14.03.2003

Gerechtigkeit, Entwicklung und die Turbanfrage

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Gerechtigkeit, Entwicklung und die Turbanfrage

AM letzten Sonntag hat Recev Tayyip Erdogan ein Parlamentsmandat errungen – vier Monate nach dem großen Wahlsieg seiner Partei vom 3. November 2003. Damit kann sich der Vorsitzende der AKP zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Doch obwohl Erdogan und die AKP die Regierung stellen und über eine große Parlamentsmehrheit verfügen, ist ihr politischer Spielraum begrenzt. Die Macht im Staate liegt immer noch bei der traditionellen Elite in Bürokratie und Armee. Und die neue Kraft hat noch keine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich. Die muss sie sich erst durch politische Leistungen erarbeiten.

Von WENDY KRISTIANASEN *

Abdullah Gül nimmt kein Blatt vor den Mund: „Wir haben getan, was wir konnten, um einen Irakkrieg zu vermeiden. Mit diesem Krieg wird eine Büchse der Pandora geöffnet. Die Schäden und die Kosten des Unternehmens können gerade wir in der Türkei ermessen, schließlich sind wir ein wichtiger Teil dieser Region. Aber wir mussten uns auf den schlimmsten Fall vorbereiten. Sehen Sie, wir sind die strategischen Bündnispartner der Vereinigten Staaten, und wir wollen diese Beziehung nicht beschädigen – im Gegenteil, wir müssen sie stärken.“ Der türkische Ministerpräsident, mit dem Wahlsieg der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP: Adalet ve Kalkinma Partisi) am 3. November 2002 an die Macht gekommen, macht eindeutig klar, dass seine Regierung auf Konsens aus ist. Das gilt für die internationale Ebene wie für die türkische Innenpolitik.

„Wir sind eine konservative demokratische Partei“, meint Gül. „Wir wollen die Standards der Europäischen Union durchsetzen, und wir streben die EU-Mitgliedschaft an. Wir wollen zeigen, dass ein mehrheitlich muslimisches Land mit der modernen Welt völlig problemlos zurechtkommen kann.“ War das eine Anspielung auf die Religionsfrage, mit der seine Partei immer wieder konfrontiert wird? „Unsere Verbindung zur Religion beschränkt sich auf die individuelle Ebene. Religionsausübung ist ein Grundrecht, aber nur eines unter anderen. Wir wollen den Menschen keine religiösen Vorschriften aufzwingen.“

Eigentlich müsste sich die AKP überaus sicher im Sattel fühlen. Im Parlament verfügt sie über 363 von 550 Sitzen, es fehlen ihr also nur fünf Stimmen zu einer Zweidrittelmehrheit, mit der sie die Verfassung nach ihrem Willen ändern könnte. Damit ist die AKP seit 1987 die erste Partei, die eine klare parlamentarische Mehrheit hat, und die erste seit 1945, der in der Legislative lediglich eine Oppositionspartei gegenübersitzt. Für die Türkei sollte die AKP-Regierung eigentlich gut sein, bietet sie doch endlich die dringend benötigte Stabilität und damit die Chance, die vielen Probleme des Landes anzugehen, allen voran die wirtschaftliche Misere. Der Wahlsieg der AKP war v. a. eine Reaktion auf die ökonomische Krise, die im Februar 2001 offen ausgebrochen war. Doch der Sieg der islamischen Partei war auch ein Protest gegen die Korruption und den politischen Bankrott des alten Systems.

Ob die AKP den in sie gesetzten Erwartungen auch gerecht werden kann, ist weniger klar. Zum einen darf man nicht vergessen, dass 45 Prozent der türkischen Wähler im Parlament nicht vertreten sind, weil die von ihnen gewählten Parteien die Zehnprozenthürde nicht überwinden konnten. Die AKP hat ihren Sieg mit einem Stimmenanteil von nur 34 Prozent errungen, während knapp 20 Prozent die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP: Cumhuriyet Halk Partisi) wählten. Zum anderen war das Wahlverhalten in der Türkei bislang immer außerordentlich volatil. Und das bedeutet: Die AKP muss ihre Versprechungen schon in der ersten Legislaturperiode erfüllen, was vor allem für die Ökonomie gilt.

Bei den Wahlen im November hat Cem Ozan, ein 42-jähriger Unternehmer, fast aus dem Nichts kommend für seine weit rechts stehende „Jugendpartei“ (GP – Genc Partisi) überraschend über 7 Prozent der Wählerstimmen gewonnen. Und manche Beobachter befürchten, dass Ozan sich künftig als laizistische, aber gefährlichere Alternative zur AKP profilieren könnte.

