Der letzte Gallier
DER gegenwärtige Dissens zwischen Frankreich und den USA in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik hat eine lange Vorgeschichte. Schon in den Fünfzigerjahren bestand de Gaulle gegenüber den USA auf Frankreichs eigenen außen-und sicherheitspolitischen Interessen. Die Geister schieden sich unter anderem an der Politik gegenüber dem Ostblock und China, wobei De Gaulle schon sehr früh auf Entspannung setzte. Damals führten die Divergenzen immerhin bis zum Austritt Frankreichs aus dem atlantischen Verteidigungsbündnis im Jahr 1966.
Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *
Die Irakkrise hat Spannungen zwischen Frankreich und den USA hervorgerufen, die sicher nicht so schnell vergessen oder gar überwunden sein werden. Ist dies der Beginn einer neuen Phase der Entfremdung zwischen den beiden Ländern? Um die Tragweite der Divergenzen zu ermessen, muss man sie in die Reihe früherer bilateraler Differenzen einordnen, die es seit den Anfängen der Fünften Republik immer wieder gab.
Als General de Gaulle 1958 das Präsidentenamt wieder übernahm, legte er seine Sicht der Weltlage und der sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen für Frankreich dar. In seinen Augen war die Sowjetunion nicht willens – womöglich auch nicht mehr imstande –, ihren Machtbereich weiter nach Westeuropa auszudehnen. Sie hatte sich überdies mit China als neuem Rivalen auseinander zu setzen. „Wer nicht Krieg führt, muss früher oder später Frieden schließen“, folgerte de Gaulle. Da sich die beiden Großmächte angesichts des atomaren Gleichgewichts eine direkte Konfrontation nicht mehr erlauben konnten, verloren die US-Atomwaffen ihre Funktion als Schutzschild für Europa. Um politisch handlungsfähig zu bleiben, sollte Frankreich sich deshalb aus dem atlantischen Verteidigungsbündnis zurückziehen und versuchen, den Ländern des „Ostblocks“ im Geiste von „Entspannung, Verständigung und Zusammenarbeit“ gegenüberzutreten. Zugleich wollte de Gaulle ein eigenes System der nuklearen Abschreckung aufbauen.
Diese Politik führte zu ernsthaften Meinungsverschiedenheiten mit den USA. Bei einer Zusammenkunft mit de Gaulle am 5. Juli 1958 zeichnete der amerikanische Außenminister John Foster Dulles ein ganz anderes Bild. Er sah die Sowjetunion weiterhin als größte Bedrohung für Europa, aber auch für den Nahen Osten, Afrika und Asien, und hielt eine politische und militärische Stärkung des atlantischen Bündnisses und den Aufbau eines regionalen Verteidigungssystems für unerlässlich. Sein Vorschlag: Die europäischen Länder sollten der Stationierung von Mittelstreckenraketen und taktischen Atomwaffen auf ihrem Territorium zustimmen.
De Gaulle trat diesen Vorstellungen in allen Punkten entgegen. Für ihn war die Politik der Sowjetunion vor allem durch nationale, wenn nicht nationalistische Erwägungen bestimmt. Den Kommunismus benutze sie dabei nur zu Legitimation – „so wie Sie den Kongress“, erklärte er seinem Gesprächspartner ohne Umschweife. Nur wenn Frankreich uneingeschränkt über sie verfügen könne – was für die USA natürlich nicht in Frage kam –, wolle de Gaulle US-amerikanische Atomwaffen auf französischem Boden dulden. Als das Gespräch auf die Krise im Libanon kam – die USA schickten bald darauf ein Expeditionskorps nach Beirut – mahnte er, der Nahe Osten dürfe nicht zu einem neuen Schauplatz des Kalten Krieges werden und man müsse die Unabhängigkeit der Staaten in der Region unbedingt stärken.
Obwohl für die französische Politik damals der Algerienkrieg im Vordergrund stand, machte General de Gaulle rasch deutlich, welchen Kurs er einzuschlagen gedachte. Zu seinen ersten Entscheidungen gehörte die Weigerung, Mittelstreckenraketen in Frankreich stationieren zu lassen.
