14.03.2003

Hoffnung auf eine postliberale Wirtschaftspolitik

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Hoffnung auf eine postliberale Wirtschaftspolitik

DAS Jahr 2003 verspricht für Lateinamerika ebenso wichtig zu werden wie das scheinbar so weit zurückliegende Jahr 1973. Damals ging mit der Niederlage der Guerillabewegungen, dem Tod Che Guevaras und dem Staatsstreich in Chile eine Epoche zu Ende. Mit den Wahlsiegen von Lula da Silva in Brasilien und Lucio Gutiérrez in Ecuador und dem Ausharren Hugo Chávez‘ in Venezuela stehen wir möglicherweise am Beginn einer neuen historischen Phase. Bei den Präsidentschaftswahlen in Argentinien im April/Mai 2003 und in Uruguay 2004 wird sich erweisen, ob die südamerikanischen Integrationsbemühungen, die sich gegen die US-Hegemonie und die Gesamtamerikanische Freihandelszone richten, überhaupt eine Chance haben.

Von EMIR SADER *

Als die Zeit der Diktaturen in Lateinamerika abgelaufen war und nach und nach wieder demokratische Verhältnisse einkehrten, legte US-Präsident George Bush in einer Rede vor dem „Council of the Americas“1 am 2. Mai 1989 seine Zukunftsvision für den Kontinent dar: „Das Engagement für die Demokratie ist nur ein Element der neuen Zusammenarbeit, die mir für die Nationen Amerikas vorschwebt. Sie muss vor allem Garantien bieten, dass die Marktwirtschaft überlebt, prosperiert und sich durchsetzt.“

Heute muss Lateinamerika teuer dafür bezahlen, dass es als bevorzugtes Versuchsfeld für neoliberale Experimente dienen durfte. Die damit einhergehende finanzielle Verschwendung hat den Subkontinent zu einer der wirtschaftlich, politisch und sozial instabilsten Regionen der Welt gemacht. Die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, stieg von 1980 bis 2001 von 120 auf 214 Millionen (43 Prozent der Bevölkerung). Von ihnen leben 92,8 Millionen Menschen in absoluter Armut (18,6 Prozent).2

Während seiner ersten Amtszeit schaffte es Bill Clinton nie über den Rio Grande, der die Grenze zum Nachbarstaat Mexiko bildet. Nach Maßgabe des „Washingtoner Konsenses“3 verhielt sich der Subkontinent damals ganz wie ein braver Musterschüler. Allgemein hatte sich die Ansicht durchgesetzt, es gebe keine Alternative zu der harten Strukturanpassungs- und Sparpolitik, die der Internationale Währungsfonds (IWF) im Verein mit der Weltbank vorschrieb, oder zur der Freihandelspolitik der Welthandelsorganisation (WTO).

Überall auf dem südlichen Halbkontinent hatte das Ende der Diktaturen liberaldemokratische Regierungsformen aufblühen lassen. Einzige Ausnahme war Kuba, das als Auslaufmodell aus vordemokratischen Zeiten galt.

Jorge Castañeda – später Vordenker eines „Dritten Wegs“ für Lateinamerika4 – analysierte damals den Niedergang der Linken in einem viel beachteten Buch mit dem Titel „Die entwaffnete Utopie“5 . Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Triumph der Vereinigten Staaten im Kalten Krieg bedeuteten weltweit eine radikale Rechtswende, die in Lateinamerika mit dem Machtverlust der Sandinisten (1990) und dem Ende des bewaffneten Kampfs in El Salvador (1992) und Guatemala (1996) zusammenfiel.

Nach dem Vorbild des politischen Paradigmenwechsels in Frankreich unter François Mitterrand und in Spanien unter Felipe González schwenkte die Sozialdemokratie überall auf die neoliberale Wirtschaftspolitik ein, während die größte kommunistische Partei des Westens, die italienische KPI, ihre Selbstauflösung verkündete. Danach verschaffte der „Dritte Weg“ à la Tony Blair und Bill Clinton dem Neoliberalismus eine neue Atempause.

