Auf Sieg setzen
DIE Doktrin von der Notwendigkeit des Präventivkriegs hat eine lange Vorgeschichte. Die neokonservativen Kreise in Washington spinnen an dieser Idee seit der Niederlage der USA im Vietnamkrieg. Für die Kerngruppe der heutigen Bush-Administration war sie das wichtigste Instrument, um nach dem Ende des Kalten Krieges die absolute militärische Überlegenheit der USA zu demonstrieren. Im Fall des Irak soll der Präventivkrieg eine qualitativ neue Mission erfüllen: die politische Neuordnung einer ganzen Region.
Von PHILIP S. GOLUB *
Seit nunmehr über 25 Jahren versucht die neokonservative US-amerikanische Rechte mehr oder weniger erfolgreich, die ideologische und politische Vorherrschaft zu erringen. Was lange durch demokratische Spielregeln und den Widerstand in der Gesellschaft verhindert wurde, scheint nun zu glücken – zum einen dank des zweifelhaften Wahlsiegs von George W. Bush im November 2000, zum anderen dank der Katastrophe vom 11. September 2001, die aus einem eher zufälligen Präsidenten einen amerikanischen Cäsar machte. Seither ist Bush zum Repräsentanten einer Politik geworden, die auf Unilateralismus, permanente Mobilmachung und Präventivkrieg setzt.
Der Krieg und die Militarisierung wären ohne die Ereignisse des 11. September nicht möglich gewesen, denn dadurch kippte das institutionelle Gleichgewicht zugunsten der „Neuen Rechten“. Gleichwohl hätte es andere – für die Weltpolitik weniger destabilisierende – Antworten geben können: etwa eine verstärkte multilaterale Zusammenarbeit und parallel dazu eine Strategie der Entspannung und Konfliktlösung in den Gefahrenzonen, vor allem im Nahen Osten; oder auch das Bemühen um regionale Entwicklung nach dem Vorbild des Marshallplans. Eine solche Politik hätte die demokratischen Kräfte vor Ort gestärkt und – frei nach Keynes – die Wirtschaft erfolgreicher angekurbelt als der Krieg.
All das geschah bekanntlich nicht, im Gegenteil: Die Bush-Administration ließ es zu, dass sich der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern weiter zuspitzte, setzte auf umfassende militärische Mobilisierung und auf den Präventivkrieg als Instrument der global governance. Abgesehen von der Tatsache, dass man die strategische Chance nutzen wollte, den Nahen Osten und die Golfregion „neu zu konfigurieren“1 , zeugt diese Entscheidung von sehr viel weiter reichendem imperialem Ehrgeiz. So betont Anatol Lieven von der Carnegie-Stiftung in Washington: „Der seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu Beginn der Neunzigerjahre von einer Gruppe um Dick Cheney und Richard Perle konsequent betriebene Plan der Bush-Administration zielt auf eine unilaterale Weltherrschaft, die von absoluter militärischer Überlegenheit herrührt.“2
Dieses Projekt, das 1991 durch das Verschwinden der zweiten Großmacht ermöglicht wurde, reicht bis in die 1970er-Jahre zurück. Damals entstand jene Koalition der Extremen, die in den USA inzwischen am Ruder ist. Ihr politisches Programm: die Gesellschaft durch Krieg und dauernde Mobilisierung zu einen und die weltweite strategische Überlegenheit der USA zu sichern. Dieses heute klar erkennbare autoritäre Konzept, das der ständigen Definition eines Feindes und eines starken, von der Gesellschaft weitgehend unabhängigen Staates bedarf, zeichnete sich bereits Mitte der 1970er-Jahre ab, als die radikale Rechte die Entspannungspolitik zwischen Ost und West sabotierte. Umgesetzt wurde es in den darauf folgenden Jahren, als dieselben Akteure die umfassendste militärische Aufrüstung betrieben, die das Land in Friedenszeiten je erlebt hatte, und zu Beginn der 1990er-Jahre, als die Neokonservativen die so genannte doctrine of primacy entwickelten.3
Der Abbau der Entspannungspolitik zwischen Ost und West bildete den Ausgangspunkt. Diese gesellschaftliche Revolte gegen die Staatsdoktrin der nationalen Sicherheit provozierte als Antwort ein umfassendes Bündnis, das den von Ronald Reagan angeführten rechten Flügel der Republikaner zusammenbrachte mit revanchistischen Elementen des Sicherheitsapparats, die die Niederlage in Vietnam nicht verwunden hatten, und Neokonservativen vom extrem antikommunistischen Flügel der Demokratischen Partei. Diese Koalition war entschlossen, die Autorität des Staates, den nationalen Konsens zum Kalten Krieg und die strategische Suprematie des eigenen Landes wieder herzustellen und verfolgte zu diesem Zweck eine politisch-ideologische Strategie, die sich systematisch gegen die Entspannungspolitik richtete.
