Die Welt aus der Sicht Washingtons
GEORGE BUSH senior führte den Golfkrieg 1991 im Namen einer „neuen internationalen Ordnung“ – auch wenn es angeblich nur um die Befreiung von Kuwait ging. Zwölf Jahre später, bereitet sein Sohn einen weiteren Golfkrieg vor – im Zeichen jenes aggressiven Unilateralismus, der Washingtons Vorgehen in vielen Bereichen bestimmt. Dazu gehören massive Aufrüstung, die einseitige Auslegung des Völkerrechts, Gleichgültigkeit gegenüber internationaler Umweltpolitik, Relativierung der Menschenrechte und Rechtfertigung von Präventivkriegen.
Von SAMI NAIR *
Das einstige Paradigma des „totalen Kriegs gegen den Kommunismus“ wird durch die „Frontalopposition“ gegen alle Staaten ersetzt, die von den USA aus dem einen oder anderen Grund als Hindernis für die Errichtung ihres Imperiums betrachtet werden: Das ist der tiefere Sinn des Handelns in Washington. Seit den Attentaten vom 11. September 2001 ist der Kampf gegen den Terrorismus eine Strategie der Weltbeherrschung und dient vor allem der direkten Konfrontation mit einer Reihe von Staaten, die nun der „Achse des Bösen“ zugeordnet werden. Der Krieg gegen den Irak ist Bestandteil dieser Strategie. Drei Merkmale beschreiben das neue Paradigma, das Washington durchsetzen will: zunehmender Unilateralismus, tief gehende Unterwanderung internationaler Vereinbarungen und systematische Militarisierung von Auseinandersetzungen.
Das alles ist vom Willen geprägt, die wichtigsten Energieressourcen der Welt zu beherrschen. Bereits der Zweite Weltkrieg hatte den USA einen beträchtlichen Vorteil auf dem internationalen Parkett verschafft. Der Sieg über den „real existierenden Sozialismus“ hat ihrem Führungsanspruch noch größere Legitimität verliehen. Daraus erklärt sich der schüchterne Widerstand der anderen Industriestaaten. Es ist sicher kein Zufall, dass der einzige Alliierte, der Washington noch Widerstand entgegenzusetzen wagt, nämlich Frankreich, seit dem Krieg alles dafür getan hat, sich allein gegen jeden ausländischen Angriff verteidigen zu können …
Kein Bereich des internationalen Lebens entgeht dem Unilateralismus der USA. Gingen die wichtigsten Abkommen zur Rüstungsbeschränkung und -kontrolle in der internationalen Gemeinschaft noch von Washington aus, so verweigerte man sich bei chemischen und biologischen Waffen den vom Protokoll von 1995 im Rahmen der Konvention von 1971 vorgesehenen Kontrollmechanismen. Diese Weigerung ging bis hin zur Forderung nach der Auflösung jener Kommission, die seit 1995 mit der Ausarbeitung der Kontrolle beauftragt war. Außerdem lehnte der amerikanische Senat 1999 die Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrags ab. Die USA fordern auch die internationale Justiz heraus, sobald sie sich nicht mehr den amerikanischen Interessen unterwirft. Die Gerichte für Exjugoslawien oder Ruanda fanden sie „akzeptabel“, war doch deren Kompetenz klar umrissen. Zudem trugen sie zur Eliminierung feindlicher Regime bei. Amerikaner und Briten wollen sogar einen Irak-Gerichtshof einrichten. Ganz anders sieht es mit dem Internationalen Strafgerichtshof (ISGH) aus. Dieses vom Römischen Statut von 1998 vorgesehene Gremium ist ihnen zu autonom, da es den Anspruch erhebt, über alle Kriegsverbrecher zu urteilen – obwohl zahlreiche Klauseln schon jetzt seine Eingriffs- und Urteilsbefugnis einschränken. Die amerikanische Regierung konnte aber nicht verhindern, dass der Strafgerichtshof im April 2002 die 60 zu seiner Gründung notwendigen Unterschriften erhielt und im Juli offiziell seine Arbeit aufnahm: Daraufhin informierte sie den Generalsekretär der UNO, dass sie sich in keiner Hinsicht mehr an das Römische Statut gebunden fühle.1 Mit der Drohung eines Rückzugs aus allen friedenserhaltenden UNO-Operationen erzwangen die USA die Entschließung des Sicherheitsrates vom 13. Juli 2002, welche die Straffreiheit ihrer Soldaten vor dem ISGH garantiert.
