Integration, Irritation, Desintegration
MIT der Irakkrise kommt ein zusätzlicher Aspekt der EU-Osterweiterung zum Tragen: die außen- und sicherheitspolitischen Prioritäten der Neumitglieder, die sich von denen des alten Westens, wie sich gezeigt hat, teilweise erheblich unterscheiden. Die Anpassung an die EU-Vorgaben, wie sie von den Neuen gefordert wird, betrifft auch das Verhältnis zu deren östlichen Nachbarn: Für die ukrainischen und weißrussischen Grenzregionen wird nichts bleiben, wie es ist. Dort hatte sich nach der jahrzehntelangen Undurchlässigkeit der sowjetischen Außengrenze der kleine Grenzverkehr zu Polen mit seinem lukrativen Kleinhandel zum wirtschaftlichen Motor der Region entwickelt. Die EU-Außengrenze wird bald einen Landstrich auseinander schneiden, der seine gemeinsame Geschichte gerade erst wieder entdeckt hat.
Von GUY-PIERRE CHOMETTE *
Am Grenzübergang Medyka im Südosten Polens trennen dreihundert Meter die polnischen Zollbeamten von ihren ukrainischen Kollegen. Wer als Fußgänger über die Grenze will, muss die Distanz auf einem schnurgeraden, eingezäunten und nicht überdachten Fußweg zurücklegen. An diesem Morgen regnet es in Strömen, und es ist kalt. So dass es die Reisenden eigentlich davon abhalten müsste, sich in den Schlamm hinauszuwagen und geduldig auf die Abfertigung zu warten. Doch wie jeden Tag drängeln sich auch heute hunderte Ukrainer auf dem Fußweg und harren aus, bis sie an der Reihe sind. Die Seiten ihrer Pässe sind übersät mit polnischen Ein- und Ausreisestempeln. Die Zollbeamten hinter den Schreibtischen stempeln, was das Zeug hält.
Etwa 5 000 Reisende passieren täglich diesen Grenzübergang, davon sind 80 Prozent Ukrainer. In der Ukraine nennt man sie tschelnoki, das sind, wörtlich übersetzt, Leute, die sich wie Weberschiffchen bewegen. Seit dem Ende der Sowjetunion 1991, als die Grenze zwischen Polen und der gerade erst in die Unabhängigkeit entlassenen Ukraine geöffnet wurde, spezialisierten sich hunderttausende Ukrainer auf den grenzüberschreitenden Kleinhandel, der von den geringen Preisunterschieden lebt. Die beliebtesten Güter: Zigaretten und Wodka. Unter Einsatz aller Kriegslisten wird versucht, das Dreifache der erlaubten Menge über die Grenze zu bringen und zu verkaufen. Doch auch außerhalb dieses illegalen Kleinhandels, der auf den Märkten beiderseits der Grenze ganz offenkundig ist, hat die gesamte polnisch-ukrainische Grenzregion in den letzten zwölf Jahren vom Warenaustausch profitiert.
Der Grenzübergang Medyka verbindet die 70 Kilometer voneinander entfernten Städte Przemyśl in Polen und Lwiw (Lemberg) in der Ukraine. Der Journalist Wiktor Haltschinski aus Lwiw ist auf das Thema Grenze und Grenzübergänge spezialisiert. „Die tschelnoki haben heute nur noch marginale Bedeutung“, erklärt er mir. „Die Dynamik des grenzüberschreitenden Handels beruht heute vor allem auf einer Vielzahl regionaler Unternehmen, die die tschelnoki der ersten Stunde mit ihrem Ersparten gegründet haben. Lebensmittel, Baustoffe, Möbel, Fenster, Sanitärausstattungen … Diese kleinteiligen Strukturen profitieren von der unklaren Gesetzgebung, und es werden keine oder nur sehr geringe Steuern gezahlt. Diese graue Ökonomie wird auf 80 Prozent des Handelsvolumens geschätzt. Die restlichen 20 Prozent entfallen auf multinationale Unternehmen und die 269 offiziell zugelassenen polnisch-ukrainischen Joint-Ventures, die im Jahr 2001 um die 1,5 Milliarden Euro Umsatz machten. Vor allem die graue Ökonomie wird unter der Einführung der Visumpflicht schwer leiden.“
Seit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union, die letzten Dezember zum Abschluss kamen, weiß man in Polen, dass unter dem Druck Brüssels die Visumpflicht für die östlichen Nachbarn, die Ukraine und Weißrussland, eingeführt werden muss. Das Ziel: die Außengrenzen der erweiterten Union noch stärker gegen illegale Immigration abzuschotten. Die für Juli 2003 vorgesehene Maßnahme wird zu einer radikalen Verringerung des grenzüberschreitenden Kleinhandels führen, von dem 40 Prozent der Bevölkerung in den Grenzregionen leben. Wiktor Haltschinski sieht einen Rückgang um zwei Drittel voraus.
Andrzej Zuromski lebt in Przemyśl und leitet dort ein Werbeunternehmen. Er schimpft: „Dieses Dichtmachen der Grenze ist nicht nur ein Problem, es ist eine Tragödie. Denn das hat außer den ökonomischen und sozialen Folgen auch psychologische Konsequenzen. Und die sind sogar noch schlimmer. Im Osten werden die Ressentiments gegen den Westen zunehmen. Bei dieser Erweiterung ist immer von Integration die Rede, aber es wird auch eine Desintegration geben.“ Ist dieser Pessimismus übertrieben? Die Öffnung der Grenzen innerhalb des ehemaligen Ostblocks hat den Menschen in Mittel- und Osteuropa Reisefreiheit innerhalb ihres geografischen Raums beschert. In der Ukraine und in Weißrussland gilt diese Freiheit vielfach als eine der wenigen Errungenschaften der letzten Jahre. Darauf nun wieder verzichten zu müssen führt zu großer Verbitterung.
