Neuer Hut, gleicher Kopf
VOR einigen Wochen verbot der Oberste Richter in Afghanistan den gemeinsamen Unterricht für Jungen und Mädchen. Diese Entscheidung ist symptomatisch für eine Entwicklung, die keineswegs in Richtung größerer Liberalität und mehr Freizügigkeit geht. Eher im Gegenteil: Die Afghanen sehnen sich nach Recht und Ordnung, nach Sicherheit und klaren Verhältnissen, vor allem in den Provinzen weitab von Kabul. Reisende auf den Landstraßen sind ihres Lebens nicht sicher, Frauen zum Teil immer noch Freiwild. Angesichts solcher Umstände gedenkt auch das US-Militär, bei der Zivilbevölkerung Punkte zu sammeln: Soldaten sollen auch zivile Aufgaben übernehmen.
Von JUDITH HUBER *
Eiligen Schrittes gehen die Frauen von Kabul ihren Besorgungen nach. Die meisten, tief verhüllt, gleichen blauen Schemen. Einige tragen hochhackige Schuhe, und die Bewegung des Gehens lässt unter der Burka für einen Moment den Saum der hübsch bestickten Hosen aufblitzen – offenbar sind sie sehr sorgfältig gekleidet. Aber auch die wenigen Frauen, die sich ohne Ganzkörperschleier auf die Straße wagen, haben es eilig. Möglichst schnell huschen sie an den uniformierten, bärtigen Bewaffneten vorbei, die vor den Ministerien auf wackligen Stühlen lümmeln, die Mütze ins Gesicht geschoben, und jede Gelegenheit zur Ablenkung wahrnehmen. Jugendliche fahren fröhlich klingelnd auf ihren Fahrrädern vorbei und rufen sich Scherze zu. Männer in traditionellem Gewand spazieren Hand in Hand durch die Straßen, witzeln, lachen, umarmen sich. Händler schwatzen vor ihren niedrigen Büdchen mit ihren Kunden. Die Männer, die in den Straßen Kabuls unterwegs sind, nehmen sich Zeit. Der öffentliche Raum gehört ihnen.
Taiba ist eine energische und gebildete junge Kabulerin. Sie arbeitet in der afghanischen Hauptstadt als Hebamme für das Hilfswerk Terre des Hommes. Ihre Hausbesuche führen sie zu den vielen afghanischen Frauen, die zu Hause eingesperrt sind und nicht einmal für die ärztliche Behandlung während Schwangerschaft und Geburt das Haus verlassen dürfen. Taiba trägt seit Neuestem wieder die Burka. Mit gutem Grund. Kürzlich tauchten auf Mauern Aufschriften auf, die alle Frauen ermahnten, sich nur tief verschleiert in der Öffentlichkeit zu zeigen. Gezeichnet: die Mudschaheddin von Afghanistan. Wer dahinter steckt, ist nicht klar. Auch Taiba weiß es nicht. Es kann der Nachbar sein, es können die bewaffneten Milizen sein, die an allen Ecken und Enden der Stadt präsent sind, oder sogar Angehörige der Sicherheitskräfte: Die Regierung ist bekanntlich zum Teil aus ehemaligen antisowjetischen Widerstandskämpfern, Mudschaheddin, zusammengesetzt. Afghaninnen, die ihr Gesicht in der Öffentlichkeit zeigen, müssen damit rechnen, beschimpft oder gar bedroht zu werden – auch von ganz normalen Passanten.
Sogar in der Hauptstadt sind die wenigen Freiheiten, welche die Afghaninnen nach der Vertreibung der Taliban gewonnen haben, wieder bedroht. Ihren Anteil an dieser Entwicklung hat die afghanische Regierung, die sich im Allgemeinen wenigstens nach außen hin bemüht, der Forderung der westlichen Geldgeber nach Besserstellung der Frauen nachzukommen. Ultrakonservative Teile der Regierung haben jedoch Schritte unternommen, die Frauen ihren Vorstellungen von „sittsamem“ Verhalten zu unterwerfen. Das „Departement für islamische Weisungen“, das die Nachfolge des berüchtigten Taliban-Ministeriums „zur Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters“ angetreten hat, begann im Spätsommer 2002 Frauen zu einer Kleiderordnung anzuhalten, die angeblich islamischen Werten entspricht. Angestellte des Departements sprechen auf der Straße Frauen an, die sich in ihren Augen nicht korrekt kleiden, und schärfen ihnen ein: dunkle lange Mäntel oder Röcke, die Handgelenke und Knöchel bedecken und die Form des Körpers nicht zeigen, Kopftuch und ungeschminktes Gesicht. Die SittenwächterInnen gehen oft so weit, dass sie die Fehlbaren bis nach Hause verfolgen, um Eltern oder Ehemann in die Mangel nehmen. Kein Wunder, dass die Frauen die Burka solchen Belästigungen oft vorziehen: Unter dem Ganzkörperschleier können sie sich wenigstens schminken und tragen, was sie wollen.