Mit der Mexikokrise 1994 endete die Erfolgsphase des Neoliberalismus, auch wenn das rasche Handeln der Clinton-Administration den Eindruck vermittelte, es gehe lediglich um vorübergehende Anpassungsschwierigkeiten. Im selben Jahr rundete Brasilien – mit dem Wahlerfolg von Fernando Cardoso – den kontinentalen Konsens ab.

Die Linke bekehrte sich entweder zum neoliberalen Mainstream oder erwies sich als unfähig, Alternativen vorzuschlagen. In beiden Fällen bot sie das Bild des Verlierers. Die Partei der Demokratischen Revolution (PRD) in Mexiko, aber auch die Erweiterte Front in Uruguay, die Arbeiterpartei (PT) in Brasilien oder der Frente Farabundo Martí de Liberación (FLMN) in El Salvador waren nur noch ein Schatten ihrer selbst. Und die Gewerkschaften waren angesichts wachsender Arbeitslosigkeit, der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und der steigenden Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse in die Defensive gedrängt.

Der Siegeszug des Neoliberalismus und seines hegemonialen Anspruchs wären ohne die Zerschlagung der Linken durch die vorangegangenen Diktaturen undenkbar gewesen. Chile zum Beispiel, mit seiner langen Tradition des Kampfes für wirtschaftliche und soziale Rechte und seiner Geschichte politischer Demokratie, hätte sich schwerlich zur Speerspitze der neoliberalen Gegenoffensive entwickelt, wenn nicht General Pinochet sämtliche Strukturen der chilenischen Linken zerschlagen hätte, die das Land zumindest in ganz Lateinamerika zu einem Vorbild gemacht hatten. Auch in Argentinien wären die Regierung von Carlos Menem und die verhängnisvolle Dollarbindung des Peso ohne die Vorgeschichte massiver Repression nicht möglich gewesen.

In dieser bleiernen Zeit, in der die letzten Versuche der Linken scheiterten, der sozialen Ungleichheit ein Ende zu machen, setzte sich mit der Militarisierung in Uruguay und dem Staatsstreich in Chile das „brasilianische Modell“ der Militärdiktatur durch. Parallel zu diesem Rechtsruck begann ein weiterer, den Subkontinent nachhaltig prägender Umschwung: Eine der längsten Expansionsphasen des internationalen Kapitalismus ging zu Ende, ein langer Rezessionszyklus begann.

Das Erbe, das Bill Clinton seinem Nachfolger hinterließ, unterschied sich deutlich von dem, das er von Bush senior übernommen hatte. Lateinamerika hat nach seiner schwersten Krise seit den Dreißigerjahren stark an wirtschaftlichem und politischem Gewicht verloren. Das soziale Gefüge in den wirtschaftlich geschwächten Staaten zerfällt, große Teil der Bevölkerung entbehren elementare Rechte. Über die akuten Krisen – von Argentinien bis Haiti – hinaus entstehen laufend und immer schneller neue potenzielle Krisenherde.

Während der Krise in Mexiko 1994 begann mit der Kampagne der Zapatisten in den Wäldern von Chiapas die erste große internationale Protestwelle gegen den Neoliberalismus. Seither zeigt der Widerstand in Lateinamerika wieder neue Kraft. Etwa in Brasilien mit der Bewegung der Landlosen, in Ecuador und Bolivien mit den Protesten der indigenen Völker, in vielen Ländern mit dem Widerstand gegen die Privatisierung öffentlicher Versorgungsbetriebe. Für all diese Bewegungen ist das seit einigen Jahren stattfindende Weltsozialforum in Porto Alegre ein wichtiger Ort der Selbstverständigung und des Erfahrungsaustauschs.

