14.03.2003

Angst in Ramallah, Besorgnis in Tel Aviv

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Angst in Ramallah, Besorgnis in Tel Aviv

WELCHE Auswirkungen wird der höchstwahrscheinlich bevorstehende Irakkrieg auf den israelisch-palästinensichen Konflikt haben? Überall macht sich Besorgnis breit: Bei Jassir Arafat ebenso wie bei dem neuen Chef der israelischen Arbeiterpartei, Avram Mitzna, bei den Mitgliedern der Palästinensischen Autonomiebehörde ebenso wie bei denen der Regierung in Tel Aviv. Die einen befürchten die massenhafte Vertreibung der palästinensichen Bevölkerung, die trotz aller Versprechungen Washingtons bereits im kleinen und schleichend begonnen hat. Auf israelischer Seite bangt man um den Zustand der israelischen Wirtschaft, deren Krise sich immer mehr verschärft und die sich unter den gegebenen Bedingungen nicht erholen kann.

Von ERIC ROULEAU *

Ein langer, rechteckiger Tisch nimmt den größten Teil des Raumes ein, in dem der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde wohnt, arbeitet, seine Mahlzeiten einnimmt und Besucher empfängt. Am hinteren Ende steht Jassir Arafat über ein Pult gebeugt, auf dem sich Akten und Papiere stapeln. Die Brille auf die Nasenspitze geschoben, geht er Übersetzungen von Artikeln aus israelischen Zeitschriften durch, streicht hier und da etwas mit einem roten Filzstift an. Er sieht blass und erschöpft aus.

Vor der Tür wachen bewaffnete Soldaten und Offiziere in Uniform über seine Sicherheit, doch draußen vor der Mukataa, dem Amtssitz der Autonomiebehörde, ist kein Militär zu sehen. Das Gebäude, oder was davon nach wiederholtem israelischem Artilleriebeschuss noch übrig ist, steht in einer Trümmerlandschaft. Manchmal wagt sich der 74-jährige Arafat hinaus zwischen die Ruinen. „Um die alten Knochen in der Sonne zu wärmen“, wie er sagt. Die enge Kammer, in die er seine Gäste bittet, hat keine Fenster. Man fürchtet, es könnte doch einmal eine Granate auf ihn gefeuert werden – „versehentlich oder auch nicht“.

Arafat macht sich Sorgen wegen der möglichen Folgen eines Kriegs im Irak. Es könnte zur Wiederbesetzung des Gaza-Streifens kommen, zu gezielten Tötungen, zu schweren Luftangriffen – und zum „Transfer“ der Palästinenser, wie man in Israel sagt, um den Plan für eine ethnische Säuberung zu umschreiben.1

Von seinem eigenen Schicksal spricht er nicht. Nabil Schaath, Minister für internationale Zusammenarbeit, versucht die Gefahren herunterzuspielen: Er habe in Washington „formelle Zusicherungen“ erhalten, dass weder Massenvertreibungen noch die Ausweisung des Palästinenserpräsidenten zu befürchten seien. Aber Arafat gibt zu bedenken, dass Ariel Scharon jeden blutigen Anschlag in Israel zum Anlass nehmen könnte, „die letzten Reste der Autonomiebehörde zu zerschlagen – das ist schließlich sein eigentliches Ziel“. Die PLO werde auch das überleben, fügt er hinzu, sie sei „unzerstörbar“.

Im Beisein einiger Minister und Berater nimmt Arafat auch Stellung zu den Versuchen, sein Ansehen zu zerstören. Nur Jitzhak Rabin, erklärt er mit Nachdruck, sei „ein Verhandlungspartner gewesen, der wirklich an einen gerechten Frieden glaubte“.

