14.03.2003

Die Wahrheit liegt in der Praxis

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Die Wahrheit liegt in der Praxis

SEIT die Volksrepublik China die unwiderrufliche Entscheidung getroffen hat, ihr ökonomisches Wachstum durch den Anschluss an die Weltwirtschaft zu stabilisieren, ist für das volkreichste Land der Erde der außenpolitische Spielraum deutlich enger geworden. Die neue Führung in Peking versteht sich zwar als „verantwortungsvolle Supermacht“, in Wirklichkeit fehlen ihr jedoch der Wille und viele Voraussetzungen, sich auch gegenüber den Vereinigten Staaten als Global Player zu behaupten.

Von FU BO *

Ideologie – nicht nationale Interessen – bestimmte die Außenpolitik der Volksrepublik China von ihrer Gründung 1949 bis 1972. In diesem Jahr verbündete sich Peking mit dem ehemaligen Erzfeind USA gegen den sowjetischen Block. Die Annäherung an Washington verschaffte der Volksrepublik einen erheblichen strategischen Handlungsspielraum. Nach Aufhebung des westlichen Handelsembargos konnte China dringend benötigte Hightech-Waren importieren. Und die diplomatischen Beziehungen mit anderen westlichen Industrieländern führte zu einer Öffnung des chinesischen Marktes.

Diese pragmatische Politik ließ die ideologischen Grundsätze jedoch unberührt. Nach wie vor war man mit den Ländern der Dritten Welt gegen den Imperialismus und Kolonialismus des Westens verbündet. Mit Hinweis auf die sowjetische Bedrohung hielt man eine schwierige Balance zwischen diplomatischem Pragmatismus und revolutionärer Ideologie.

Die Kulturrevolution ruinierte die Wirtschaft und lief den Interessen der Bürokratie und der Massen zuwider. Doch mit Deng Xiaopings Rückkehr an die Macht wurde Maos radikale Klassenkampfideologie durch einen Konsens der bürokratischen Klasse abgelöst, die ganz pragmatisch auf ökonomischen Fortschritt setzte. Ihr erklärtes Ziel, den Lebensstandard der chinesischen Bevölkerung zu heben, wurde im ganzen Land unterstützt. Die logische Folge waren die Reform der chinesischen Kommandowirtschaft und die prinzipielle Entscheidung, ausländisches Kapital und Technologien zuzulassen.

Dengs Strategie der Reformen und der wirtschaftlichen Öffnung entsprachen seinem politischen Pragmatismus. Das ideologische Vakuum, das Mao Tse-tung hinterlassen hatte, füllte die neue pragmatische Losung: „Die Praxis ist das einzige Kriterium der Wahrheit.“ Dasselbe Prinzip formulierte Deng mit den Aussprüchen: „Bei einem guten Kammerjäger achtet man nicht darauf, welche Haarfarbe er hat“ und: „Überquere den Fluss Stein für Stein.“ Dengs Vision von einem reichen China war für das seit Jahrzehnten verarmte Volk zunächst sehr verlockend. Er setzte auf Trial-and-Error-Reformen, die den allgemeinen Lebensstandard anheben sollten. Als oberste Devise gab er aus: „Die harte Wahrheit lautet Entwicklung.“

Dieser erfolgsorientierte Ansatz hatte für die Außenpolitik eine doppelte Konsequenz. Zum einen inspirierte er eine „pro-westliche“ Diplomatie und neutralisierte Chinas ideologische Vorbehalte gegenüber dem internationalen Imperialismus. Der neue Begriff des Hegemonismus, mit dem die KP die alte Imperialismusdefinition ersetzte, erlaubte einen allmählichen Wandel im Umgang mit den westlichen Mächten. Peking distanzierte sich von seinen traditionellen Verbündeten in der Dritten Welt und reduzierte zugleich seine Hilfe für die Entwicklungsländer.

Zum Zweiten war Dengs Strategie der wirtschaftlichen Öffnung vor allem auf die USA ausgerichtet.1 Und zwar nicht nur, weil diese über die fortschrittlichen Technologien verfügten, die für die Modernisierung der vorindustriellen chinesischen Wirtschaft gebraucht wurden. China war für die USA auch im Kampf gegen Russland wichtig. Die Vorherrschaft der USA im ostasiatischen Raum und der Vorrang, den Deng der Erneuerung der chinesischen Wirtschaft einräumte, veranlassten den KP-Chef, das Prinzip absoluter Souveränität zugunsten eines anhaltenden internationalen Friedens aufzugeben. So ließ China die fortgesetzten Waffenlieferungen der USA an Taiwan unbeanstandet, und es regte an, die Streitigkeiten zwischen Japan und den Asean-Staaten um die Diayou-Inseln und die seerechtlichen Ansprüche im Südchinesischen Meer beizulegen und eine „gemeinsame Entwicklung“ der umstrittenen Territorien anzustreben.