Immerhin wandte er sich brieflich an Präsident Eisenhower und regte in einem Memorandum an, dass alle internationalen Probleme im Rahmen einer ständigen Abstimmung zwischen den USA, Frankreich und England behandelt werden sollten – einschließlich Fragen der atomaren Bewaffnung. Er machte sich allerdings keine Illusionen über die Reaktion der USA: „Sie werden nicht zustimmen“, sagte er zu General Pierre-Marie Gallois, der das Memorandum in Washington übergeben sollte. Und er behielt Recht.
De Gaulle unterhielt gute Beziehungen zu Präsident Eisenhower, der ihm seine klare Haltung in der Berlinkrise ebenso hoch anrechnete wie den Entschluss, Algerien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Er unterstützte auch dessen Nachfolger John F. Kennedy in seiner Reaktion auf die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba, obwohl sich Frankreich unter keinen Umständen an einem amerikanischen Embargo gegen Kuba beteiligen sollte. Bei alledem verlor de Gaulle aber die wichtigste logische Konsequenz seiner Außenpolitik nie aus dem Blick: den Rückzug Frankreichs aus der Nato und ihren gemeinsamen Kommandostrukturen. Am 7. März 1966 wurde dieser Schritt vollzogen.
Von da an hielt Paris in allen Bereichen der Politik eine eigenständige Linie bei. Etwa im Verhältnis zu Ländern der „Dritten Welt“: Mit Algerien, später mit dem Iran und dem Irak, etablierte Frankreich eine neue Form von Beziehungen zwischen einer Industrienation und einem relativ unterentwickelten, aber rohstoffreichen Land. In Laos und Kambodscha unterstützte man Regierungen, die ihre Unabhängigkeit und Neutralität gegenüber den USA verteidigten und zugleich bemüht waren, eigene Bündnisse gegen Nordvietnam und die Anfänge der Untergrundbewegung in Südvietnam zustande zu bringen.
Wichtigster Schritt dieser Politik war 1964 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Frankreich und China, ein Ziel, das de Gaulle seit dem Beginn seiner neuen Amtszeit verfolgt hatte. Die USA reagierten darauf äußerst verstimmt. Mit dem Vietnamkrieg wurden die außenpolitischen Vorstellungen vollends unvereinbar: Für die USA handelte es sich um einen Kampf an einer entscheidenden Front im Ost-West-Konflikt, Frankreich verurteilte diesen Krieg und setzte auf Dialog und Einigung mit den „wirklichen Kräften“, namentlich dem „nationalen Widerstand“ – ganz gleich, welches Regime damit zunächst an die Macht gelangen würde (so de Gaulle bei seiner Rede in Phnom Penh 1965).
Diese Position machte sich auch in der Lateinamerikapolitik geltend: Auf einer Reise durch mehrere lateinamerikanische Länder gab de Gaulle die viel beachtete Erklärung ab, eine Ablehnung der nordamerikanischen Hegemonie müsse nicht gleich den Anschluss an den Ostblock bedeuten – schließlich sei überall in der Welt auch eine unabhängige und eigenständige Position möglich. In dem heftigen und öffentlichen Einspruch gegen die Intervention der USA in der Dominikanischen Republik 1966 kam diese Ansicht deutlich zum Tragen. Präsident Lyndon B. Johnson hatte zuvor Truppen zur Absicherung der Diktatur auf Haiti entsandt.
Auch de Gaulles berühmtes „Vive le Québec libre!“ bei seinem Kanadabesuch 1967 konnte nur als Kampfansage an die angelsächsische Vorherrschaft auf dem amerikanischen Kontinent verstanden werden. Im Nahen Osten pflegte er enge Beziehungen zu Israels Ministerpräsident Ben Gurion, warnte aber vor politischen Schritten, die von den arabischen Völkern als Demütigung aufgefasst werden und damit den Ausgleich zwischen ihnen und Israel gefährden könnten. Den israelischen Präventivschlag vom 6. Juni 1967 verurteilte er in klaren Worten.1
Mister Goldfinger
DE GAULLE übte außerdem scharfe Kritik am internationalen Finanzsystem, das den Dollar zur internationalen Reservewährung machte und die USA damit nicht nur von den üblichen Regeln im Umgang mit Staatsverschuldung entband, sondern ihnen überdies eine enorme Einfluss auf die Finanzmärkte verschaffte. In der US-Presse verglich man den französischen Staatspräsidenten daraufhin mit „Mister Goldfinger“ aus dem gleichnamigen James-Bond-Film – als habe er es auf den Goldschatz in Fort Knox abgesehen.