In diesem Zusammenhang könnte 2003 für Lateinamerika das wichtigste Jahr seit 1973 werden: In Brasilien wird der neu gewählte Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva seine neue Politik vorstellen, die eine Alternative zum Neoliberalismus anstrebt. In Ecuador wird sich zeigen, wie viel Spielraum die Dollarbindung dem Präsideten Lucio Gutiérrez, einem Gegner des Liberalismus, lässt. In Argentinien stehen Präsidentschaftswahlen an, die darüber entscheiden, ob Brasilien einen Partner bekommt, mit dem es den Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) reaktivieren und eventuell eine gemeinsame Währung für die Region schaffen kann. Bei einem Wahlsieg der Rechten ist mit einer Dollarisierung der Wirtschaft zu rechnen. Das wäre eine Entscheidung zugunsten der Gesamtamerikanischen Freihandelszone und würde den Handlungsspielraum jeder neuen Regierung stark einschränken. In Venezuela strebt die seit Monaten andauernde Krise einer Lösung zu.

Damit ist zu erwarten, dass das Gesicht des Kontinents bis Ende des Jahres erheblich anders aussehen wird. Vor allem wird sich zeigen, welcher Spielraum den neuen Regierungen in Brasilien, Ecuador und vielleicht Argentinien auf dem Weg in eine postneoliberale Ära bleibt. Aber womöglich werden sie auch scheitern – als Opfer des Spekulationskapitals und der Dollarisierung oder auch nur, weil sie die herrschende Wirtschaftspolitik fortsetzen, anstatt ihr etwas entgegenzusetzen.

Der wesentliche Unterschied zur vorhergehenden Phase liegt nicht nur in der relativen Schwächung der neoliberalen Hegemonie. In den knapp zehn Jahren, in denen der Kontinent in den wirtschaftlich-finanziellen Zwangsrahmen des Neoliberalismus gepresst schien, begann eine neue Entwicklung, die den sozialen Bewegungen neue Möglichkeiten zur Intervention eröffnete. Die Zeit ist vorbei, da sich der Widerstand auf die soziale Ebene beschränkt und keinen Ausdruck auf nationaler politischer Ebene finden kann. Die neuen Regierungen wurden von den sozialen Bewegungen an die Macht getragen und können daher Ansprechpartner für deren Forderungen werden. Das gilt etwa für Evo Morales, der mit den Stimmen der Bauernbewegungen und anderer Basisgruppen in der zweiten Runde der bolivianischen Präsidentschaftswahlen die Oberhand behielt. Auch der Wahlsieg von Lucio Gutiérrez in Ecuador war ein Sieg der sozialen Kräfte, die sich gegen die alte, neoliberale Regierung formiert hatten. Und Kuba ist nicht untergegangen. Zwar musste die Insel ihre Wirtschaftspolitik den veränderten Rahmenbedingungen anpassen, aber dem Konsens von Washington hat sie sich nicht unterworfen.

In Venezuela kam die neoliberale Politik nicht voll zum Zuge. Nach dem Scheitern der Regierungen von Carlos Andrés Pérez und Rafael Caldera wählte das Land schließlich den ersten erklärten Gegner des Neoliberalismus zum Staatspräsidenten. An die Macht getragen wurde Hugo Chávez von einer Massenbewegung mit großem Erneuerungspotenzial, der es allerdings noch an politischen und organisatorischen Erfahrungen fehlt.

Chávez als bonapartistisches Zwischenspiel

DIE Krise in Venezuela offenbart die zeitliche Lücke, die zwischen der Phase der Erschöpfung des neoliberalen Projekts und der Phase des Entstehens neuer Alternativen entstehen kann. Diese Lücke füllt, wenn auch nur provisorisch, die Regierung Chávez mit ihrem „bonapartistischen“ Auftreten. Zugleich beginnt sich eine soziale Bewegung zu formieren, die durch die Sozialpolitik der neuen Regierung noch mehr Zulauf bekommt. So hat ein Wettrennen begonnen, das sich zwischen der Regierungspolitik und der erstarkenden sozialen Bewegung einerseits und den – bislang allerdings nicht klar formulierten – Alternativen der Opposition andererseits abspielt. Die Zukunft des Landes hängt vom Ausgang dieses Wettrennens ab – und von der Frage, ob die Destabilisierungsversuche erfolgreich sind, die mit dem gescheiterten Staatsstreich vom 11. April 2002 begonnen haben.

