16.01.2004

Auf der Suche nach dem linken Macho

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Auf der Suche nach dem linken Macho

Von ANDREA BÖHM *

AM Morgen nach der Gefangennahme von Saddam Hussein saß ich in einem Truckstop in Louisiana. Über der Theke hing ein Fernseher, CNN zeigte zum hundertsten Mal, wie ein amerikanischer Militärarzt den Kopf des Exdiktators nach Läusen durchsucht. Links und rechts von mir frühstückten Lastwagenfahrer, die sich das obligatorische amerikanische Fähnchen an die Brust geheftet und ein „Proud to be American“ an die Stoßstangen geklebt hatten. Keiner interessierte sich für Saddams verfilzten Schädel. „Hoffentlich kriegen sie jetzt noch den anderen Hurensohn“, knurrte die Kellnerin. „Wie heißt er noch?“ – „Ussama Bin Laden“, sagte ich. Sie nickte und schaltete auf den Sportkanal.

Die Szene wäre ein gefundenes Fressen für Michael Moore und sein Kamerateam gewesen: Amerikaner, die heute schon nicht mehr wissen, wen sie gestern „tot oder lebendig“ fangen wollten. Aber vielleicht war die Szene weniger symptomatisch für die vermeintliche Ignoranz als für die relative Zufriedenheit mit dem Lauf der Dinge. Europäische Medien – zumal aus Ländern, deren Regierungen und Bürger gegen den Irakfeldzug protestiert hatten – sehen im Bombenterror gegen US-Soldaten und alle, die mit ihnen kooperieren, das „zweite Vietnam“ der USA. Nach dieser Lesart wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis auf amerikanischen Straßen wieder lauthals skandiert wird: „Bringt unsere Soldaten nach Hause!“

Natürlich ist es denkbar, dass „Operation Iraqi Freedom“ für die USA in einem Debakel endet. Aber es ist genauso denkbar, dass im Irak eine Nachkriegsnormalität greift, die ähnlich wie auf dem Balkan nicht besonders erhebend, aber einigermaßen friedlich ist: Verfeindete Ethnien bleiben sich spinnefeind, gehen sich aber nicht mehr an die Gurgel; die Polizei ist korrupt, lässt aber keine Menschen mehr verschwinden; in der Wirtschaft sahnen einige wenige ab, aber keiner hungert mehr.

Natürlich war die Demokratisierung des Irak nicht das primäre Ziel der USA, natürlich wurde „Operation Iraqi Freedom“ vor allem fürs Öl geführt. Keiner erklärte mir das auf meiner Reise durch den amerikanischen Süden so freimütig wie die Herren im „Petroleum Club“ von Midland, der Ölhauptstadt von Texas, wo einst George W. Bush seine ersten Geschäfte in den Sand setzte: Eben weil die USA einen alternativen Stützpunkt für das zunehmend labile Saudi-Arabien suchten, brauchten sie einen Irak ohne Diktator.

Das war der „Kollateralbonus“ des Krieges, den die Bush-Regierung als neue Legitimation des Unternehmens aufbaut, seit sie das Schreckgespenst von Saddams einsatzbereiten Massenvernichtungswaffen still und leise verschwinden lassen muss. Wenn das „alte Europa“ darob „Heuchelei“ ruft, hat es Recht und ist doch gleichzeitig verlogen. Berlin, Paris oder Brüssel hatten keine Vorschläge zur Entmachtung Saddam Husseins. Einige wären mit dem „Schlächter von Bagdad“ sogar wieder gern ins Geschäft gekommen.