Aber das reichte ihnen nicht: Sie übten Druck auf die europäischen Staaten – vor allem auf die Nato-Kandidaten – aus, damit diese mit ihnen bilaterale Verträge über die Nichtauslieferung an den ISGH unterzeichneten. Im August 2002 gab Rumänien nach und wurde dafür von der Europäischen Union kritisiert. Schließlich beschloss auch die EU, dass ihre Mitglieder unter bestimmten Bedingungen bilaterale Abkommen mit den USA unterzeichnen können, die amerikanischen Staatsbürgern Immunität garantieren.2
Und das Kioto-Protokoll? Mit diesem von der Clinton-Administration unterzeichneten Dokument wurde die Begrenzung von Treibhausgasen durch die Industriestaaten beschlossen. Entwicklungsländern gewährte es den nötigen Spielraum zur Entwicklung ihrer Wirtschaft. Die Bush-Regierung beschloss, es dem Kongress nicht zur Ratifizierung vorzulegen. Zwar versucht die Europäische Union gegenwärtig, die amerikanische Position aufzuweichen, aber es besteht keine große Hoffnung: Im Juli 2001 widersetzten sich die USA kategorisch dem Plan der G8 für sauberere Energie …
In Sachen Wirtschaft, Soziales und Persönlichkeitsrecht tritt ebenfalls eine systematische Verachtung für internationale Vereinbarungen zutage. Die amerikanischen Gesetze über Exterritorialität – Helms-Burton für Kuba und D‘Amato für Libyen und Iran – bestrafen ausländische Unternehmen auf dem amerikanischen Kontinent, die Beziehungen zu diesen Staaten unterhalten. Ein anderes Beispiel: Anfang Mai 2002 beschlossen die USA entgegen den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO), die Zölle zu erhöhen, um ihre Stahlproduzenten zu schützen. Desgleichen steigerten sie ihre Agrarsubventionen massiv. Im sozialen Bereich und bei den Persönlichkeitsrechten hat Washington niemals die Beschlüsse der UNO ratifiziert: weder die Konvention über die Rechte der Kinder (1989) noch das Abkommen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die Konvention über die Beseitigung jeder Form der Diskriminierung von Frauen (1979) oder das Protokoll von 1989 zur Ergänzung des Abkommens zum Verbot der Todesstrafe für Minderjährige – die noch immer in den USA angewandt wird, wie in Saudi-Arabien, im Iran, in Nigeria und in der Republik Kongo.