Diese Leute sahen in der „realistischen“ Politik der Ära Nixon/Kissinger eine gefährliche Schwächung des kollektiven amerikanischen Willens und propagierten eine umfassende militärische Aufrüstung samt einer Offensivstrategie, die das sowjetische Regime in die Knie zwingen sollte. Man wollte von einer Politik der Begrenzung und der Koexistenz zu einer Politik „aktiver Maßnahmen“ übergehen. Kissinger selbst hat es so formuliert: „Während sich die ersten Akteure des Kalten Krieges mit einer Politik der Begrenzung begnügten, um einen Wandel [des sowjetischen Systems] zu bewirken, versprachen sich ihre Nachfolger entscheidende Veränderungen von direktem amerikanischem Druck.“4 Richard Perle, einer der einflussreichsten Konservativen der heutigen Administration, bekennt ganz offen: „Es ging um den Nachweis, dass die Entspannungspolitik nicht funktionieren konnte und dass man wieder auf Sieg setzen musste.“5
Der schmachvolle Sturz Richard Nixons und die Präsidentschaft des schwachen Gerald Ford kamen den Plänen der radikalen Rechten entgegen, die sich innerhalb weniger Jahre durchzusetzen vermochte. Um den Siegeswillen der Amerikaner wiederzubeleben und die Parteigänger der bewaffneten Koexistenz (die ja keineswegs „Tauben“ waren) zu neutralisieren, manipulierte man die Fakten, übertrieb die Gefahr und verleumdete Personen und Institutionen, die ihre Strategie hätten behindern können, insbesondere das Außenministerium und die CIA.
1974 läutete Albert Wohlstetter von der Rand-Corporation – der geistige Vater der neokonservativen Strömung und Schwiegervater Richard Perles – die erste Phase der Offensive ein. Er beschuldigte die CIA, sie unterschätze systematisch die Bedeutung der sowjetischer Raketen, die damals in Europa stationiert wurden.5 Gleich danach „bliesen die Konservativen zum gemeinsamen Sturmangriff“6 , unter Führung des damaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, seines Schützlings Richard Cheney, Generalstabschef von Präsident Ford, sowie einer Beratergruppe für strategische Aufklärung, dem President‘s Foreign Intelligence Advisory Board (PFIAB).
Diese Kampagne sollte am 26. Mai 1976 zur Gründung des „Team B“ führen, eines externen Gremiums unabhängiger „Experten“, das vom neuen Direktor der CIA, George Bush, beauftragt wurde, ein Gutachten zur Neubewertung der sowjetischen Bedrohung zu liefern. Dieser Konkurrenzkampf zwischen der CIA und ihren Verächtern (von rechts – von der Linken war niemand beteiligt) war umso erstaunlicher, als Bushs Vorgänger William Colby eine ähnliche Initiative im Jahr 1975 mit der Begründung abgewiesen hatte, es sei für ihn „schwer nachvollziehbar, wie eine Gruppe ad hoc benannter ‚unabhängiger‘ Analytiker […] eine erschöpfendere Evaluierung der strategischen Potenziale der Sowjetunion vornehmen könne als der Intelligence Service selbst“.