In Argentinien klafft – verglichen mit Venezuela – eine noch breitere Lücke zwischen der Erschöpfung des alten hegemonialen Modells und der Entstehung neuer Alternativen, an denen angesichts der tief greifenden Krise der Gesellschaft und der traditionellen Eliten kein Weg vorbei führt. Diese Lücke wird momentan durch die kurzatmige Politik des „Dritten Weges“ von Fernando de la Rúa ausgefüllt. In Venezuela wie in Argentinien zeichnet sich – unter unterschiedlichen Bedingungen – exemplarisch die schmerzhafte Geburt einer neuen Linken ab, deren Physiognomie im ersten Fall schon in Ansätzen zu erkennen, im zweiten aber noch nicht einmal in Umrissen zu erahnen ist.

In Brasilien und in Ecuador entstand – auf unterschiedliche Weise – parallel zur objektiven Krise ein subjektives Widerstandspotenzial. Brasilien wurde zum schwächsten Glied in der Kette, die den Kontinent umspannt hält, weil hier zeitgleich mit dem neoliberalen Modell auch eine sozial verankerte und politisch handelnde Linke aufgebaut wurde. Diese Linke ist jetzt in einer sehr angespannten Situation an die Macht gekommen, um ein politisches Projekt zu realisieren, das den schrittweisen Übergang zum Postneoliberalismus anstrebt. Das tatsächliche Profil der neuen Linksregierung wird man jedoch erst an ihrer konkreten Arbeit ablesen können.

Lula da Silva hat gleich nach seinem Wahlsieg verkündet: „Der Markt muss verstehen, dass die Brasilianer dreimal täglich essen müssen und dass viele Menschen Hunger haben.“ Sein Programm setzt auf ein Bündnis mit dem produktiven (Groß-)Kapital gegen das spekulative Kapital und will durch eine Senkung der Leitzinsen die Wirtschaft ankurbeln. Priorität genießt zum einen die Sozialpolitik, die eine ausgewogenere Einkommensverteilung, die Entwicklung des Binnenmarkts und eine Agrarreform anstrebt, zum anderen die Umstrukturierung, Erweiterung und Entwicklung des Gemeinsamen Markts des Südens (Mercosur).

Wie lassen sich dabei die Fallen umgehen, die der Neoliberalismus ausgelegt hat? Das „Geheimnis“ Brasiliens unter da Silvas Vorgänger Cardoso war, dass man die höchsten Zinssätze der Welt hatte. Damit ließ sich zwar Spekulationskapital anlocken und der Geldwert stabilisieren, doch es begründete auch eine neue Abhängigkeit von ebendiesem Spekulationskapital, das dem Land seit 1999 dreimal einen Bankrott bescherte. Und jedes Mal konnten nur neue IWF-Kredite die Krisen überbrücken.

Die brasilianische Öffentlichkeit sah in der zurückgewonnenen Geldwertstabilität eine Errungenschaft, und auch da Silva beurteilte sie während des Präsidentschaftswahlkampfs positiv. Allerdings lässt sich die Geldwertstabilität angesichts des riesigen Zahlungsbilanzdefizits6 nur durch den Zustrom von Auslandskapital aufrechterhalten, was aber eben hohe Zinsen voraussetzt. Um die Wirtschaft im Bündnis mit dem produktiven Kapital anzukurbeln, wird da Silva unter äußerst ungünstigen Bedingungen einen Ausweg aus der finanziellen Sackgasse finden müssen. Die 25-prozentige Abwertung der brasilianischen Währung im vorigen Jahr trieb die Inflationsrate wieder auf 25 Prozent, was zum einen höhere Lohnforderungen auslöste, zum anderen eine strenge Ausgabenkontrolle erzwingt.