Die drei Vorbedingungen der Regierung Scharon für die Wiederaufnahme von Gesprächen – sein Rücktritt, die „Demokratisierung“ der Autonomiebehörde und die Einstellung aller gewaltsamen Aktionen – scheinen ihm „absurd“. Er verweist auf die vielen öffentlichen und geheimen Friedensinitiativen, die er im Verlauf von mehr als dreißig Jahren unternommen habe, Vorstöße, die innerhalb der PLO zu heftigen Debatten, Spannungen und mehreren Spaltungen führten. Schon 1969–1970 habe es einen Briefwechsel mit dem damaligen israelischen Verteidigungsminister Mosche Dajan gegeben; dann, im Juni 1974, kam die „entscheidende Wende“: Er, Arafat, sei es gewesen, der die palästinensische Bewegung dazu brachte, die Gründung eines Palästinenserstaats auf nur einem Teil des historischen Territoriums zu akzeptieren.

Über Jahrzehnte habe er sich mit aller Kraft für das friedliche Nebeneinander zweier Staaten eingesetzt – und immer wieder geheime Gespräche mit israelischen Politikern aus dem rechten wie aus dem linken Lager geführt. Und er erinnert daran, dass auf seine Initiative hin der Palästinensische Nationalrat 1988 in Algier die Resolutionen 242 und 338 des UN-Sicherheitsrats anerkannte und den Frieden zum „strategischen Ziel“ der PLO erklärte.

Nach den Oslo-Verträgen wurden dann, im Frühjahr 1996, auch noch die Passagen aus der palästinensischen Nationalcharta gestrichen, die das Existenzrecht Israels in Frage stellten.

Hat er sich vielleicht durch seine Haltung beim Camp-David-Gipfel im Juli 2000 diskreditiert? Arafats Antwort ist eindeutig: „Die Israelis haben mir keineswegs ein ‚großzügiges Angebot‘ gemacht, wie damals behauptet wurde. Das ist einfach eine gewaltige Lüge. Ich kann mich dabei auf Präsident Clintons damaligen Berater Robert Malley berufen, dessen Aussagen über jeden Zweifel erhaben sind. Malley hatte die Aufgabe, ein ausführliches Protokoll jeder Sitzung der Konferenz zu erstellen.“

Bei den Gesprächen in Taba, im Januar 2001, konnte der palästinensische Verhandlungsführer dann deutliche Vorteile erringen, indem er sich auf die „Clinton-Parameter“ berief, die wesentlich realistischer waren als Baraks ursprüngliche Angebote. „Vor allem beim Problem der Flüchtlinge und in der Jerusalemfrage standen wir kurz vor einer Einigung. Wir hätten einen Endvertrag unterzeichnen können, wenn nicht wenige Tage später Ariel Scharon zum Ministerpräsidenten gewählt worden wäre.“

Arafats beste Absichten

WIE sieht Arafats künftige Strategie für den Frieden aus? „Eine endgültige Regelung muss auf drei grundlegenden Vorgaben beruhen“, erklärt der Präsident der Autonomiebehörde, „den Oslo-Verträgen, den von Präsident Bill Clinton festgelegten Parametern und dem einmütigen Angebot der Mitgliedstaaten der Arabischen Liga, ihre Beziehungen zu Israel zu normalisieren, sobald ein palästinensischer Staat geschaffen wurde.“

Im Übrigen zeigt sich Arafat bereit, „im Interesse des palästinensischen Volkes“ eine Reform der Autonomiebehörde vorzunehmen. Das heißt, er will die Wahl eines Ministerpräsidenten dulden – „aber nur, wenn seine eigene Rolle nicht auf repräsentative Aufgaben beschränkt wird“, ruft einer seiner Berater dazwischen. Was den Terrorismus angeht, muss der Präsident allerdings seine Ohnmacht eingestehen: Die islamistischen Organisationen, deren Selbstmordattentate er immer wieder verurteilt hat, seien finanziert und gesteuert von „Regionalmächten“ – Arafat begnügt sich mit dem Verweis auf den Iran und dessen Mittelsmann, Munir Makdah, einen Palästinenser im Libanon, der beste Kontakte zum geistlichen Oberhaupt der Islamischen Republik, Ajatollah Ali Chamenei unterhält.

Er habe alles versucht, die Hamas und den Islamischen Dschihad von ihrer Strategie der Gewalt abzubringen, versichert Arafat. Sowohl die Zwangsmaßnahmen, die Tote und Verletzte forderten, als auch die Verhandlungen seien ohne Erfolg geblieben.