Unter der Leitung des Sowjetspezialisten Richard Pipes, Vater des neokonservativen Journalisten Daniel Pipes, entwarf, wie Anne H. Cahn nachgewiesen hat, das „Team B“ – zu dessen herausragenden Mitgliedern auch der heutige stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz zählte –, eine Reihe von Katastrophenszenarien, die als rein ideologische Konstrukte jeglicher empirischen Grundlage entbehrten.
Die Pipes-Gruppe kritisierte die Analytiker der CIA und wandte sich indirekt gegen die Politik der Entspannung: „Die Bewertungen in den Geheimdienstberichten sind voller unbegründeter Schlüsse über die Absichten der Sowjetunion. Diese Praxis ist der Grund für die permanente Unterschätzung der Intensität, des Umfangs sowie der damit verbundenen Bedrohung, die von der strategischen Aufrüstung der Sowjetunion ausgeht.“ Dagegen glaubte das „Team B“, die wahren Intentionen der Sowjetunion zu kennen: „Die politischen und militärischen Theorien Russlands und der Sowjetunion sind eindeutig offensiv […]. Ihr Ideal, formuliert von einem russischen Kommandanten des 18. Jahrhunderts, Marschall Suworow, ist die Wissenschaft der Eroberung.“ Mit anderen Worten: Die Sowjetunion sei – mit atomaren Interkontinentalraketen bewaffnet und an einer offensiven Militärstrategie in Clausewitz‘scher Tradition orientiert – nicht nur imstande, einen Präventivschlag gegen die Vereinigten Staaten zu führen, sondern auch ihrer Mentalität nach auf einen solchen Schlag geeicht.
Diese absurden, mit Unwahrheiten gespickten Verallgemeinerungen – die sowjetischen Rüstungsausgaben sanken von 1975 an bis 1987 um ungefähr 1,3 Prozent pro Jahr7 – wurden schlicht und einfach zu dem Zweck fabriziert, das institutionelle Gleichgewicht innerhalb der USA zu kippen. Nach Einschätzung von Howard Stoertz, dem damals für die UdSSR zuständigen CIA-Analytiker, war die Amtszeit von George Bush sen. „für die CIA ein absolutes Desaster“.8 Für die radikale Rechte war sie jedoch ein großer Erfolg und trug entscheidend zur Abkehr von der Entspannungspolitik bei, die 1976 vollzogen wurde, als das Wort aus dem Sprachschatz verschwand. Nach den Präsidentschaftswahlen von 1976 tönte der Sieger Ronald Reagan ganz im „Team B“-Jargon: „Diese Nation wurde zur Nummer zwei in einer Welt, in der es gefährlich, ja womöglich verhängnisvoll ist, der Zweite zu sein.“
Wie wir heute wissen, setzte 25 Jahre später der Erfinder der Vokabel „Reich des Bösen“ diesen Weg fort. George W. Bush holte viele Figuren aus der Zeit Präsident Fords, allen voran Perle und Wolfowitz, in sein Team, initiierte gewaltige Verteidigungsanstrengungen und ordnete wieder im großen Maßstab Geheimdienstoperationen an (die nach der Niederlage in Vietnam eingestellt worden waren), vor allem in Afghanistan und Mittelamerika.
Im März 1983 stellte Ronald Reagan die Sicherheitsarchitektur des atomaren Gleichgewichts in Frage, die von der Nixon-Administration entworfen worden war und auf dem Atomwaffensperrvertrag von 1971 aufbaute. Die von Reagan verkündete „Strategische Verteidigungsinitiative“ (SDI) war ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm, das ein für Erde und Weltraum taugliches Raketenabfangsystem entwickeln sollte. Gleichzeitig begann das Weiße Haus mit offensiven Aufklärungsflügen entlang den Grenzen der Sowjetunion und sogar in deren Luftraum. Diese „schwer wiegenden politischen Provokationen“, wie ein CIA-Analytiker formulierte, dienten dazu, die verwundbaren Stellen des sowjetischen Verteidigungssystems nachzuweisen.9 Mit dem Ende des Kalten Krieges 1991 war die strategische Suprematie der USA abgesichert, die das faktische Monopol auf die Anwendung von Gewalt in zwischenstaatlichen Beziehungen begründete. Doch zugleich entfiel mit dem Zusammenbruch der UdSSR die Rechtfertigung für die Doktrin der nationalen Sicherheit, der nur ein Todfeind Sinn einhauchen konnte.