So bewegt sich die brasilianische Regierung von Anfang an im Spannungsfeld der Kräfte, die vor allem den Finanzmarkt und die Geldwertstabilität mittels hoher Zinsen im Auge haben, und den eigenen sozial- und wirtschaftspolitischen Zielen, die niedrige Zinsen voraussetzen. Mit der Bildung einer „pluralen“ Regierung suchte sich da Silva das Vertrauen der Finanzmärkte zu sichern. Das zeigt deutlich, dass einstweilen eine vorsichtige Übergangsstrategie angesagt ist, die den sozialpolitischen Zielen der Regierung Rechnung trägt. Das erste Jahr wird sehr schwierig werden, zumal die Regierung mit dem knappsten Staatshaushalt seit zehn Jahren zu wirtschaften hat, der ein Erbe der Regierung Cardoso ist. Die positive Volksstimmung verschafft der neuen Regierung eine Atempause, in der sie die anstehenden Aufgaben ohne soziale Spannungen anpacken kann. Allerdings bleibt abzuwarten, ob diese Frist ausreicht, um die finanzielle Situation zu bereinigen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und den Übergang zu einem postneoliberalen Entwicklungsmodell zu schaffen.

Der innovativste und kühnste Aspekt in der Politik der Regierung da Silva dürfte zweifellos die internationale Politik sein, und sie wird sich auf den gesamten Kontinent auswirken. Sie wird dem weltweiten Hegemonieanspruch der USA entgegentreten müssen, zumal die Bush-Regierung gerade auf Veränderungen in Lateinamerika äußerst sensibel reagiert.7 An der Spitze der außenpolitischen Tagesordnung steht die Auseinandersetzung um die Gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA) und die Umstrukturierung des Mercosur. Wenn es gelingt, die Realisierung dieses gigantischen Projekts zur Marktbeherrschung hinauszuzögern, ohne Washington vor den Kopf zu stoßen, könnte der brasilianischen Regierung genügend Zeit bleiben, um ihr eigenes Projekt für Südamerika zu realisieren. Allerdings haben die USA durch ihren Handelsbeauftragten Robert Zoellick schon verkündet: „Wenn Brasilien der künftigen Freihandelszone nicht beitritt, wird das Land mit der Antarktis Handel treiben müssen.“

Noch überraschender als der Wahlsieg da Silvas kam die Wahl von Lucio Gutiérrez, der von allen sozialen Bewegungen und Indigenen-Organisationen unterstützt wurde. Als größte Schwierigkeit seiner Regierung erweist sich, dass sie nicht stark genug ist, die Dollarisierung der Wirtschaft im Alleingang rückgängig zu machen. Auf sie aber hatte der Kandidat Gutiérrez die Missstände des Landes zurückgeführt. Doch die Wirtschaft Ecuadors ist so geschwächt, dass eine Rückkehr zur früheren Währung „Sucre“ oder die Schaffung einer neuen Währung unmöglich erscheint. Die Zukunft der Regierung Gutiérrez hängt daher weitgehend vom Ausgang des Kräftemessens zwischen dem Mercosur und der FTAA ab.

Auch die Regierung Gutiérrez setzt sich aus heterogenen Kräften zusammen, denn sie muss sowohl das Vertrauen der traditionellen Eliten gewinnen als auch den Erwartungen der Wählerschaft gerecht werden. Der neue Präsident steht vor größeren Schwierigkeiten als da Silva, da er keine ausreichende parlamentarische Basis hat. Von Anfang stand ihm der Kongress feindlich gegenüber und wählte erklärte Regierungsgegner ins Parlamentspräsidium. Man muss daher erwarten, dass es binnen kurzem zu Konflikten zwischen der sozialen Bewegung und der Obstruktionspolitik des Parlaments kommen wird.

Die ersten von Gutiérrez ergriffenen Maßnahmen zeigen die Probleme, mit denen er zu kämpfen hat. Die vorgefundene wirtschaftliche Situation war noch katastrophaler, als sein Vorgänger eingestanden hatte. Nach Absprache mit dem IWF kündigte er eine Politik der „Kriegswirtschaft“ an: Die Benzinpreise werden um 35 Prozent erhöht, die öffentlichen Ausgaben eingefroren, die staatlichen Löhne und Gehälte gekürzt (um 20 Prozent, so weit sie über 1 000 Euro liegen). Und dies alles verbunden mit der Empfehlung an die Ordnungskräfte, nicht gegen Protestdemonstrationen vorzugehen.