Die AKP hat viel aus dem Schicksal der islamistischen Wohlfahrtspartei (RP: Refah Partisi) gelernt, die unter Necmettin Erbakan fast ein Jahr lang die Regierung gestellt hatte, bis ihn die Armee am 18. Juni 1997 zum Rücktritt zwang. Im Gegensatz zur RP verfolgt die AKP ganz offensiv den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Und sie setzt sich aktiv für eine Lösung des Zypernproblems ein, auch wenn Ministerpräsident Gül zugeben muss, dass diese Frage „nicht allein von uns abhängt“. Sie orientiert sich an der öffentlichen Meinung, wenn sie sich gegen den Irakkrieg ausspricht und gegen die Beteiligung der Türkei an den Feindseligkeiten plädiert. Dabei hat sie den Forderungen der USA, ihre Truppen über türkischen Boden in den Nordirak zu transportieren, so lange wie möglich widerstanden und sich verbissen darum bemüht, eine möglichst hohe finanzielle Entschädigung herauszuschlagen.

Diese politischen Aktivitäten fanden in der Bevölkerung viel Zuspruch, doch der Kurs der AKP stößt auf den Widerstand des kemalistischen Establishments, womit nicht nur – und nicht einmal hauptsächlich – Armee und Nationaler Sicherheitsrat (MGK: Milli Güvenlik Kurulu) gemeint sind.1 Innenpolitisch hat sie es mit der Opposition einer ganzen Reihe juristischer und bürokratischer Instanzen zu tun. Zum Beispiel im Erziehungswesen: Die Regierung will eine Reform des Universitätssystems voranbringen (was von den Universitätsleitungen selbst für nötig erachtet wird), die aber wird vom türkischen Beirat für das höhere Erziehungswesen (Yök) blockiert. Ihre Wirtschaftspolitik wiederum wird von Seiten der Unternehmer kritisiert, und hier vor allem von Tüsiad, dem nicht religiösen Unternehmerverband, der vor allem die Großindustrie repräsentiert.

Obwohl die Regierung offensichtlich noch unerfahren agiert, genießt Abdullah Gül in weiten Kreisen Respekt, ja Bewunderung. Und das sogar bei einem Teil der laizistischen Elite, also der logischen Widersacher einer Regierung, die von dieser Elite als islamistisch bezeichnet wird. Aber viele Vertreter des alten Establishments meinen, man solle dem neuen Team durchaus eine Bewährungschance geben. In denselben Kreisen wird allerdings auch die Befürchtung geäußert, Recev Tayyip Erdogan könnte auf lange Sicht insgeheim doch ein islamistisches Programm verfolgen. Der frühere Bürgermeister von Istanbul, der bei der Bevölkerung sehr beliebt und erfolgreich war, durfte bei den Wahlen im November 2002 nicht selbst für einen Parlamentssitz kandidieren, weil man ihn 1999 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt hatte. Die Anklage lautete damals auf islamistische Aktivitäten, die angeblich darauf angelegt waren, die Republik zu „untergraben“. Was aber ist dran an der Behauptung, Erdogan sei ein gestandener Islamist? Der AKP-Vorsitzende war in der Tat Schüler von Erbakan, der seinerseits das Produkt einer früheren, stärker kemalistisch geprägten Ära war.2 In Erbakans Form des Islamismus kamen dieselben „etatistischen“ Werte zum Ausdruck wie in deren kemalistischem Pendant. Er propagierte eine islamische „nationale Vision“ (milli görüs), der zufolge die Türkei zur Führung der muslimischen Welt berufen sei. Konkrete Schritte in diese Richtung, wie etwa die Einführung der Scharia, waren natürlich durch die türkische Verfassung verboten.

Islamist oder einfach Reformer

TAHA AKYOL, Kolumnist der Tageszeitung Milliyet, sagt: „Erdogan und seine Generation haben gegen die älteren autoritären ,muslimischen Kemalisten‘ der Erbakan-Generation rebelliert. Sie sind in einer Türkei aufgewachsen, die progressivere Züge entwickelt hatte. Mit zunehmender politischer Erfahrung mäßigten sie ihre Positionen. Außerdem wurden sie nach und nach durch die marktwirtschaftliche Politik beeinflusst, die Präsident Özal zu Beginn der 1990er-Jahre betrieben hat. Der Bruch kam mit der frontalen Zurückweisung von Schlüsselbegriffen Erbakans, wie ‚heilige Autorität‘ und ‚Errettung‘. Seitdem wollen sie von ‚Errettung‘ nichts mehr wissen, sondern Politik machen.“

