14.03.2003

Monarchen, Militärs und Mullahs

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Monarchen, Militärs und Mullahs

TAKADDOM – so heißt das arabische Zauberwort für Fortschritt. Und Fortschritt ist für die arabische Welt immer gleichbedeutend gewesen mit dem Anschluss an die Modernisierung und mit der Hoffnung auf Integration in die westliche Welt. Nachdem die Bemühungen um Anerkennung durch den Westen immer wieder vergeblich waren, nachdem die Ende des 19. Jahrhunderts durch arabische Intellektuelle initiierte Erneuerungsbewegung zunächst nationalistisch und später fundamentalistisch gewendet wurde, nachdem sich in den arabischen Ländern seit Jahren hartnäckig monarchistische und militärische Regime halten, fühlen sich die Araber mehr denn je wie aus der Welt verstoßen. Dabei hatte in den 1920er-Jahren ein ägyptischer Schriftsteller gemeint, Orient und Okzident seien doch Zweige desselben Stammes, nämlich der griechischen Hochkultur.

Von SELIM NASSIB *

Welche Vorwände Amerika auch immer für seinen Angriff gegen den Irak bemühen mag – um gleich danach „die Demokratie in der Region“ zu installieren –, es ist der erbärmliche Zustand der arabischen Welt, der diesen Krieg überhaupt möglich macht. Die Berliner Mauer ist gefallen, die Sowjetunion zur Erinnerung geworden, die ganze Welt in eine neue Ära eingetreten – und in der gesamten arabischen Welt bleibt alles hoffnungslos beim Alten.

Dass despotische Regime zu dominierenden Kräften werden, ist historisch nichts Außergewöhnliches. Auch andere Regionen dieser Erde haben längere oder kürzere Phasen der Tyrannei erlebt. Aber hier vergehen Jahre und Jahrzehnte, ohne dass die arabischen Gesellschaften aus sich selbst eine kraftvolle Bewegung in Richtung Freiheit, Demokratie, Modernisierung hervorbrächten.

Bis heute sind in den arabischen Ländern anachronistische Monarchien und mehr oder weniger in Zivil verkleidete Militärregime an der Macht. Ihre einzige Opposition sind die islamistisch inspirierten Bewegungen. Die Araber scheinen nur die Wahl zwischen unterschiedlichen Varianten der Unterdrückung zu haben. Manch einer im Westen zieht daraus die Schlussfolgerung, der Islam als solcher trage einen antidemokratischen Kern in sich. Als Beleg werden dann die entsprechenden Zitate aus dem Koran angeführt.

Wo so eine Einstellung herrscht – und das ist nicht nur in rassistischen Kreisen der Fall – wird den Arabern ihre „Rückständigkeit“ selbst zugeschrieben, ihrer Mentalität, der Religion, die sie erfunden und verbreitet haben, ihrem Mangel an politischer Kultur. Die Araber halten dem entgegen, sie könnten nichts, aber rein gar nichts dafür, es sei der Westen – der Kolonialismus, der Imperialismus, Israel –, der sie bewusst von modernen Entwicklungen ausgeschlossen habe. Auch sie zitieren Sätze, die der Freiheit ins Gesicht schlagen, aber aus dem Alten Testament oder aus den Evangelien, und machen geltend, dass die Kreuzzüge oder die Inquisition im Vergleich mit dem aktuellen Islamismus auch kein Pappenstiel waren. Vor allem aber rufen sie das goldene Zeitalter des arabischen Reiches in Andalusien in Erinnerung – ein unübertroffenes Vorbild an Toleranz, Wissenschaft und Kultur. Ende der Mitteilung.

Doch ob eigenes oder fremdes Verschulden oder eine Verbindung aus beidem, die Frage verlangt nach einer Antwort: Warum vermitteln die Araber seit so langer Zeit den Eindruck, in ihrer glorreichen Vergangenheit gefangen zu sein und keinen Zugang zur Gegenwart zu finden? Es geht hier nicht um Rhetorik, sondern um eine Gefahr für den Weltfrieden. Vor einigen Monaten hat ein Militärexperte in einer französischen Tageszeitung behauptet, die Welt könne nicht auf Dauer damit leben, dass ihre wichtigste Erdölregion vor sich hin dämmert. Er sagte voraus, dass diese ungleichgewichtige Situation zwangsläufig explosiv würde, und verlangte deshalb von Europa eine veränderte Militärstrategie. Europa müsse nach geeigneten Mitteln suchen, um in der arabischen Welt zu intervenieren. Das macht nun George W. Bush wahr, mit konfusen Argumenten und im Namen des „präventiven Erstschlags“.