Diese Details des amerikanisch-europäischen Zwists konnte man mit den jovialen Texanern lebhaft diskutieren. Der Kellnerin in Louisiana waren sie herzlich egal. Sie hielt, anders als die Herrschaften im Petroleum Club, ihren Präsidenten für einen restlos verzogenen Rotzbengel (“a rotten spoiled snutnose“). Aber sie mochte ihn, weil er es „denen“ nach dem 11. September 2001 gezeigt hatte: „Because he showed them.“

Womit man beim zweiten, wahren Grund dieses Krieges wäre, den der New-York-Times-Kolumnist Thomas Friedman schon vor Monaten darlegte. Radikale Muslime hätten nach dem 11. September 2001 geglaubt, dass sie mit Selbstmordattentaten das Machtgefälle zwischen dem Westen und der arabischen Welt ausgleichen könnten, „weil wir im Westen verweichlicht und deren Aktivisten zum Sterben bereit waren“. Also mussten, so Friedman, „amerikanische Soldaten, Männer und Frauen, ins Herz der arabischen Welt vorstoßen und klar machen, dass wir bereit sind, zu töten und zu sterben“.

Ich bin mir nicht sicher, ob Thomas Friedman bereit wäre, zu töten und zu sterben. Aber er hatte in dankenswerter Offenheit auf den Punkt gebracht, was unter dem Begriff „humiliation factor“ zu verstehen ist: Die kollektive Angst und Demütigung nach den Attentaten auf amerikanischem Boden haben nicht nur die Bereitschaft zur Vergeltung, sondern auch zu eigenen Opfern erhöht. Die hat natürlich ihre Grenzen und kann bald ausgereizt sein. Aber bis auf weiteres werden Meldungen über zwei bis zehn tote US-Soldaten pro Woche in der Öffentlichkeit hingenommen. Die Zahl ist zu klein, um größere Proteste auszulösen; sie ist groß genug, um sich und der Welt zu beweisen, dass die Supermacht nicht „verweichlicht“ ist. Gegen Terroristen hilft das bekanntlich wenig, wie die Demokraten nun wieder etwas kecker einwerfen. Bloß hat Bill Clinton ganz richtig bemerkt, dass seine Landsleute in Zeiten der Angst eher Parolen folgen, die laut und falsch sind statt leise und richtig.

All das sollten man wissen, wenn man sich dieser Tage an den euphorischen Wahlkampfauftritten des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers Howard Dean erfreut. Dean hat etwas Außergewöhnliches geschafft: Er hat erstens eine vom Rechtskurs der Parteispitze zunehmend entfremdete Parteibasis mobilisiert. Er hat zweitens eine wachsende, außerparteiliche Protestbewegung hinter sich vereint, die ein „Paralleluniversum“, das Internet, als Forum nutzt. Die größte und mittlerweile einflussreichste Organisation ist MoveOn (www.moveon.org) mit 1,7 Millionen Mitgliedern. Sie stimmen per eigens entwickelter Software darüber ab, welche Kampagnen zu welchem Zeitraum Priorität erhalten. Und sie mobilisieren in ihren Heimatorten nicht virtuell, sondern ganz real Sympathisanten für ihr Hauptziel: die Wiederwahl von George Bush zu verhindern. Dean spricht solchen Bush-Gegnern deshalb aus dem Herzen, weil er anders als seine parteiinternen Konkurrenten ihre Emotionen ernst nimmt. Die Leute sind wütend. Und sie haben Angst.

Anders als die suburbane, religiöse Klientel der Rechten, die man mit den drei bösen Geistern – Steuern, Säkularisierung, Schwule – immer an die Wahlurnen treiben kann, haben sich urbane, nichtreligiöse Amerikaner in den letzten Jahrzehnten gern den Luxus geleistet, am Wahltag zu Hause zu bleiben – nach dem Motto, von den beiden Kandidaten sei der bessere bloß das kleinere Übel. Das ist dieses Jahr anders. Seit Watergate war das linksliberale Spektrum in Amerika nicht mehr so empört und so aufgeputscht.

