie verfügen, haben die Europäer nichts als eine regional beschränkte Vorstellung von ihren Interessen.12

Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass eine militärisch und diplomatisch unipolare Welt strukturell durch Terrorismus und die Verbreitung atomarer Waffen bedroht wird. In dieser Welt verlieren die herkömmlichen strategischen Doktrinen ihre Gültigkeit. Das wird uns in kleinerem Maßstab täglich aufs Neue in Israel demonstriert, wo die terroristischen Attentate trotz der unnachgiebigen Härte der Regierung Scharon nicht aufgehört haben. Das Paradoxon der amerikanischen Militärstrategie lässt sich demnach so formulieren: Der militärische Sieg ist zwar gewiss, aber er macht einen Frieden unmöglich.

deutsch von Bodo Schulze

* Hoher Beamter a. D., Berater des Präsidenten der Compagnie européenne d‘intelligence stratégique (CEIS).

Fußnoten: 1 Siehe Laurent Muraviec, „La guerre au XXIe siècle“, Paris (Odile Jacob) 2001; Barthélémy Courmont und Darko Ribnikar, „Les guerres asymétriques“, Paris (Presse Universitaire de France) 2002. 2 Der Krieg im Irak hat in dieser Hinsicht unbestreitbare Fortschritte gebracht. Israel nimmt es mit der Beschränkung von „Kollateralschäden“ hingegen nicht so genau. Seit Beginn der zweiten Intifada fordert die Terrorismusbekämpfung mehr Opfer als der Terrorismus selbst. 3 Barbara Victor, „Shahidas“, Paris (Flammarion) 2002; Laetitia Bucaill, „Génération Intifada“, Paris (Hachette) 2002; Laurence Haim, „Bombes humaines“, Paris (Lamartinière) 2003. 4 Barthélémy Courmont, „Terrorisme et contre terrorisme, l‘incompréhension fatale“, Paris (Le Cherche Midi) 2003. 5 Rohan Gunaratna, „Al Qaïda au coeur du premier réseau terroriste mondial“, Paris (Autrement) 2002. 6 Olivier Roy, „L‘islam mondialisé“, Paris (Seuil) 2003. 7 Dominique Thomas, „Londonistan, la voie du Djihad“, Paris (Michalon) 2003. 8 Pierre Conesa (Hg.), „La sécurité internationale sans les États“, Revue internationale et stratégique, Paris (Presse universitaire de France) 2003. 9 Paul Marie de la Gorce, „L‘inquiétant concept de guerre préventive“, Le Monde diplomatique, November 2003. 10 Für die Nachkriegszeit im Irak hat sich Bush durchgerungen, der UNO eine begrenzte Rolle anzutragen. Die entsprechende Resolution 1511 wurde zu diesem Zweck viermal umgearbeitet und am 16. Oktober verabschiedet. 11 Die Abkürzung „USA PATRIOT“ steht für „Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism“. 12 Patrick Lagadec und Guilhou, Autoren von „La Fin du risque zéro“, Eyrolles (Eyrolles société) 2002, im Gespräch mit dem Autor.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2004, von PIERRE CONESA