Auf einer seiner Videokassetten hat Ussama Bin Laden beiläufig darauf hingewiesen, dass der Niedergang der arabischen Welt „vor achtzig Jahren“ begonnen habe. Warum vor achtzig Jahren? Wenn wir zurückrechnen, kommen wir auf den Anfang der Zwanzigerjahre, das Ende des Ersten Weltkriegs, den Zusammenbruch des Osmanischen Reichs, die Übernahme der Region durch Briten und Franzosen: Nach vier Jahrhunderten unter türkischer Vorherrschaft sollten die Araber nun von den Ungläubigen beherrscht werden. Jetzt wissen wir, was Bin Laden gemeint hat: kein Heil, außerhalb einer muslimischen Regierung – dem Kalifat.

Ganz unabhängig von der Meinung eines Bin Laden haben die Araber diesen Übergang schwer verkraftet. Sie lebten, dachten und bewegten sich in einem arabischen Raum ohne Grenzen, der zum Osmanischen Reich gehörte. Ihr Herrscher mochte wohl Muslim sein, aber er war ein Fremder, ein Türke, eher demütigend also für eine Gemeinschaft mit einer so erhabenen Vorstellung von ihrer Vergangenheit und ihrer Identität. Dennoch fanden sie sich mit dieser Herrschaft ab.

Die Hohe Pforte – welch schöner Name, auf halber Strecke zwischen dem Weltlichen und dem Transzendentalen – konnte zwar grausam sein, aber sie hatte den Vorteil, dass sie ihre Untertanen in Frieden ließ und sich nicht um ihre Geschäfte scherte, solange sie ihren Tribut an Geld und Mannen bekam. Wenn die Steuern bezahlt und die Söhne zur Armee geschickt waren, hatten die gewöhnlichen Araber aus Beirut, Damaskus oder Jerusalem ihr Soll erfüllt, jedenfalls weitgehend. Die politische Macht war anderswo und nicht ihre Sorge. Eingebunden in Familien, Clans, Gemeinschaften, Regionen oder lokalen Herren ergeben, waren sie Araber aus Palästina, dem Libanon oder aus Syrien, ohne von ihrem „Heimatland“ eine Nationalität abzuleiten.

Die arabischen Intellektuellen dagegen hatten erkannt, dass der Zerfall des Osmanischen Reichs dem deutlich überlegenen, machthungrigen Westen in die Hände spielte. Um der Herausforderung zu begegnen, hatten sie schon am Ende des 19. Jahrhunderts eine große kulturelle und politische Erneuerungsbewegung initiiert, die „Nahda“ (Wiedergeburt), beflügelt von dem Willen, nicht nur den Islam zu reformieren, sondern auch in den arabischen Gesellschaften einen Wandel einzuleiten und die geistigen Kräfte wieder zu beleben, die die Araber endlich zur Teilnahme am Weltgeschehen befähigen würden. Politisch war damit die Notwendigkeit verbunden, sich von der osmanischen Herrschaft zu befreien. Da diese Emanzipation nicht unter dem Banner des Islam erfolgen konnte – das Türkenreich war selbst muslimisch –, wurde sie notgedrungen im Namen eines noch unreifen arabischen Nationalismus mit einer Gefolgschaft von Muslimen, Christen und Laizisten geführt.

Geschickt gesteuert von Franzosen und von Briten – die sich des legendären Lawrence von Arabien als Mittelsmann bedienten –, erwies sich der Freiheitsdrang der Araber als so stark, dass sie im richtigen Moment den Aufstand gegen die Türken wagten und zum Sturz des Osmanischen Reichs beitrugen. Aber der große unabhängige arabische Staat, den man ihnen verheißen hatte, war natürlich nicht in Sicht. Noch schlimmer kam es, als Großbritannien versprach, die Gründung einer „nationalen jüdischen Heimstätte“ auf dem Boden Palästinas zu unterstützen. Betrogen, besiegt und tief gekränkt gingen die Araber mit einem Gefühl der Bitterkeit der ersehnten Modernisierung entgegen. Im Nu waren ihre Gebiete mit Grenzen durchzogen, in Staaten eingeteilt. Sie mussten ihr Selbstbild als Untertanen eines souveränen Herrschers aufgeben und das als Bürger eines Nationalstaats unter britischem oder französischem Mandat annehmen. Warum das Mandat? Offiziell, um die jungen Länder auf die Selbstständigkeit vorzubereiten, ihnen Beistand zu leisten, sie mit demokratischen Institutionen auszustatten und sie langsam den modernen Zeiten zuzuführen.