Am Ende des Prinzips der Nichteinmischung
SEIT 1945 waren die USA der wichtigste Motor des internationalen Rechts. Als Rahmen für die gegenseitige Neutralisierung der beiden Supermächte hat dieses System mit dem Verschwinden der UdSSR seine Bedeutung für Washington verloren. Zwar kann man damit noch widerspenstige Staaten im Zaum halten, aber es stört, wenn die amerikanischen Interessen die Anwendung von Gewalt erfordern. Deshalb schert sich die Bush-Administration immer häufiger keinen Deut um diese Grundprinzipien. Obwohl die Prinzipien der Nichteinmischung und der Nichtanwendung von Gewalt immer noch die Grundlagen der internationalen Ordnung bilden, fühlt sich Amerika frei, sich nicht daran zu halten, wenn sie ihren Zielen zuwiderlaufen. Exemplarisch dafür ist der Irak: Ohne durch eine Resolution der UNO ermächtigt zu sein, haben die USA beschlossen, das Regime von Saddam Hussein zu beseitigen. Sie beanspruchen also das Recht, jenseits jeder Legalität zu handeln, und zwingen die Staatengemeinschaft dazu, sie anzuflehen, den Sicherheitsrat dabei nicht zu übergehen. Sie sind bereit, internationales Recht zu respektieren, aber nur um den Preis einer Resolution 1441, die sie nach ihrem Belieben interpretieren können. Sie üben fortwährend Druck auf die internationale Gemeinschaft aus, damit der UNO-Sicherheitsrat einen Beschluss fasst, der ihnen den Angriff auf den Irak erlaubt, obwohl die Inspektoren vor Ort Ende Januar und Mitte Februar 2003 erklärten, sie benötigten mehr Zeit zur Erfüllung ihrer Aufgabe. Gleichzeitig versammelten die USA Truppen rings um den Irak und verstärkten ihre täglichen Bombardements in den so genannten Flugverbotszonen im Irak …
Dieses Verhalten wurde bereits in einem im September 2002 veröffentlichten Strategiepapier des Weißen Hauses3 dargelegt, im Kontext der Idee eines „Präventivkrieges“. „Wir müssen das Konzept der unmittelbaren Bedrohung an die Fähigkeiten und Ziele der heutigen Gegner anpassen. Schurkenstaaten und Terroristen wollen uns nicht auf konventionelle Weise angreifen. […] Die USA haben sich seit langem die Option auf präventive Handlungen offen gehalten, um einer hinreichenden Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit begegnen zu können. Je größer die Bedrohung, desto größer das durch Untätigkeit entstehende Risiko – und desto zwingender das Argument für antizipierende Selbstverteidigung, selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird. Die Vereinigten Staaten werden gegebenenfalls präventiv handeln, um solche Akte unserer Gegner zu vereiteln oder ihnen vorzubeugen.“4
Anders gesagt, Washington muss nur diesen oder jenen Staat als „Bedrohung“ bezeichnen, um das Recht zu haben, gegen ihn vorzugehen. Ob das anvisierte „Ziel“ die Forderungen der internationalen Gemeinschaft erfüllt (wie sich der Irak allen Forderungen der Inspektoren beugt), ändert daran nichts. Washington instrumentalisiert das internationale Recht, um seine Aggressionen mit einem Schleier der Rechtmäßigkeit zu bedecken. Der Anspruch der Vereinigten Staaten, nach Belieben Staaten ihrer Wahl anzugreifen, unterstreicht die gefährliche Entwicklung der internationalen Beziehungen. Während sich auf der einen Seite zahlreiche Stimmen gegen das Prinzip der präventiven Intervention erheben, hat der australische Premierminister John Howard bereits von möglichen präventiven Militäroperationen im Ausland für den Fall einer terroristischen Bedrohung seines Landes gesprochen …5
Diese Entwicklung führt zu einer systematischen Militarisierung internationaler Konflikte, für die die amerikanische Regierung zwei Wege nutzt: den multilateralen, durch Berufung auf Kapitel VII der UNO-Charta, das den Einsatz von Gewalt erlaubt, oder den unilateralen, wenn sie allein handeln will (Afghanistan) oder es ihr nicht gelingt, die Staatengemeinschaft auf Kurs zu bringen (Irak 1998). Bis 1990 kam der Rückgriff auf Kapitel VII außerordentlich selten vor, da die bipolare Weltordnung die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen blockierte. Die Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung wurde beim ersten Irakkrieg (1991) rehabilitiert. Seitdem inspiriert dieses Kapitel immer mehr Entscheidungen des Sicherheitsrates, auch die Resolution 1441 über die Entwaffnung des Irak.