Cuneyt Zapsu ist Gründungsmitglied der AKP und mittlerweile Erdogans engster Berater. Der erfolgreiche Geschäftsmann meint: „Wir wollten eine Partei der konservativen Rechten gründen, die religiös, aber nicht islamistisch ist. Und jetzt haben wir ein Problem: Weil wir ein Reformprogramm haben, bekämpft uns das laizistische Establishment heftiger, als es das tun würde, wenn wir eine islamistische Partei wären, die es wieder ganz leicht loswerden könnte.“ Die AKP zielt in der Tat auf ein breites politisches Spektrum. Sie hat viele ihrer Mitglieder – und erst recht ihrer Wähler – von anderen Parteien herübergezogen; viele sind auch ganz neu in der Politik. Diese Leute repräsentieren die anatolische Mehrheit – und das sind 90 Prozent der türkischen Bevölkerung. Sie sind also zutiefst konservativ, der Tradition verhaftet und religiös eingestellt. Die unbelehrbaren Islamisten vom Schlage Erbakans sind innerhalb der AKP nur eine kleine Minderheit.

Yilmaz Esmer, Professor der Politischen Wissenschaften an der Bogazici-Universität, erklärt den Erfolg der AKP aus der historischen Entwicklung: „Die Ausbreitung religiöser Werte vollzog sich in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre, während der Amtszeit von Präsident Özal.“ Der Politologe schätzt, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung die Religion für eine Privatsache hält; für ein Drittel sei sie eine öffentliche Angelegenheit, was auch soziale Sanktionen bedeuten könnte; aber weniger als ein Fünftel glauben, dass der Islam auch auf der politischen Ebene zur Geltung kommen müsse.

Die Religiosität in der türkischen Bevölkerung hat also seit 1995 nicht unbedingt zugenommen. Doch die konservativen gesellschaftlichen Kreise – die stark in Anatolien verwurzelt sind – melden sich heute lauter zu Wort, und religiöse Symbole werden unbefangener in der Öffentlichkeit gezeigt. Am deutlichsten wird dies an dem brandheißen Thema des Kopftuchs für Frauen (auf Türkisch turban), das an den Universitäten und für Staatsangestellte (wie Rechtsanwältinnen, Krankenschwestern, Ärztinnen usw.) immer noch verboten ist. Bislang hat die AKP zu diesem gesellschaftlichen Konfliktthema noch keine Initiativen ergriffen. 10 Prozent der Gründungsmitglieder und des zentralen Entscheidungsgremiums der Partei sind Frauen, und die verlangen Reformen, wenn auch nicht so nachdrücklich, wie es einige militant islamistische Frauen außerhalb der Partei tun.

Ayse Buhurler, Redakteurin beim religiös orientierten Fernsehsender Kanal Yedi (K7), und die Politikwissenschaftlerin Fatma Bostan Unsal sind Gründungsmitglieder der AKP. Beide waren vorher nie politisch aktiv. Und beide konnten nicht fürs Parlament kandidieren, weil sie ein Kopftuch tragen. Beide sind der Meinung, die Regierung müsse dafür sorgen, dass das Kopftuchverbot verschwindet. Aber sie sehen auch ein, dass die Regierung „Prioritäten setzen“ muss. Dieser Begriff ist jetzt in der AKP auf allen Ebenen im Schwange. Ayse Buhurler meint: „An erster Stelle stehen jetzt die ökonomischen Fragen und die internationale Politik, danach kommen die verschiedenen Menschenrechtsfragen wie Folter, die Zustände in den Gefängnissen, Diskriminierung aller Art – und zu diesen Themen gehört auch die Turbanfrage.“ Ähnlich sieht es Fatma Bostan Unsal: „Das entscheidende Thema ist die Armut, und die Armen sollten unsere oberste Priorität sein; aber danach sind wir dran, die Kopftuch tragenden Frauen. Manchmal denke ich, die Partei ist nicht mutig genug, sie ist zu ängstlich auf Konsens bedacht; aber ich werde dafür innerhalb der Partei kämpfen.“

In der Parlamentsfraktion der AKP sind 13 Frauen vertreten. Zeinab Karahan Uslu, Soziologiedozentin an der Universität Istanbul – mit offenen langen Haaren –, kommt nicht aus einer religiösen Familie und war auch politisch vorher nie aktiv. Sie hat sich der AKP angeschlossen, weil „Wandel“ für das Land das allerwichtigste sei: „Die Leute in der Türkei wollen den Wandel, und sie haben ihn verdient. Und die AKP ist zugleich konservativ und progressiv, jedenfalls ist sie offen für den Wandel.“ Was sie vom Kopftuch hält? „Das ist eine der Menschenrechtsfragen, auf die wir in einem demokratischen System eine Antwort finden müssen.“

Man macht es sich zu leicht, wenn man die wachsende Verbreitung islamischer Werte immer nur der AKP zuschreibt. Auch bei den anderen Parteien gibt es Abgeordnete, deren Ehefrauen Kopftücher tragen. Und schon gar nicht ist die islamische Färbung des Alltags der Hauptgrund dafür, dass die AKP heute an der Macht ist. Nach dem ökonomischen Zusammenbruch von 2001 glauben viele Menschen einfach, die AKP werde mit der Korruption aufräumen (AKP lässt sich auch als die „weiße Partei“ lesen) und die Interessen der Armen verteidigen.