Selbst unter diesen restriktiven, alles Gemeinsame sprengenden Bedingungen ist der Sturm, den die Nahda entfacht hatte, nicht gänzlich abgeflaut. Der liberale Modernisierer Saad Zaghlul, „Vater“ der ägyptischen Unabhängigkeit, knüpfte ausdrücklich an diese Bewegung an. In den 20er-Jahren schrieb der große ägyptische Schriftsteller Taha Hussein, Orient und Okzident seien Zweige desselben Stammes: der griechischen Hochkultur. Dank dem arabischen Andalusien sei dieses Erbe dem Westen zugeflossen, der es im Lauf seiner Entwicklung aufgesogen habe. Der östliche Zweig dagegen sei unter der türkischen und britischen Fremdherrschaft verdorrt, und nun müsse die arabische Welt ihren Rückstand aufholen und im Eiltempo eine orientalische, der westlichen ebenbürtige Modernität entwickeln.

Das Scheitern der Westintegration

FREILICH dachten nicht alle wie Taha Hussein. Für manche bedeutete die Nahda, die arabische Renaissance, sogar eine Rückkehr zur strengsten Lesart des Islam. Aber die fortschrittliche Auslegung war vorherrschend. Die arabische Welt präsentierte sich als begeisterter Kandidat für die Eingliederung in die westliche Welt.

Es gibt viele verschiedene Gründe, warum die erwünschte Integration nicht gelungen ist. Die Araber sehen vor allem einen: das britische Vorhaben, den Juden eine „nationale Heimstätte“ zu geben, die der Völkerbund durch das britische Mandat über Palästina legitimiert hat. Israel war noch nicht gegründet, da wurde es schon kraft seiner virtuellen Existenz zum schicksalhaften Rivalen der arabischen Welt gegenüber dem geliebten Westen. Man musste sich kleiden und gebildet sein wie die Europäer, tat das im Übrigen auch bereitwillig, musste wählen gehen, sich gewählten Versammlungen unterwerfen, das Gesetz achten wie in Europa und dabei ohne Murren (unter der Führung eigener Leute, die sich mehr oder weniger an die Engländer verkauft hatten) hinnehmen, was als skandalöse Rechtsverweigerung und schleichender Raub an Palästina erschien.

Als dann 1948 der Staat Israel gegründet wurde, fühlten sich die Araber wieder einmal aus der Welt verstoßen. Die schändliche Kollaboration des damaligen Mufti von Jerusalem und Palästinenserchefs Hadschi Amin al-Husseini mit Hitler hatte sie diskreditiert. Die internationalen Sympathien (und Schuldgefühle) flossen selbstverständlich den Überlebenden des Holocaust zu und nicht der palästinensischen Bevölkerung, von der drei Viertel durch die Gründung Israels ins Exil getrieben wurden. Der alte arabische Groll darüber, am Ende des Ersten Weltkrieges getäuscht worden zu sein, wurde durch das Ressentiment gegen Israel neu entfacht. Ausgegangen von der Nahda, der Renaissance, zerschellte der erste große arabische Integrationsversuch an der „Nakba“, der palästinensischen Katastrophe.

Es war keine Erschütterung, es war ein Erdbeben. Innerhalb von zehn Jahren riss es fast alle Regime und Monarchien mit sich, denen eine Mitschuld an der Niederlage Palästinas gegeben wurde. Die Umwälzung begann mit der Revolution in Ägypten, die die Militärs unter der Führung von Gamal Abdel Nasser an die Macht brachte. Im Namen der arabischen Einheit, der Befreiung Palästinas und des Sozialismus entwarf Nasser eine neue, bipolare Landkarte der arabischen Welt: auf der einen Seite das mit der Sowjetunion verbündete Ägypten, auf der anderen Saudi-Arabien als Bündnispartner der USA.