Auch die allgemeine Entspannung der 1980er-Jahre trug dazu bei, dass sich China sicherer fühlte. Der Grundsatz der Pekinger Führung lautete jetzt: „Friede und Entwicklung sind die höchsten Ziele der modernen Welt.“ Doch dass mit der Ost-West-Entspannung die internationale Sicherheit schon garantiert sei, war eher ein Wunschdenken – das freilich rechtfertigen sollte, dass China dem ökonomischen Fortschritt Priorität einräumte.

Die globale Sicherheitslage veränderte sich schlagartig 1989, mit dem Ende des Kalten Krieges. Für China entstand ein gänzlich neues Umfeld. Die Bipolarität Sowjetunion–USA wurde durch eine unipolare Weltordnung abgelöst. Damit war die strategische Allianz zwischen China und den USA entwertet, die sich ja gegen die UdSSR gerichtet hatte. Doch der Traum vom dauerhaften internationalen Frieden war bald zerronnen. Der Zusammenbruch des Sowjetreiches hinterließ ein Machtvakuum. Und die USA machten mit ihrem Eingreifen in Konfliktregionen wie dem Nahen Osten wie mit ihrer forcierten militärischen Aufrüstung im asiatisch-pazifischen Raum die Erwartungen Chinas rasch zunichte. Der Leitspruch „Frieden und Entwicklung“ wurde zudem durch Wirtschaftssanktionen und die Reaktionen der USA auf die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz in Frage gestellt.

Obwohl Deng selbst an der Realisierbarkeit seiner beiden wichtigsten Grundsätze zweifelte, hielt er an seinen Prinzipien fest. Er spürte zwar den Umbruch, den das Ende des Kalten Kriegs für die internationale Politik bedeutete, hoffte aber auf die Wiederherstellung der chinesisch-amerikanischen Freundschaft, die er als „zwingende Voraussetzung für Weltfrieden und Stabilität“ sah.2

Dengs Entschlossenheit, auf ökonomisches Wachstum zu setzen, wurde durch die weiteren Entwicklungen noch gestärkt. Da die kommunistische Ideologie seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime in Russland und Europa keine tragfähige Legitimation mehr war, konnte nur dauerhaftes Wirtschaftswachstum das Überleben des Regimes garantieren. Um so wichtiger war für China ein friedliches Umfeld. Das aber war nach Dengs Logik nur zu garantieren, indem man sich mit dem Westen gut stellte.

Um die 1989 eingetretene diplomatische Isolation aufzuweichen, verkündete Deng, China dürfe nicht „das Banner hochhalten und an der Spitze der Bewegung marschieren“. Man müsse vielmehr „seine Absichten verschleiern und Kraft auf nationaler Ebene sammeln“. Mit dieser ideologischen Zurückhaltung wollte China die feindselige Haltung der USA aufweichen, allerdings auf Kosten seiner moralischen Glaubwürdigkeit auf internationaler Ebene. Im Unterbewusstsein der chinesischen Führung entstand so eine Art Minderwertigkeitsgefühl, das vom weltweiten Scheitern des Kommunismus und der eigenen ökonomischen Rückständigkeit herrührte. Damit geriet man gegenüber dem Westen ständig in die Defensive.

Chinas bewusster Verzicht auf eine international führende Rolle begrenzte allerdings seinen strategischen Handlungsspielraum und gefährdete seine geopolitischen Interessen in der eigenen Umgebung. Zum Beispiel im Verhältnis zu Nordkorea, das die jüngste nukleare Krise provoziert hat, ohne das „verbündete“ China konsultiert oder informiert zu haben.

Dank Konzessionen an die USA bei der Öffnung des chinesischen Marktes und eines konzilianten Abstimmungsverhaltens im UN-Sicherheitsrat zahlte sich Chinas zurückhaltende Außenpolitik allerdings in drei Punkten aus: Nach 1992 wurde das Embargo des Westens schrittweise aufgehoben; die USA konzedierten China die Meistbegünstigungsklausel; die ausländischen Direktinvestitionen nahmen seit 1992 deutlich zu. Steigende Exporte und ausländische Investitionen sorgten für anhaltendes Wirtschaftswachstum.

Dies und die entspannteren Beziehungen zum Westen stärkten das Selbstbewusstsein der chinesischen Führungselite. Als die dritte Generation das Erbe ihrer revolutionären Vorväter antrat, hatte sie keine ideologischen Ambitionen. Die Spitzenkräfte waren zumeist gut ausgebildete Technokraten, die fachliche und partielle Probleme gut lösen konnten, aber zugleich eine Überheblichkeit an den Tag legten, die von ihrer technischen Ausbildung herrührt. Mangels Kenntnissen in den Human- und Sozialwissenschaften ging ihnen auch der nötige strategische Weitblick ab, um Innen- und Außenpolitik aufeinander abzustimmen. Auch schienen sie außerstande, ihrem Volk eine Vision zu vermitteln, die über Dengs „Entwicklungsideologie“ hinausgegangen wäre.