Dieser politische Kurs musste in der Endphase des Kalten Krieges 1981 erstmals korrigiert werden. Damals war bereits François Mitterrand im Amt: Auf dem Gipfeltreffen der reichsten Länder in Ottawa, auf denen sämtliche politischen, wirtschaftlichen und strategischen Problemfelder behandelt wurden, entstand eine neue Allianz unter Führung der Vereinigten Staaten.
Einen weiteren Wendepunkt bedeutete der Zerfall der Sowjetunion nach 1991, die nicht etwa zu Überlegungen führte, ob das von den Vereinigten Staaten dominierte atlantische Verteidigungsbündnis weiterhin sinnvoll sei – im Gegenteil: Die Nato dehnte ihre Zuständigkeit weit über den im Gründungsvertrag festgelegten Bereich aus und nahm auch noch neue Mitglieder auf.
Frankreich machte gute Miene zu diesem Spiel. Nachdem es Mitterrand nicht gelungen war, die anderen Staaten zur Einrichtung eines europäischen Verteidigungssystems außerhalb der Nato zu bewegen, versuchte Jacques Chirac, dieses Konzept durch Eingliederung in den Nordatlantikpakt zu retten. Das im Juni 1996 in Berlin geschlossene Abkommen sah jedoch vor, dass der Einsatz der europäischen Streitkräfte nur mit Zustimmung des Nato-Oberkommandos und im Rahmen der militärischen Infrastruktur des Bündnisses erfolgen dürfe – also nur mit Duldung der USA.
In der deutsch-französischen Erklärung vom 9. Dezember 1996 wurde der dauerhafte Charakter der transatlantischen Verpflichtungen beschworen. Und nachdem Frankreich bereits in den Militärausschuss und den Rat der Verteidigungsminister der Nato zurückgekehrt war, machte Chirac das Angebot, sein Land auch in die militärische Befehlsstruktur einzugliedern – unter einer Bedingung: Die Zuständigkeit für die „Südflanke“ der Nato sollte einem der europäischen Mittelmeeranrainerstaaten übertragen werden. Die USA lehnten den Vorschlag ab.
Dann wurde das Bündnis in Jugoslawien auf die Probe gestellt. Weil die einzelnen europäischen Staaten nur begrenzte Einwirkungsmöglichkeiten sahen, vor allem aber, weil sie sich nicht einig waren und unterschiedliche Vorbehalte hatten, kam die Nato ins Spiel. Die Vereinten Nationen segneten das Eingreifen ab, indem sie die Verteidigungsorganisation zu ihrem „bewaffneten Arm“ im Jugoslawienkonflikt erklärten. Im Kosovokrieg zeigte sich aber, wohin die Entwicklung geführt hatte: Die USA beschlossen, die UNO zu ignorieren und die Nato-Truppen, einschließlich der französischen Kontingente, zum ausführenden Organ ihrer Intervention zu machen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges schien es den USA geboten, den Zuständigkeitsbereich der Nato zu erweitern und jene osteuropäischen Staaten in das Bündnis aufzunehmen, die glaubten, sich unter US-amerikanischen Schutz stellen zu müssen. Frankreich sperrte sich nicht dagegen – und musste an der Entwicklung im Nahen Osten und den diesbezüglichen Meinungsverschiedenheiten mit den USA erleben, wie wenig diese Fügsamkeit belohnt wurde. Eine Krise in den bilateralen Beziehungen war unausweichlich. Sie hat sich aus dem allzu langen Stillhalten gegenüber einseitigen Entscheidungen ergeben – und könnte Frankreich am Ende womöglich zu einer Neubestimmung seiner transatlantischen Beziehungen führen.
deutsch von Edgar Peinelt
* Journalist, Autor von „De Gaulle“, Paris (Perrin) 2002.