In Wirklichkeit bildete Nassers recht weltlich orientiertes Regime, das von einigen anderen arabischen Ländern mehr oder weniger kopiert wurde, den Ursprung einer zweiten großen Bemühung, zu den modernen Zeiten aufzuholen.

Als Ägypten sich den Namen „Vereinigte Arabische Republik“ gab, verband es damit die Hoffnung, sich nach und nach auf andere Länder auszudehnen, den schwächenden Rahmen der Nationalstaaten aufzubrechen und früher oder später zur „natürlichen“ Form des unabhängigen Großstaats zurückzufinden, der – „vom Golf bis zum Atlantik“ – den Arabern erlauben würde, endlich ihren Platz in der Welt einzunehmen. In der Zwischenzeit bemühte sich das von Nasser angeführte „progressive Lager“, den „Fortschritt“ – takaddom, ein Zauberwort – voranzutreiben, oder jedenfalls das, was man damals dafür hielt: Verstaatlichung, Landwirtschaftsreform, Kontrolle der Reichtümer, Modernisierung, Erziehung, Vergesellschaftung – nur die Demokratie war bei vielen als „bürgerlich“ verpönt.

Dennoch ließ die Anziehungskraft des Westens und seiner Lebensart, der Wunsch, von ihm akzeptiert zu werden, nicht nach. Trotz der antiimperialistischen Proklamationen dominierte auch in Ägypten weiterhin das Gefühl der enttäuschten Liebe.

Paradoxerweise machte das für Freiheit und Demokratie werbende Amerika ausgerechnet das saudische Königshaus zu seinem Hauptverbündeten in der Region, eine despotische, Gesellschaft und Religion beherrschende Dynastie, die vom Erdöl lebt und im Übrigen einen maßlosen islamistischen Bekehrungseifer finanziert. Die USA, wie besessen vom Kampf gegen den Kommunismus, den sie sich damals auf die Fahnen geschrieben hatten, spielten fast überall den strengsten islamischen Fundamentalismus gegen die „Progressiven“ aus, die als Ungläubige, Kommunisten, Atheisten und Gottesfeinde abgestempelt wurden.

Für das Scheitern der von Nasser angestoßenen Bewegung gibt es sicher vielerlei Gründe, aber die arabische Öffentlichkeit nahm auch in diesem Fall nur einen einzigen zur Kenntnis: die Naksa, die historische militärische Niederlage im Sechstagekrieg im Juni 1967. Wieder einmal aus der Welt verstoßen, erlebten die Araber Israel erneut als Quelle all ihrer Misserfolge und all ihrer Übel, was ihnen übrigens ersparte, sich selbst in Frage zu stellen. Die geschlagene arabische Nation sprach nur noch von „Komplott“, verweigerte jede Selbstkritik, brachte alle kritischen Stimmen zum Verstummen und setzte ihre ganze Hoffnung in den keimenden palästinensischen Widerstand. Das Nasser-Regime verschwand 1970 mit Nassers Tod, aber es hinterließ in Syrien mit Hafis al-Assad und im Irak mit Saddam Hussein gleichartige Regime, die sich zu erbarmungslosen Militärregimen entwickelten und bis heute existieren.

Im anderen Lager blieb Saudi-Arabien der Liebling der Amerikaner. Aber der Sieg über Nasser und die Vervierfachung des Erdölpreises 1973 ließen die Möglichkeiten der Saudis, Einfluss zu nehmen und den Bekehrungseifer zu befördern, beträchtlich steigen. Bald erschienen Irak und Syrien sowie das ferne Algerien als Festungen des arabischen Nationalismus in einem mit saudischen Dollars gekauften, islamisierten und neutralisierten Universum. Als 1977 ein Separatfrieden zwischen Israel und Ägypten unter Präsident Anwar as-Sadat zustande kam, durften sich die Amerikaner sagen, dass ihre „durch und durch islamisch“ angelegte Strategie von Erfolg gekrönt war.