Die USA verfolgten das chinesische Wirtschaftswachstum seit Mitte der 1990er-Jahre mit höchster Besorgnis. Washington war seit dem Ende des Kalten Krieges konsequent darauf aus, seine Hegemonie gegenüber jeder erstarkenden Macht abzusichern. Daher verstärkte es seine Militärpräsenz im Fernen Osten und seine militärisch-diplomatischen Bande mit Japan und den Asean-Staaten. Für die wirtschaftlichen Perspektiven Chinas war dies negativ. Letztlich hat also die präventive Eindämmungsstrategie der USA gegenüber China der alten Deng-Strategie den Garaus gemacht.

Innenpolitisch bedeutete Dengs zunehmend opportunistisch gefärbte „Entwicklungsideologie“ eine Reformpolitik, bei der das ökonomische Wachstum auf Kosten der Umwelt, der sozialen Gerechtigkeit und der Sicherheitsinteressen ging. Zudem ließen Korruption, starke Einkommensdifferenzen und wachsende Arbeitslosigkeit die Gesamtnachfrage schrumpfen.

Der mangelnde technische Fortschritt, eine verzerrte Industriepolitik und das Scheitern der Politik des Technologieimports ließen die Forschungs- und Entwicklungskapazität der einheimischen Industrien qualitativ stagnieren. Auf dem globalen Markt für IT-Produkte und andere neue Technologien wurde die chinesische Industrie entscheidend abgehängt.3 Die wirtschaftliche Entwicklung hing damit vorwiegend von Exporten und ausländischen Direktinvestitionen ab. Die wirtschaftliche Globalisierung zwang China, mit anderen Entwicklungsnationen um die Investitionen der Multis zu konkurrieren.

China fügte sich also in die hegemoniale Ordnung und wurde zu einer „verantwortungsvollen Supermacht“, die zum Beispiel während der asiatischen Finanzkrise 1998 ihre Währung nicht abwertete. Mit seiner Bereitschaft, sich an die internationalen Regeln zu halten, wollte Peking vor allem auch bei den umliegenden Staaten um Vertrauen werben. Diese Bereitschaft reflektierte aber auch Chinas Bestreben, von den Westmächten akzeptiert zu werden. Angesichts der militärischen Übermacht der USA fühlte China sich machtlos. Die Clinton-Regierung hatte gegenüber Peking eine Politik des „congagement“ betrieben: die Kombination aus Eindämmung (containment) und Verpflichtung (engagement), der China sein eigenes Doppelspiel entgegensetzte: einerseits Versöhnung mit den USA, andererseits Allianzen mit anderen Großmächten, um diese gegen Washington auszuspielen. So knüpfte Jiang Zemin am Ende der 1990er-Jahre partnerschaftliche Beziehungen zu sämtlichen Großmächten an. Damit musste China ironischerweise auch wieder eine lockere Koalition mit Russland eingehen, um gegen Drohungen seiner beiden „Lieblingsverbündeten“ im nordostasiatischen Raum – Japan und die USA – gewappnet zu sein.

Auf geostrategischer Ebene ist es für China jedoch schlicht unmöglich, einen Keil in die Beziehungen zwischen den USA und Japan oder in das US-europäische Bündnis zu treiben. Die erbitterte Konkurrenz innerhalb der so genannten Triade (USA, EU, Japan) um den chinesischen Markt eröffnet Peking zwar einen Handlungsspielraum, doch der beschränkt sich auf die Wirtschaft. Innerhalb dieses Dreiecks ist die Beziehung China–EU klar wirtschaftsorientiert, das Verhältnis zu den USA und Japan dagegen vorwiegend geopolitisch bestimmt.

Da die Inlandsnachfrage merklich zurückgeht, versuchte die chinesische Führung um jeden Preis, in die Welthandelsgesellschaft (WTO) aufgenommen zu werden, um mehr Auslandsinvestitionen an Land zu ziehen.4 Dass die chinesische Regierung dabei alle erdenklichen Zugeständnisse signalisierte, erhöhte nur noch die Schwelle für den potenziellen Beitrittskandidaten. Auch die Chance, sich im Fall Kosovo mit Russland zu verbünden, nahm China nicht wahr. Und mit der Entscheidung, zuerst mit den USA zu verhandeln, vergrätzte man dann auch noch die EU, die nun sehr viel härtere Forderungen stellt.

