Die Armenier aus dem Ausland
WER im vergangenen Sommer die armenische Hauptstadt Eriwan besuchte, fand kein Museum geöffnet und die meisten Straßen der Innenstadt unpassierbar. Sämtliche Museen wurden renoviert, Straßen und Bürgersteige waren aufgerissen. All das hat die großzügige Spende des armenisch-amerikanischen Milliardärs Kirk Kirkorian möglich gemacht. Seit 2002 hat der Besitzer der MGM-Studios in Hollywood und mehrerer Hotels in Las Vegas für den Bau von Straßen und Häusern in der erdbebengefährdeten Region 170 Millionen Dollar gespendet. Ein Teil des Geldes geht in Form von Krediten an Kleinunternehmer, womit schätzungsweise 20 000 Arbeitsplätze geschaffen wurden. Die von Kirkorian gestiftete Summe entspricht einem Drittel des staatlichen Budgets. Ein anderer Armenoamerikaner namens Gerard Cafesian steckt an die 25 Millionen Dollar in die Renovierung und Fertigstellung des Kaskade-Viertels im Norden der Stadt, das seinen Namen einer monumentalen Treppenanlage verdankt. In diesem Viertel mit seinen vielen Werkstätten, das zwischen dem Zentrum von Eriwan und der Altstadt liegt, will Cafesian ein Museum für Moderne Kunst errichten.1 Mit ihren Investitionen in Geschäfte, Restaurants und Bauprojekte, die den Straßen von Eriwan ein völlig neues Gesicht verleihen, hat die Diaspora ihre Rückkehr nach Armenien eingeleitet.
Armenien hat 3,8 Millionen Einwohner, aber doppelt so viele leben im Ausland, vor allem in Russland und Georgien, in den USA und in Frankreich, im Iran und im Libanon. Nach dem Erdbeben von 1988, bei dem über 25 000 Menschen umkamen und ein Drittel der armenischen Industriekapazität zerstört wurde, reagierten die Auslandsarmenier sehr schnell und organisierten umfassende humanitäre Hilfe. Auf die Hilfsgelder folgten in den letzten beiden Jahren verstärkte Investitionen, die eine wesentliche Überlebenshilfe für eine ganze Reihe von Wirtschaftsunternehmen – von Software bis zu Hightech-Medizin – waren.
In politischer Hinsicht sind die Beziehungen zwischen Armenien und den Auslandsarmeniern allerdings etwas komplizierter. Traditionelle armenische Parteien im Ausland verfügen offenbar über einen gewissen Einfluss im Lande. Das gilt für die Armenische Revolutionäre Föderation (Taschnaktsutjun) und die Liberaldemokratische Partei (Ramgavars), die in Armenien Parteibüros unterhalten und ihre eigenen Presseorgane haben. Doch zwischen den beiden Seiten gibt es erhebliche politische Divergenzen und historisch entstandene Missverständnisse. Als 1988 in der Armenischen Sowjetrepublik die Volksbewegung begann, riefen die armenischen Auslandsparteien zur Ruhe und Zurückhaltung auf, womit sie die sowjetische Zentralmacht unterstützten. Diese Parteien glaubten damals aufgrund ihrer tief sitzenden Angst vor dem türkischen Nachbarn, eine Schwächung der sowjetischen (also russischen) Macht in Armenien werde das Land an die „türkische Gefahr“ ausliefern.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnten Armenier aus Marseille, Kairo oder Boston bei einem Besuch in der Heimat ihrer Väter einen wahren Kulturschock erleben. Sie wollten investieren, waren aber außerstande, die Feinheiten der sowjetischen Bürokratie zu verstehen. Und auch mit den neuen Regeln einer ungezügelten Marktwirtschaft, mit der Korruption bzw. mit der immer nur relativen Geltung der Gesetze kamen sie nicht zurecht. In vielen Fällen ging deshalb das investierte Geld binnen weniger Monate flöten.
Was noch schlimmer war: Die Präsenz von Auslandsorganisationen passte dem ersten nachsowjetischen Präsidenten Lewon Ter-Petrosjan nicht ins Konzept, weil deren Hauptanliegen die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ist und dieses Thema seit jeher Sprengstoff im Verhältnis mit der Türkei bedeutet. Im Dezember 1994 wurden einige Taschnak-Aktivisten verhaftet, die Organisation musste ihre Presseorgane schließen und ihre Tätigkeit einstellen. Als der neue Präsident Robert Kotscharjan 1998 an die Macht kam, verbesserten sich die Beziehungen. Die Aktivisten kamen wieder frei, und die Taschnaksutjun trat als Juniorpartner in die Regierung ein, in der sie heute drei Minister stellt. Inzwischen hat der armenische Staat ein neues Kapitel in den Beziehungen zu den Auslandsgruppen aufgeschlagen: 1999 und 2002 organisierte er zwei große Konferenzen, auf denen die Auslandsarmenier zur Rückkehr und zu verstärkten Investitionen aufgefordert wurden. Eine maßgebliche Rolle bei den Konferenzen spielte der heutige Außenminister Vartan Oskanian, der aus Syrien stammt und in den USA studiert hat.2
Einige Auslandsorganisationen leisten aktive Lobbyarbeit für die armenische Sache, was den Auftritt dieser winzigen Nation auf der internationalen Bühne stärkt. Zwei mächtige und energische Lobbygruppen, die Armenian Assembly of America und das Armenian National Committee of America, setzen sich in Washington für die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern von 1915 ein, wie auch generell für politisches Wohlwollen der USA gegenüber Armenien.
Vor kurzem hat der armenisch-russische Oligarch Aram Abrahamian mit dem offiziellen Segen des russischen Präsidenten Wladimir Putin die „Weltorganisation der Armenier“ gegründet. In Eriwan fürchtet man jedoch, es könne sich wieder einmal um ein Manöver des Kreml handeln, mit dem Ziel, seinen Einfluss nicht nur auf Armenien, sondern auf die weltweite armenische Diaspora auszuweiten. Andere politische Beobachter glauben freilich, dass Putin im Vorfeld der Dumawahlen in erster Linie daran interessiert war, die etwa 2,5 Millionen russischen Bürger armenischer Abstammung anzusprechen.3
Die enorme Unterstützung der Armenier im Ausland für Armenien hat allerdings Geld von den armenischen Organisationen in diesen Ländern abgezogen. Und das in einer Zeit, da der Druck durch neue Migrationsströme und die allgemeinen Wirkungen der Globalisierung bei diesen Gruppen zu einem Identitätswandel geführt hat. Diese Entwicklungen schwächen also die traditionellen Strukturen der armenischen Communities, wie die Parteien, die Kirche und das eigene Schulwesen.4 In Armenien selbst ist jedoch merkwürdigerweise festzustellen, dass sich der wachsende Einfluss der Auslandsarmenier auf die politischen, sozialen und ökonomischen Entscheidungsprozesse in Eriwan nur in sehr begrenztem Maße auswirkt.
V. C.