Lange hielt der Eindruck nicht vor. 1979 führte die iranische Revolution den USA plötzlich vor Augen, dass man durchaus Islamist und antiamerikanisch sein konnte – eine Spielart, die ihnen bis dahin noch nicht begegnet war. Nach der demütigenden Geiselnahme in der US-Botschaft von Teheran – gewissermaßen der Gründungsakt der Islamischen Republik Iran – kam ihnen die Blitzoffensive Saddam Husseins gegen das Mullah-Regime nicht ungelegen. Aber die Iraner widerstanden, parierten und wurden gefährlich. Mit Ausnahme Syriens setzte sich die arabische Welt über ihre Spaltungen hinweg und stellte sich hinter Saddam Hussein, um die schiitischen Islamisten Persiens, die die Ölquellen im Golf zu erobern drohten, in Schach zu halten. Auch Amerika ermutigte Saddam, indem es den Feind von gestern in den Rang eines Alliierten erhob.

Andernorts, namentlich in Afghanistan, blieb es bei der alten Strategie: Die USA unterstützten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln fundamentalistische Muslimgruppen in ihrem Kampf gegen die sowjetische Besatzungsmacht und das Regime in Kabul. Schizophrener ging es nicht. Während die meisten arabischen Regime im Krieg gegen den iranischen Islamismus gemeinsame Sache mit den Amerikanern machten, standen tausende arabische Freiwillige den afghanischen Islamisten bei, die von denselben Amerikanern unterstützt wurden.

Im Jahr 1988 gewann der Irak offiziell den Krieg gegen den Iran. Aber das Land war ausgeblutet, erschöpft von den acht Jahre dauernden Kämpfen, und es musste wieder aufgebaut werden. Verärgert über die geringe Anerkennung, die ihm die Golfstaaten bezeugten, und auf das Wohlwollen der Amerikaner setzend, versuchte sich Saddam Hussein mit Kuwait zu entschädigen, ehe er begriff, dass George Bush senior keineswegs bereit war, ihn gewähren zu lassen. Der erste Golfkrieg zerschlug den Irak, ohne das Regime zu beseitigen, und erlaubte Amerika, Truppen und Militärgerät in Saudi-Arabien zu stationieren. Ebendiese Präsenz der „Ungläubigen“ in unmittelbarer Nähe der heiligen Stätten führte zur „Dissidenz“ Bin Ladens, auch er ein Ziehkind der Amerikaner, die ihn einst ausgebildet hatten.

Die Entwicklung Bin Ladens zu einer Oppositionsfigur stellt eine grundsätzliche Wende dar. Mit ihm geht es nicht mehr darum, der „modernen Welt“ vergeblich hinterher zu laufen, um einen Zipfel von ihr zu erhaschen, mit ihm geht es darum, sich durch Zerstörung an ihr zu rächen – um aus ihren Trümmern die ideale muslimische Nation erstehen zu lassen. Der Mann, der apokalyptische Reden hält (und sie triumphierend in die Tat umsetzt), ist nicht irgendwer, sondern der schwerreiche Sohn einer hoch gestellten Familie, die dem Serail der Saud angehört.

Jählings ist ein Verdacht auf die Heiligste aller Heiligen gefallen, die saudische Monarchie, auf die Amerika alles gesetzt hat. Fassungslos entdecken die US-Ermittler, dass fünfzehn der neunzehn Terroristen des 11. September Saudis waren, dass zahllose Verantwortliche von der Spitze bis zur Basis der saudischen Pyramide mit der rechten Hand den Amerikanern Treue schwören, während sie mit der Linken den „Terrorismus“ finanzieren. Das von Saudi-Arabien über Jahrzehnte aufgebaute, riesige karitative Netzwerk dient in dem von Bin Laden ausgelösten Dschihad als Grundstruktur für Terroristen, wobei die alten Widerstandskämpfer aus Afghanistan die vorderste Front bilden. So trübe die theologischen Grundlagen sind, so sehr gleichen die Methoden, mit denen sie vernebelt werden, denen der Verwaltung des saudischen Finanzimperiums – raffiniert, nirgendwo greifbar, global.

Letzten Endes wendet sich die „durch und durch islamische“ Strategie der Amerikaner gegen sie selbst. Da der Kommunismus als öffentlicher Feind Nr. 1 verschwunden ist, wird ein neuer inthronisiert: der islamistische Frankenstein, den die USA mit eigenen Händen erschaffen haben und der sich nun ihrer Kontrolle entzieht. Schließlich verkehren sie die alte Strategie Punkt für Punkt in ihr genaues Gegenteil, rufen zu einem durch und durch antiislamischen Kreuzzug auf und verlangen, dass die Weltgemeinschaft mitmarschiert.