Solche Fehleinschätzung der eigenen Interessen zeigt im Grunde, dass China noch nicht zum politischen Global Player taugt. Die US-Raketen auf die chinesische Botschaft in Belgrad zerstörten dann endgültig die Hoffnungen, auf der internationalen Bühne mitspielen zu können. Die offizielle Begründung für die zurückhaltende Reaktion lautete: Da „eine schwache Nation keine Diplomatie betreiben“ könne (ruo guo wu wai jiao), sei eine Konfrontation mit den USA auf jeden Fall zu vermeiden, um die wirtschaftlichen Interessen Chinas nicht zu gefährden. Darin kam erneut und zum letzten Mal die Ideologie der „Entwicklung über alles“ zum Ausdruck.

Anders als der nationalistische Führer Deng Xiaoping, der die nationalen Interessen bewusst herunterspielte, um seine Prinzipen umzusetzen, sieht die dritte politische Generation den Nationalismus als reines Marketinginstrument, mit dem sich die eigenen Handlungen legitimieren lassen. Im chinesischen Volk ist Nationalismus jedoch bestenfalls als Gefühl nationaler Selbstachtung präsent. Doch genau die geht der herrschenden Kompradoren-Gesinnung ab, die sich aus zwei Quellen speist: aus dem bürokratischen Defätismus als Reaktion auf eine gescheiterte Industriepolitik und aus der von liberalen Ökonomen und der politischen Elite genährten Illusion, dass die Globalisierung nur Gewinner kenne. Diese Gesinnung ist das genaue Gegenteil des tief verwurzelten Nationalstolzes, das Länder wie Südkorea kennzeichnet.

Die sozialpolitische Krise Chinas ist mittlerweile derart fortgeschritten, dass die Führung alle Mühe hat, die Lage unter Kontrolle zu halten. Sie hält sich in der internationalen Politik selbst bei strategisch bedeutsamen Fragen (wie Taiwan oder Zentralasien) stark zurück – unter Missachtung des Missbehagens, das in der nationaler gesinnten Bevölkerung herrscht.

Der Krieg gegen den Terror hat das Verhältnis zwischen China und den USA etwas entspannt. Dabei nutzen die USA die Gunst der Stunde und bauen vor dem Hintergrund des Antiterrorkrieges eine strategische Festung um China herum.5 Und es gibt weitere Faktoren, die Chinas Sicherheit bedrohen und sein Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahrzehnten gefährden: die laufende Aufrüstung der USA in Ost- und Zentralasien, die faktische Übernahme der Diaoyu-Inseln durch Japan, das lediglich formelle Bündnis zwischen Russland und China, und auch die zunehmenden Unabhängigkeitsbestrebungen in Taiwan. Der einstimmige Beschluss der Asean-Staaten, die territorialen Konflikte im Südchinesischen Meer zugunsten einer regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit beizulegen, stellen die Beilegung des Konflikts in einen multilateralen Rahmen. Die diplomatische Reaktion Chinas auf die US-amerikanische Vormachtstellung ist heute die Initiative für eine „Demokratisierung der internationalen Beziehungen“.6 Das bedeutet aber keinesfalls einen Rückfall in die frühere Allianz mit der Dritten Welt, um die westlichen Mächte herauszufordern. Angesichts der Tatsache, dass das internationale Machtmonopol nicht durch ängstliche Überredungsversuche zu überwinden ist, sondern nur durch machtgestützte Kontrollmechanismen, sind die Erwartungen Chinas zwangsläufig illusionär.

deutsch von Elisabeth Wellershaus

* Pseudonym eines chinesischen Politikwissenschaftlers.

Fußnoten: 1 „Li Shenzi Talks about PRD‘s Diplomacy“ www.cmilitary.com/forums/general/messages/145195.html. 2 Aus einem Gespräch mit US-Sicherheitsberater Brent Scowcroft am 10. Dezember 1989, zitiert nach: „Selected Works of Deng Xiaopeng“, Vol. 3, pp. 350–351. 3 Peter Nolan „China, the US and the WTO: Battle of the Giants or Defeat of the Pygmies?“, in: „China and the Global Business Revolution“, London (Macmillan) 2001. 4 Der chinesische Ministerpräsident Zhu Rongji bemerkte gegenüber Stephen Roach, dem Chefökonomen von Morgan Stanley: „Wenn China der WTO nicht beitritt, wird es für das Land absolut unmöglich sein, seine Wirtschaft umzustrukturieren und sein ökonomisches Wachstumstempo aufrechtzuerhalten.“ 5 Andrew Murray „Challenge in the East“, The Guardian, 30. Januar 2002. 6 Siehe die Homepage des chinesischen Außenministeriums: www.mfa.gov.cn

Le Monde diplomatique vom 14.03.2003, von FU BO