Ayse Bugra und Caglar Keyder von der Bogazici-Universität kommen bei ihren Forschungen über die Armut in der Türkei zu dem Schluss: „Die Armen sind kein vorübergehendes Phänomen. Die AKP-Leute nehmen die Armut ernst und orientieren ihre Politik an der Basis auf dieses Problem. Doch obwohl sie das Problem wahrnehmen, fürchten wir, dass sie die Sozialhilfe auch weiterhin als Wohltätigkeitsmaßnahme und nicht etwa als Grundrecht betrachten.“ Die Regierung muss einen Kompromiss finden zwischen den Erwartungen der Menschen (die Renten wurden bereits um 30 Prozent angehoben) und der Notwendigkeit, die türkische Wirtschaft wieder anzukurbeln, die mit dem Irakkrieg neuen Risiken ausgesetzt ist.

Der einflussreiche Kolumnist Fehmi Koru sieht es so: „Die AKP fühlt sich zwei Prinzipien verpflichtet – dem Islam und der Demokratie. Das ist etwas Neues.“ Aber wie steht die Partei dann zum Prinzip des Laizismus? Sie behauptet, für ein wahrhaft laizistisches System in der Türkei einzutreten, definiert dieses aber nicht so sehr im kemalistischen als vielmehr im europäischen Sinne, etwa nach dem angelsächsischen Modell der Trennung von Staat und Religion. Der Staat soll sich also nicht mehr mit den religiösen Praktiken der Bürger befassen – indem er zum Beispiel das Kopftuch in staatlichen Räumen verbietet.

Die AKP vertritt also auf der einen Seite die religiöse Forderung nach Abschaffung des Kopftuchverbots, auf der anderen Seite sieht sie die Türkei aber auch als Teil Europas. Mit einer solchen balancierenden Politik könnte die neue Regierung – über den Beitritt zur Europäischen Union – am Ende dazu beitragen, die Kluft zwischen den laizistischen und den religiösen Kräften in der türkischen Gesellschaft zu überbrücken.

Aber diese langfristig angelegte Vision wird der AKP-Regierung im Augenblick kaum helfen. Zunächst muss sie so erfolgreich regieren, dass sie ihre erste Amtsperiode übersteht. Und an der Grenze im Südosten der Türkei braut sich ein Krieg zusammen, der es dem militärischen und zivilen Establishment gestattet, den Druck auf die neuen Kräfte zu verstärken. Die AKP stellt zwar die Regierung, aber die Frage, wer die Macht hat, ist damit noch nicht beantwortet.

deutsch von Niels Kadritzke

* Journalistin, Mitarbeiterin von Le Monde diplomatique, London.

Fußnoten: 1 Im Nationalen Sicherheitsrat (MGK – Milli Güvenlik Kurulu) sind zwar seit der Verfassungsänderung vom Oktober 2001 die zivilen Mitglieder in der Mehrheit, aber das Militär bestimmt nach wie vor die Tagesordnung, weil der Generalsekretär des MGK ein General ist. Zudem gilt der Konsens, dass kein Beschluss gegen die Stimmen der Militärführung gefasst wird. Zur Funktion des Nationalen Sicherheitsrats siehe Heinz Kramer, „Die Türkei und die Kopenhagener Kriterien“, SWP-Studie (Stiftung Wissenschaft und Politik), November 2001, S. 21 ff. 2 Die Refah Partisi (RP) bestand vom Mai 1983 bis zum Januar 1998 und wurde nach ihrem Verbot durch die Fazilet Partisi (FP) ersetzt, die vom November 1997 bis Januar 2002 existierte. Die FP wiederum wurde durch die islamistische Saadet Partisi (SP) ersetzt, die am 20. Juli 2001 (und damit einen Monat vor der AKP) gegründet wurde. Bei den Wahlen vom November 2002 gewann die SP allerdings nur 2,5 Prozent der Wählerstimmen.

Le Monde diplomatique vom 14.03.2003, von WENDY KRISTIANASEN