Das liegt natürlich an Bush: an seiner apokalyptisch formulierten, imperialen Außenpolitik wie an seiner Innenpolitik, die ebenfalls das Etikett „shock and awe“ verdient. In der Amtszeit des Texaners wurden 3 Millionen Jobs im Privatsektor abgebaut. Inzwischen sind mindestens 43 Millionen Amerikaner ohne Krankenversicherung. Jeder achte US-Bürger lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die massiven Haushaltskürzungen im Sozial- und Bildungsbereich treiben Einzelstaaten und Gemeinden in die roten Zahlen und immer mehr Bürger in die Suppenküchen. Texas, das Versuchslabor für George W. Bushs „compassionate conservatism“, wird in den nächsten beiden Jahren seine Sozialämter und psychiatrischen Krankenhäuser privatisieren. Das kostengünstigste Angebot gewinnt. Die einschlägigen Firmen planen den Gang an die Börse.

Andere Themen kommen hinzu: die oft erwähnten Steuersenkungen für Großverdiener; ein rasant steigendes Defizit, mit dem unter anderem der größte Überwachungsapparat in der amerikanischen Geschichte finanziert wird; ein Justizminister, der in seinem Haus Bibelstunden abhält; und die Aussicht auf eine rechte Mehrheit im Obersten Gerichtshof. In diesem politischen und ökonomischen Trümmerhaufen findet jeder demokratische Präsidentschaftskandidat reichlich Munition für seinen Wahlkampf. Nur sind die Präsidentschaftswahlen 2004 nicht allein mit dem Ruf nach besserer Krankenversicherung zu gewinnen. Egal, wie der Gegner von George Bush im November heißt – er muss sich auf den „Demütigungsfaktor“ einstellen. Anders gesagt: Die Demokraten müssen einen „alpha male“ aufstellen. Einen Macho, der laut das (halbwegs) Richtige sagt.

Es gibt wohl nur zwei Kandidaten, die diese Voraussetzung erfüllen. Der eine ist Howard Dean, der anfangs als „Birkenstock“-Gouverneur aus dem notorisch vegetarischen Vermont belächelt wurde, inzwischen aber auch von republikanischen Wahlkampfstrategen ernst genommen wird, weil er im Fernsehen grob zulangen kann und sich nicht entschuldigt, wenn er irgendeine Zielgruppe verärgert hat.

All das hat zunächst nichts mit Politik zu tun. Hier geht es um Symbolik, um das Schüren oder Beschwichtigen unterbewusster Ängste. George Bush senior konnte 1988 den Demokraten Michael Dukakis vernichtend schlagend, weil dessen liberale Positionen zur Strafjustiz dazu einluden, seine Männlichkeit in Frage zu stellen. Das funktionierte, weil Dukakis die Aggressivität fehlte, um sich medial zu wehren. Bush junior, so glauben Deans Anhänger, könnte das mit ihrem Kandidaten nicht machen. Dean ist liberal, hat sich vor dem Vietnamkrieg gedrückt und gegen den Irakkrieg gewettert. Er isst aber auch Fleisch, fuchtelt mit der Faust, hat nichts von Bill Clintons pubertärer Unersättlichkeit und will außenpolitischen Machismo mit einer demonstrativ härteren Gangart gegen Saudi-Arabien beweisen.

Reicht das? Nein, sagen konservative Demokraten. Auch ein „alpha male“ kann keine Wahl gewinnen, wenn er sich von lauter Friedenstauben tragen lässt. Nein, sagt auch der schon erwähnte Michael Moore, der politisch deutlich links von Dean steht. Aus dem Machismo-Ballon des George W. Bush könne nur Wesley Clark die Luft herauslassen, glaubt Moore, weswegen er den General in einem offenen Brief zur Kandidatur gedrängt hat. Clark, der spät ins Kandidatenrennen einstieg, hat inzwischen in einigen Umfragen zum Spitzenreiter Dean aufgeschlossen.

Das Problem ist: Egal, welchen „Macho“ die Demokraten ins Rennen schicken – er muss darauf bauen, dass die Lage im Irak deutlich schlimmer wird. Das wäre schlecht für George W. Bush. Es wäre aber auch schlimm für die Menschen im Irak.

Dieser Text erscheint nur in derdeutschsprachigen Ausgabe

* Lebt heute als freie Journalistin in Washington.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2004, von ANDREA BÖHM