Rina Amiri, politische Mitarbeiterin der Unama (United Nations Assistance Mission in Afghanistan), bezeichnet das Vorgehen der Regierung als das „freundliche Gesicht“ dessen, was die Taliban praktizierten. Sie sieht darin und in der Aufforderung der „Mudschaheddin von Afghanistan“ eine Mobilisierung konservativer Kräfte. Sie geht aber weniger von einem konzertierten Vorgehen als eher von Aktionen isolierter Gruppen aus und betont, dass das Thema Frau in Afghanistan seit jeher stark ideologisch besetzt sei. „Konservative wie Progressive machen sich das Thema zunutze. Beide Lager tragen es vor sich her wie eine Fackel.“
Das ramponierte Image der USA
DIE Kleiderfrage tritt allerdings hinter einer anderen Problematik in den Hintergrund: der Sicherheit. Die anhaltenden Kämpfe zwischen rivalisierenden Warlords in einigen Provinzen Afghanistans und die völlige Abwesenheit der zentralen Staatsmacht in den Regionen wirken sich besonders für Frauen und Mädchen dramatisch aus. Außerhalb Kabuls, das von der Präsenz der internationalen Schutztruppe Isaf (International Security Assistance Force) profitiert, herrscht ein Klima der Gesetzlosigkeit und Unsicherheit. In diesen Regionen ist die körperliche Unversehrtheit der Frauen stark bedroht, was es ihnen unmöglich macht, ihre grundlegenden Rechte wahrzunehmen.1
Oft werden Frauen vergewaltigt. Besonders stark von sexueller Gewalt betroffen sind Frauen und Mädchen aus ethnischen Minderheiten, vor allem Paschtuninnen im Norden Afghanistans. Die katastrophale ökonomische Lage und anhaltende Kämpfe zwingen viele Familien dazu, auf die Tradition des Brautpreises zurückzugreifen und ihre Töchter sehr jung zu verheiraten, sie also zu verkaufen.2
In vielen Gegenden sind an die Stelle der Taliban lokale Machthaber oder Polizisten getreten, die gegenüber Frauen eine ähnliche Haltung wie die Taliban an den Tag legen. An anderen Orten sind dieselben Behörden im Amt wie zu Taliban-Zeiten. „Sie haben den Hut gewechselt, aber der Kopf ist der Gleiche geblieben“, sagt bitter eine junge Frau aus Masar-i Scharif, die sich für die Anliegen der Jugendlichen einsetzt.
Immer wieder taucht in Gesprächen das Thema Sicherheit auf; ihm gilt die erste und dringendste Sorge der afghanischen Frauen wie auch der Männer. „Unter den Taliban konnten wir mit einem Haufen Geld durchs ganze Land reisen, ohne uns Sorgen machen zu müssen“, so ein häufig geäußerter Satz, der von der Sehnsucht nach „Recht und Ordnung“ zeugt – sogar nach einer derart grausamen Art von „Recht“, wie sie die Taliban praktizierten. Heute werden die Verbindungsstraßen wieder von Wegelagerern unsicher gemacht, was auch die Arbeit der Hilfsorganisationen erschwert.3 Der Wunsch nach Ausweitung des Mandats der Isaf, die in Kabul im Allgemeinen sehr geschätzt wird, ist nach wie vor groß. Doch eine solche Ausweitung scheint inzwischen ganz vom Tisch zu sein: Nachdem entsprechende Pläne anfänglich vor allem am Widerstand der USA scheiterten, scheint nun keiner der beteiligten Staaten mehr bereit, die dafür notwendigen Truppen und Finanzen zur Verfügung zu stellen. Doch wahrscheinlich ist es dafür ohnehin zu spät.