Die Politikwissenschaftler Havers und Wexler schreiben: „Man sollte annehmen, dass sich die Neokonservativen über den Tod ihres Feindes gefreut hätten.“ Dies war jedoch nicht der Fall. Vom Gespenst der nationalen Abrüstung aufgeschreckt und „vor allem um die politische und kulturelle Legitimität der amerikanischen Herrschaft besorgt“, suchten sie nach einem neuen Dämon, „der in der Lage wäre, das Volk zu einigen und mit Abscheu zu erfüllen … Ein Feind, den es zu bekämpfen gilt, der Amerika an die Bedeutung und die Verwundbarkeit seiner Kultur wie seiner Gesellschaft erinnerte.“10
Der Golfkrieg von 1991 und die Darstellung der „Schurkenstaaten“ als weltweite strategische Gegner gestatteten die nationale Remobilisierung und die Ausweitung des militärischen Einflussbereichs der USA über den ganzen Planeten. Dieser Krieg, so Richard Cheney, inzwischen Verteidigungsminister von George Bush sen., gebe „einen Vorgeschmack auf die Art von Konflikten, mit denen wir es in diesem neuen Zeitalter möglicherweise zu tun haben werden […]. Außer im Südwesten Asiens haben wir wichtige Interessen in Europa, Asien, im Pazifik wie auch in Latein- und Mittelamerika. Wir müssen unsere Politik und unsere Kräfte so organisieren, dass vergleichbare regionale Gefahren in Zukunft schnellstmöglich gebannt oder besiegt werden können.“11
Einige Monate später legten Paul Wolfowitz und I. Lewis Libby, gegenwärtig stellvertretender Verteidigungsminister und Berater Cheneys in Sicherheitsfragen, Richtlinien zur Verteidigungdpolitik vor („Defense Policy Guidance“ 1992–1994). In diesem Pentagonpapier empfahlen sie, „jede feindliche Macht daran zu hindern, Regionen zu beherrschen, deren Ressourcen es ihr ermöglichen könnten, den Status einer Großmacht zu erlangen; die fortgeschrittenen Industrieländer von jedem Versuch abzuhalten, der darauf zielt, unsere Führung (leadership) in Frage zu stellen oder die bestehende politische und ökonomische Ordnung umzustürzen; sowie künftig jedem Aufstieg eines globalen Konkurrenten zuvorzukommen“.12
Wenn also die gegenwärtige Bush-Administration nach dem 11. September den Kampf gegen internationale Terroristengruppen in einen Kampf gegen „die Achse des Bösen“ verwandelt hat, verfolgt sie lediglich ein politisches und strategisches Projekt, das bereits in den 1970er-Jahren entworfen und in den 1990er-Jahren den Verhältnissen nach Ende des Kalten Krieges angepasst wurde.
Die im September 2002 offiziell verkündete Doktrin des Präventivkriegs markiert einen Bruch mit der Doktrin der Eindämmung und Abschreckung, wie sie der US-amerikanische Staat über lange Zeit verfolgt hatte. Aber sie liegt auf der Linie der radikalen, nationalistischen und neokonservativen Rechten, die gewillt ist, ihre Macht mit Kriegen zu untermauern. Oder, wie es William Kristol, ein neokonservativer Ideologe und Gründer des Project for a new American Century formulierte: „Es ist immer ein gutes Zeichen, wenn das amerikanische Volk bereit ist, Krieg zu führen.“13
deutsch von Petra Willim
* Dozent an der Universität Paris VIII und Journalist.