Diese dramatische Umkehr vermittelt den Arabern erneut das Gefühl, dass sie als Araber die Zielscheibe sind. Das lässt ihr Zugehörigkeitsgefühl gerinnen und blockiert jedes unabhängige individuelle Denken. Dennoch gibt es sehr wohl Demokraten in dieser Region der Welt. Missachtet, oft brutal unterdrückt, führen sie fast ohne äußere Unterstützung einen besonders schwierigen Kampf. Aber ihre Botschaft kommt nicht an, fasst nirgends Fuß. Sie bleiben mutige und isolierte Einzelpersonen, denen es nicht gelingt, die Gesellschaften, deren Teil sie sind, mitzuziehen.1

Das gemeinsame Gefühl Araber zu sein

DABEI wissen die arabischen Völker genau – besonders im Irak und in Syrien –, dass Saddam Husseins Regime eine blutige, skrupellose Tyrannei ist und dass das syrische Regime der Assad unter dem Vater wie unter dem Sohn kaum ein milderes Urteil verdient. Sicher würden sie sich freuen, sie verschwinden zu sehen – vorausgesetzt, sie verschwänden ohne apokalyptische Begleiterscheinungen. Aber im Augenblick, angesichts der Kriegsdrohung, sagt der Diktator das Gleiche wie sie. Wenn er die falschen Versprechungen, die Doppelzüngigkeit und die Straflosigkeit anprangert, die der Westen Israel gestattet, stimmen sie zu. Wenn er die arabische Einheit und die gerechte Sache der Palästinenser verteidigt, stimmen sie ebenfalls zu. Am Ende setzt sich das Gefühl, Araber zu sein und irgendwie der arabischen Gemeinschaft anzugehören, gegen das demokratische Streben durch, das als unerreichbarer Traum empfunden wird.

Heute merken die Amerikaner, dass die arabische Welt mit ihren fundamentalistischen Monarchen, Militärs und Islamisten, die über den Ölquellen tanzen, unkontrollierbar und unentwirrbar geworden ist. Ein Sumpf, aus dem nichts Gutes kommen kann. Um die Verstrickungen in der Region zu lösen, hätte man damit beginnen müssen, ihr zentrales, symbolisch aufgeladenes Problem mit einem Minimum an Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu lösen: Palästina. Ausreichend wäre das noch lange nicht – denn Israel ist nicht das einzige Problem –, aber es hätte vielen Missständen ihre Rechtfertigung genommen, den Diktaturen ebenso wie der Fixierung auf das eigene kleine Umfeld, dem Rückzug auf sich selbst, dem Gefühl des Ausgeschlossenseins und jener reflexartigen Erklärung, die die Quelle allen Übels ist: „Die anderen sind schuld.“

Die zweite Lösung wäre ein „chirurgischer Eingriff“, ein großes Blutvergießen, das ein für allemal Schluss macht mit den herrschenden Verhältnissen. Wenn Amerika den Irak angreift, führt es nicht nur Krieg gegen den Irak, sondern gegen die arabische Welt, wie sie ist, mit ihrer bunten Mischung aus weltlichen und islamistischen Regimen. Ein Tritt in den Ameisenhaufen – danach wird man schon sehen, wie es weitergeht. Berauscht von seiner Allmacht an einsamer Spitze, malt George W. Bush sich aus, dass er sich durch die Unterwerfung des Irak, der bekanntlich über die zweitgrößten Erdölreserven der Welt verfügt, und die Einrichtung einer „befreundeten“ Regierung in Bagdad frei macht vom wenig vertrauenswürdigen Saudi-Arabien, das die allergrößten Erdölreserven besitzt. Und wenn die Diktaturen abgeschafft und die Ölquellen unter Kontrolle seien, werde sich der gesamten Region auf wunderbare Weise eine strahlende, demokratische Zukunft eröffnen. Fraglich bleibt nur, ob der Rest der Welt (außer Großbritannien und Israel) genug in die Waagschale werfen kann, um ein Gegengewicht zu bilden zu den Plänen dieses neuen Doktor Seltsam – der die Bombe so liebt.

deutsch von Grete Osterwald

* Journalist, Autor von „Stern des Orients“, Zürich (Unionsverlag) 1999.

Le Monde diplomatique vom 14.03.2003, von SELIM NASSIB