Die USA sind allerdings seit langem mit der einseitigen Anwendung von Gewalt vertraut: Intervention in Grenada (1983), Nicaragua (1979–1989), Panama (1989), Somalia (1992), „Operation Wüstenfuchs“ gegen den Irak (1998), seither tägliche Bombardements der Flugverbotszonen im Irak, Bombardierungen in Afghanistan und im Sudan als Antwort auf Attentate gegen die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam (1998) und schließlich der Afghanistan-Krieg … Natürlich war diese letzte Intervention durch das Prinzip der legitimen Verteidigung (Artikel 51 der UNO-Charta) „gesetzlich“ gedeckt, aber Washington weigerte sich, die UNO um die Genehmigung zu bitten. Diese Militarisierung wird von weit reichenden Veränderungen der Militärdoktrin und -strategie begleitet. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR definierten die USA einen neuen Feind: die rogue states (Schurkenstaaten), als Vorfahren der „Achse des Bösen“. Die USA strukturierten zunächst ihren Militärapparat neu, um für zwei größere Konflikte gewappnet zu sein, dann, nach dem 11. September 2001, für vier mittlere Auseinandersetzungen gleichzeitig mit einer bedeutenden Offensive und der Besetzung einer feindlichen Hauptstadt, um dort eine neue Regierung einzusetzen. Die Militärdoktrin antizipiert somit einen Angriff auf das Prinzip der Souveränität der Staaten. Auch hinsichtlich der Militärstrategie haben die USA sich neu orientiert. Diese ist darauf gerichtet, das Leben von Amerikanern zu schonen, weshalb sie Bombardements vorzieht, was eine Vervielfachung der zivilen Opfer zur Folge hat: Die Kehrseite von „null Toten“ bei den Amerikanern sind „zahlreiche Tote“ beim Feind. Am Boden setzt das amerikanische Oberkommando bevorzugt Truppen ein, die von der Opposition des betroffenen Regimes gestellt werden (UÇK im Kosovo, Nordallianz in Afghanistan). Weiter verharmlost das Pentagon die Nuklearwaffen. Während die klassische Doktrin deren Einsatz auf Staaten beschränkte, die ebenfalls Atomwaffen besaßen und anwendeten, sieht die neue Doktrin, die in der „Nuclear Posture Review“ dargelegt wird, deren Verwendung in klassischen Konfliktsituationen gegen Staaten vor, die keine Atomwaffen besitzen. Die Zeit des Friedens durch Abschreckung ist zu Ende. Zwei Ziele – Beherrschung der Rohstoffe und totale Kontrolle des Planeten – bilden das Zentrum dieser amerikanischen Strategie. Damit nehmen die Amerikaner das Risiko in Kauf, die Welt in ein immer tieferes Chaos zu stürzen. Ihre gegenwärtige Priorität besteht offensichtlich darin, den arabischen Staaten den Kopf zurechtzurücken, die nach den ideologischen Parametern der in Washington regierenden Fundamentalisten als die widerspenstigsten gelten, aber die Hauptvorkommen an Erdöl und Erdgas für das angebrochene Jahrhundert besitzen. Mit der Theorie des „Zusammenpralls der Zivilisationen“ von Samuel Huntington wird diese Neuorientierung ideologisch legitimiert. Allerdings kann die Auseinandersetzung mit der arabisch-islamischen Welt die Verzweiflung dieser bereits jetzt zutiefst gedemütigten Nationen nur nähren und somit die Voraussetzungen für eine neue Welle des Terrors schaffen.
Es bleibt zu berücksichtigen, dass die Kraft der USA nicht nur auf ihrem außerordentlichen wirtschaftlichen, finanziellen, technologischen und militärischen Vorsprung beruht: Sie ergibt sich auch aus der freiwilligen Unterwerfung der meisten europäischen Staaten. Gegen Frankreich und Deutschland, die versucht haben, Europa eine unabhängige Stimme zu geben, stehen Großbritannien, Spanien, Italien, Polen, Ungarn, Portugal, Dänemark und die Tschechische Republik, deren Ausrichtung auf die kriegslüsternen amerikanischen Positionen gegenüber dem Irak deutlich von dieser Unterordnung zeugt. Diese internationale Gefolgschaft ist ebenso gefährlich wie die amerikanische Ordnung selbst. Gleichwohl liefert die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts reichlich Beispiele dafür, dass allein der Multilateralismus und die Respektierung der Regeln des internationalen Rechts imstande sind, die Bedingungen für Frieden und Entwicklung zu schaffen.
deutsch von Claudia Steinitz
* Europaabgeordneter