Mit einer Ausnahme: Im Dezember 2001 wurde ein Waffenstillstand vereinbart, den alle palästinensischen Organisationen sechs Wochen lang einhielten – bis Scharon die Abmachung einseitig aufgekündigt hat. Wie solle er denn die öffentliche Ordnung garantieren, klagt Arafat, nachdem die israelische Armee alle palästinensischen Sicherheitsdienste vernichtet, die Polizei entwaffnet und aufgelöst und die Gefängnisse in Schutt und Asche gelegt habe – bis auf die eine Haftanstalt in Jericho, die unter Aufsicht britischer und amerikanischer Inspektoren gestellt wurde?

Und auch an der allseits geforderten Demokratisierung der Autonomiebehörde werde er von Scharon gehindert. Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, ohne die keine Reform denkbar ist, konnten nicht, wie vorgesehen, am 20. Januar 2003 durchgeführt werden, weil die israelische Armee noch immer die Palästinensergebiete abriegelt.

Überdies lähmt der israelische Ministerpräsident die bestehenden Institutionen, indem er die Bewegungsfreiheit der Volksvertreter einschränkt: Ministerrat und Legislativrat – die beiden Gremien, die über Reformvorhaben zu entscheiden hätten – sind nur noch selten beschlussfähig. Im Legislativrat, in den Reihen der Intelligenz und unter den führenden Vertretern der PLO hat Arafat zahlreiche Gegner.

Man kritisiert, nicht selten auch öffentlich, seinen autoritären Stil, seine Unentschlossenheit, seine politischen Fehlentscheidungen und die Korruption, die unter seinen Getreuen herrscht. In der gegenwärtigen Situation stehen dennoch die meisten hinter ihm: „Wenn das Schiff zu kentern droht, soll man nicht den Kapitän absetzen“, meint ein Kritiker. „Aber eines Tages wird Arafat sich für seine Politik in dieser Krise verantworten müssen.“ Scharon hat natürlich kein Interesse an Wahlen und Reformen, die Arafats Position erneut stärken könnten. Zweifellos würde der Präsident der Autonomiebehörde als souveräner Sieger aus einer Wahl hervorgehen, aber vielleicht nicht mehr, wie 1996, mit 88 Prozent der Stimmen.

Wer die rund sechzig Kilometer von Ramallah nach Tel Aviv zurückgelegt hat, könnte glauben, aus der Hölle ins Paradies gelangt zu sein. Aber der Schein trügt. Die Mehrheit der Israelis blickt mit Sorge in die Zukunft. Scharon und zuvor Ehud Barak haben die Öffentlichkeit davon zu überzeugen vermocht, dass an eine Friedensregelung mit den Palästinensern auf absehbare Zeit nicht zu denken ist.

„Bei den letzten Wahlen haben die Israelis nicht zwischen Krieg und Frieden entschieden“, erklärt Dan Meridor, Minister für strategische Planung im Kabinett Scharon. „Sie haben für die Sicherheit gestimmt.“ Meridor ist vor allem für die Koordination der Sicherheitsdienste und die israelisch-palästinensischen Beziehungen zuständig. „Zu Recht sehen die Israelis in Scharon vor allem den Falken, und zwar den konsequentesten im Land.“

Der ehemalige Justizminister Jossi Beilin von der Arbeitspartei bemerkt vor allem die „Verunsicherung“ seiner Landsleute. Bei einem Nichtwähleranteil von 32 Prozent – dem höchsten seit Bestehen Israels – kann man schon von einem Wahlboykott sprechen. Viele Beobachter meinen, man müsse dieser Quote auch die 12 Prozent hinzurechnen, die auf Schinui („Wechsel“) entfielen. Diese Partei hatte den Konflikt mit den Palästinensern nicht thematisiert, sondern sich die Wandlung Israels zum laizistischen Staat auf die Fahnen geschrieben. Somit hätte fast jeder zweite Israeli seine Abneigung gegen den demokratischen Prozess zum Ausdruck gebracht. Der Pazifist und frühere Abgeordnete Uri Avnery hat die Schinui gar mit der Bordkapelle auf der Titanic verglichen, die unverdrossen Wiener Walzer spielt, während auf dem Schiff bereits Untergangspanik herrscht.