Lokale Milizenchefs haben das Machtvakuum, das die Taliban in den Provinzen hinterließen, längst ausgefüllt. Aus deren kleinen Fürstentümern dringen Berichte über Folter, Willkür, private Gefängnisse, Verfolgung von Minderheiten und Kämpfen zwischen rivalisierenden bewaffneten Gruppen.4 Viele Warlords konnten ihre Position in den letzten Monaten sogar noch stärken, nicht zuletzt dank der Versorgung mit Geld und Waffen durch die USA, denen sie bei ihrem Feldzug „gegen den Terrorismus“ beistanden.5
„Die Sicherheit wurde in die Hände jener gelegt, die sie am meisten bedrohen“, bringt es Human Rights Watch auf den Punkt.6
Inzwischen scheinen die Verantwortlichen in den USA aber erkannt zu haben, dass sich diese Entwicklung auch gegen die USA selbst und ihre Ziele in Afghanistan richtet. US-Einheiten sind in den letzten Wochen des Jahres 2002 verstärkt unter Beschuss geraten, und es gibt Anzeichen dafür, dass sich die den USA feindlich gesinnten Kräfte neu formiert haben.7
Dazu kommt, dass der mit internationalen Geldern finanzierte Aufbau der nationalen Armee einen Rückschlag nach dem anderen erleidet: Bisher wurden noch nicht mehr als 3 000 Soldaten ausgebildet, von denen viele nach der Ausbildung wieder zu ihren früheren „Arbeitgebern“, den Warlords, zurückgekehrt sind.8 Außerdem ist die Opiumproduktion seit der Vertreibung der Taliban explosionsartig angestiegen.9
Die Supermacht USA, die sich ursprünglich gegen eine Ausweitung der Isaf, aber auch gegen ein kostspieliges ziviles Engagement in Afghanistan ausgesprochen hatte, hat nun begonnen, die Strategie zu wechseln und will ihre Anstrengungen vermehrt auf Wiederaufbau und Stabilität richten.10 Gleichzeitig sollen „Kopf und Herz“ der Afghanen gewonnen werden – ganz offensichtlich mit dem Ziel, das stark ramponierte Image der USA im Land aufzubessern. In mindestens acht Provinzstädten sind „zivil-militärische Aktionszentren“ geplant.
In jedem dieser Zentren, die weniger zivilen Anlagen als militärischen Festungen gleichen werden, sollen mehrere dutzend Spezialisten des Militärs, Soldaten und allenfalls einige Zivilisten stationiert werden. Sie sollen Straßen ausbessern, Schulen und Krankenhäuser bauen und Brunnen graben. Erklärtes Ziel der kombinierten „zivil-militärischen“ Aktion ist, die Sicherheitslage zu verbessern, die Rückkehr von Taliban- und Al-Qaida-Kämpfern zu unterbinden und die Arbeit der Hilfswerke zu erleichtern. Ziel ist offensichtlich aber auch, sich in den Provinzen mit Militärbasen festzusetzen, um von dort aus operieren zu können.
Bei den internationalen Hilfswerken und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Kabul haben diese Pläne Besorgnis ausgelöst. Das NGO-Koordinationsbüro Acbar sah sich zu einer kritischen Stellungnahme veranlasst. „Wir befürchten, dass die Nutzung militärischer Strukturen zur Hilfeleistung und für den Wiederaufbau die Aufmerksamkeit vorzeitig von der sich verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan ablenkt und das Militär in Tätigkeiten engagiert, für das andere besser geeignet sind“, schreibt Acbar.11 Die US-Truppen sollten sich auf die Friedenssicherung außerhalb Kabuls, auf den Aufbau der Nationalarmee und auf die Entwaffnung und Verhaftung lokaler Milizenführer konzentrieren.
Die Organisation weist darauf hin, dass das Militär grundsätzlich andere Beweggründe für sein Handeln hat als NGOs, die sich bemühten, den wirklich Bedürftigen Hilfe zukommen zu lassen. Das Militär hingegen habe politische und sicherheitspolitische Ziele, bemühe sich um geheimdienstliche Informationsbeschaffung, um die Stärkung von verbündeten lokalen Machthabern und die Werbung für seine militärische Strategie.
Außerdem mache es die Vermischung von militärischem und humanitärem Engagement schwierig für die lokale Bevölkerung, zwischen Soldaten und zivilen Hilfswerksmitarbeitern unterscheiden zu können, was Letztere einem erhöhten Risiko von Übergriffen aussetze. Schließlich rechnet Acbar vor, dass die Tätigkeit eines Hilfswerksmitarbeiters rund zehnmal billiger zu stehen kommt als diejenige eines US-Soldaten.
Xavier Crombé, französischer Missionschef von „Ärzte ohne Grenzen“ in Kabul, ist über diese Entwicklung ebenfalls sehr besorgt. „Die Vermischung von militärischem und humanitärem Engagement bedroht unsere Arbeit ganz direkt.“ Seine Mitarbeiter seien nun doppelt vorsichtig. Aber nicht nur die Angehörigen der Hilfswerke seien bedroht. „Eine Bevölkerung, die von einer Armee unterstützt wird, verliert selbst ihre Neutralität und kann zum Ziel von Angriffen werden. Das ist die Logik und die Gefahr.“
* Redakteurin der Schweizer Wochenzeitung woz und freie Autorin.