Der Schlüssel zur künftigen Entwicklung in Südamerika liegt im Ausgang der diesjährigen Präsidentschaftswahlen in Argentinien (erster Wahlgang am 28. April, zweiter Wahlgang am 18. Mai). Vielleicht bekommt da Silva danach einen Partner für die Umstrukturierung und Erweiterung des Mercosur und die Schaffung eines supranationalen Parlaments und einer gemeinsamen Währung. Für die anderen Länder der Region wäre damit ein günstigeres Umfeld zur Krisenbewältigung gegeben, vor allem für Ecuador, weil eine gemeinsame Währung den Ausweg aus der Dollarisierung bedeuten könnte.

In Uruguay finden nächstes Jahr allgemeine Wahlen statt. Als Favorit wird die Erweiterte Front gehandelt, die diesmal nicht nur im ersten, sondern auch im zweiten Wahlgang siegen könnte. Damit würde auch dieses Land von einem Präsidenten regiert, der für die Stärkung der regionalen Identität eintritt. Zu erhoffen sind positive Folgen für Venezuela, für Paraguay (wo ebenfalls Präsidentschaftswahlen anstehen) wie auch für die beiden krisengeschüttelten Länder Peru und Bolivien.

In Argentinien zieht für das linke Lager nun Alicia Carrió in den Wahlkampf, die sich am stärksten mit den brasilianischen Vorschlägen identifiziert. Der nach den Meinungsumfragen sehr aussichtsreiche Luis Zamora zog seine Kandidatur zurück, weil er meint, es müssten allgemeine und nicht nur Präsidentschaftswahlen stattfinden. Dies könnte Carlos Menem, dem Urheber des argentinischen Debakels, zugute kommen – oder eine Polarisierung gegen ihn provozieren. „Que se vayan todos“ – „Weg mit ihnen allen“ ist der Schlachtruf eines ratlosen, ruinierten Landes, das die gesamte politische Klasse zum Teufel wünscht. Stimmenthaltung, ungültige Stimmen und andere Protestformen könnten die Kandidatin der Linken viele Stimmen kosten. Damit wäre für eine ganze Region die Chance verspielt, dass die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

deutsch von Bodo Schulze

* Professor an der staatl. Universität von Rio de Janeiro.

Fußnoten: 1 Der „Council of the Americas“ wurde 1965 von Wirtschaftskreisen gegründet und ist ein Forum zur Propagierung neoliberaler Wirtschaftspolitik und neuerdings einer Freihandelszone für beide Amerikas. 2 Wirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen für Lateinamerika (Cepal), „Panorama social de América latina 2000–2002“, Santiago (Chile) 2002. 3 Der Konsens von Washington, eine Art Katechismus des Neoliberalismus, befürwortet staatliche Ausgabendisziplin, „wettbewerbsfähige“ Wechselkurse, den Abbau von Handelshemmnissen, ausländische Investitionen, Privatisierung und Deregulierung. 4 Jorge Castañeda ist Unterzeichner des „Konsens von Buenos Aires“, der für die „Humanisierung“ des Neoliberalismus eintritt. Das Dokument wurde von hochrangigen Politikern Lateinamerikas unterschrieben. Zu ihnen gehören der heutige chilenische Präsident Ricardo Lagos, der heutige mexikanische Präsident Vicente Fox (dem Castañeda bis Januar 2003 als Außenminister diente), Nicaraguas Exvizepräsident Sergio Ramirez, der kurzzeitige argentinische Präsident Fernando de la Rúa – und der Vorsitzende der brasilianischen „Partei der Arbeiter“, Luiz Inácio da Silva, der später allerdings auf Abstand ging. 5 Jorge Castañeda, „La utopia desarmada“, Mexiko-Stadt (Joaquin Mortiz) 1995. 6 Das Staatsdefizit hat sich im Laufe des unter Cardoso aufgelegten Stabilisierungsplans verzehnfacht. 7 Politisch ist die Lateinamerikapolitik der USA geprägt durch eine direkte Militärintervention in Kolumbien und den Versuch, die Staaten der Region in eine multinationale „humanitäre“ Initiative einzubinden, die als Verlängerung des Kolumbienplans figuriert.

Le Monde diplomatique vom 14.03.2003, von EMIR SADER