Sorgenkind Wirtschaft

DASS sich die Rechte und die religiösen Parteien zwei Drittel der Sitze in der Knesset sichern konnten – eine Mehrheit ohne Beispiel in der Geschichte des Parlaments – ergibt jedoch ein falsches Bild. Umfragen zeigen, dass die Israelis mehrheitlich die Strategie der Linken gutheißen – also Aufgabe fast aller Siedlungen im Westjordanland und im Gaza-Streifen, damit dort ein palästinensischer Staat entstehen kann. Sie halten den Plan Scharons für unrealistisch, nur etwa 40 Prozent der besetzten Gebiete an die Palästinenser abzutreten und dort ein Dutzend „Bantustans“ unter israelischer Kontrolle einzurichten. „Die Rechte stellt sich vor, sie könne die Palästinenser zwingen, für Israel den Packesel abzugeben“, bemerkt Amram Mitzna, der Vorsitzende der Arbeitspartei – er hält diese Strategie für völlig aussichtslos.

Natürlich fürchten die Israelis den Terrorismus, doch es gibt zwei andere dramatische Entwicklungen, die ihnen mehr Sorgen machen. Die eine betrifft Israels Existenzgrundlage: Wenn die jetzigen Trends in der Bevölkerungsentwicklung der beiden Gemeinschaften anhalten2 , wird es nur noch etwa ein Jahrzehnt dauern, bis die Palästinenser in „Großisrael“, das Scharon so am Herzen liegt, die Mehrheit stellen. Der Traum von der Besetzung und Besiedlung der 1967 eroberten Gebiete würde zum Albtraum.

Anlass zur Sorge gibt aber auch die israelische Wirtschaft, die sich in der schwersten Krise seit fünfzig Jahren befindet. Die Talfahrt hält seit Beginn der zweiten Intifada im September 2000 an, zu deren Auswirkungen nicht nur der deutliche Rückgang der ausländischen Investitionen, der Verlust arabischer Märkte, der Niedergang der Tourismusbranche und des Hochtechnologie-Sektors zählen, sondern auch ein gewaltiges Haushaltsdefizit – Resultat wachsender Ausgaben für die Armee und die Siedler. Hunderte von Unternehmen in Handel und Industrie haben bereits schließen müssen, und die Arbeitslosigkeit nimmt drastisch zu. Die Regierung plant die Entlassung von 30 000 Beschäftigten im staatlichen Sektor und will den übrigen Beamten die Bezüge um 8 Prozent kürzen. Zunehmende soziale Spannungen gehören zu den Begleiterscheinungen.

Im kleinen Zirkel der happy few bereichert man sich durch Spekulation und Korruption, während wenigstens 1,5 Millionen Israelis, darunter 500 000 Kinder, unterhalb der Armutsgrenze leben – das ist ein Viertel der Bevölkerung. Die paradiesischen Zeiten der Ära Rabin, als der Glanz von Oslo noch nicht verblasst war, sind vorüber. Dan Meridor trifft den Kern der Sache: „Es gibt kein Wundermittel gegen die Krise, außer es gelingt uns, die Intifada zu beenden.“

Und Amram Mitzna stellt nüchtern fest: „Scharon sollte lieber den Problemen seiner Landsleute zu Leibe rücken als den Palästinensern.“ Arafat und der Palästinensischen Autonomiebehörde wird nichts anderes übrig bleiben, als die israelische Öffentlichkeit zu überzeugen, dass die Verteufelung der Palästinenser falsch und ungerechtfertigt ist. Sollte das gelingen, dann müssen vielleicht auch die Falken in Jerusalem und Washington umdenken, die bislang neue Friedensverhandlungen verhindert haben.

deutsch von Edgar Peinelt

* Journalist

Fußnoten: 1 Siehe Amira Hass, „Kleine Vertreibungen und großer Transfer“, Le Monde diplomatique, Februar 2003. 2 Siehe Youssef Courbage, „Enjeux démographiques“, Le Monde diplomatique, April 1999, sowie Populations & sociétés, Paris, Nr. 362, November 2000.

Le Monde diplomatique vom 14.03.2003, von ERIC ROULEAU