In Polen hat man alles getan, um die Einführung der Visumpflicht möglichst lange hinauszuschieben, doch für andere Beitrittskandidaten gilt das nicht. Die Slowakei hat die Visumpflicht für ihre ukrainischen Nachbarn zum 28. Juni 2000 eingeführt. Die Zahl der Ukrainer, die in die Slowakei einreisten, sank auf ein Viertel. Das slowakische Visum kostet 30 Dollar, ein Drittel des monatlichen Durchschnittseinkommens in der Ukraine. Im Herbst 2001 folgte dann Bulgarien. Die Irritation seitens der Ukraine war besonders groß, da der Beitritt Bulgariens zur Europäischen Union nicht für 2004, sondern erst für 2007 vorgesehen ist. Sofia kann also nicht wie die Polen, Slowaken oder Ungarn einfach auf den Druck aus Brüssel verweisen, wenn es die Grenzen dicht macht. In der Ukraine hat man das Gefühl, von diesen Nachbarstaaten, die doch vor kurzem noch „Bruderländer“ waren, verraten worden zu sein.
Teure Ferien
FRÜHER fuhren viele Ukrainer an die bulgarische Schwarzmeerküste“, klagt Wiktor Haltschinski. „Ich auch. Aber rechnen Sie einmal selbst: Das bulgarische Visum kostet 20 Dollar, dazu kommen 40 Dollar für die Fahrt zur bulgarischen Botschaft in Kiew. Das macht zusammen 60 Dollar nur für das Visum. Und wissen Sie, wie viel ich für meinen letzten Urlaub in einem einfachen Hotel an der bulgarischen Küste, einschließlich Busfahrt und Vollpension bezahlt habe? Genau 80 Dollar … Die Kosten für meinen Urlaub hätten sich dementsprechend fast verdoppelt. Da liegt es wohl auf der Hand, dass ich so bald nicht mehr nach Bulgarien fahren werde. Und ich bin da nicht der Einzige.“ Auch die ukrainischen Reiseveranstalter kalkulieren ihre Umsatzrückgänge und verlagern ihre Angebote an die Strände der Krim oder Russlands.
Eine weitere Konsequenz: Familiäre Kontakte werden erschwert. Nach der 1945 erfolgten Grenzziehung lebt in Polen eine ukrainische Minderheit, der etwa 300 000, und eine weißrussische, der 200 000 Menschen angehören. Fast alle haben Verwandte in der Ukraine oder in Weißrussland. Die während der bleiernen Zeit stark behinderten Kontakte wurden vor zwölf Jahren schnell wieder ausgedehnt. Falls das polnische Visum gleichfalls um die 30 Dollar kosten sollte, wird eine ukrainische Familie sich schwer überlegen, ob sie das Weihnachtsfest bei dem Vetter in Polen feiern möchte.
Die Einführung der Visumpflicht wird von allen als Rückschritt empfunden. Sie widerspricht den gemeinsamen Bemühungen vor allem Polens und der Ukraine, nach Jahrzehnten des Misstrauens und des Hasses wieder gutnachbarliche Beziehungen herzustellen. Stanisław Stępień leitet das Südostpolnische Forschungsinstitut in Przemyśl, das sich auf die polnisch-ukrainische Geschichte spezialisiert hat: „Als die Grenze geöffnet wurde, kamen die alten Ressentiments wieder hoch. Es schienen ja alle Voraussetzungen gegeben, um die in Jalta willkürlich und ohne Zustimmung der Ukrainer und Polen festgelegte Grenze wieder in Frage zu stellen. Doch wir haben uns bemüht, unsere Differenzen zu überwinden. Und schon 1990 haben wir mit der Ukraine einen Nachbarschaftsvertrag geschlossen. Dabei erwies sich gerade auch die Europäische Union dank ihrer Anziehungskraft als ein starker stabilisierender Faktor. Aber jetzt, kurz vor der Erweiterung, haben die Menschen das Gefühl, dass an der Grenze eine neue Mauer errichtet wird. Das gilt vor allem für Ostpolen, wo die Zahl der Euroskeptiker größer ist.“
Tatsächlich zeigt eine kürzlich durchgeführte Meinungsumfrage – deren Ergebnisse natürlich mit Vorsicht zu behandeln sind –, dass die Polen im Westen dem Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union sehr viel positiver gegenüberstehen als ihre Landsleute im Osten. Im pommerschen Grenzgebiet zu Deutschland sind 79 Prozent der Befragten für den Beitritt, in Podlasie an der Grenze zu Weißrussland dagegen nur 38 Prozent.1 Aus einer wenig später veröffentlichten Meinungsumfrage geht hervor, dass die Einstellung der Polen gegenüber ihren östlichen Nachbarn sich ständig verbessert hat. Während 1992 noch 65 Prozent erklärten, die Ukrainer nicht zu mögen, und 47 Prozent dasselbe hinsichtlich der Weißrussen sagten, betragen diese Anteile heute nur noch 48 Prozent bzw. 36 Prozent.2 Kurz vor dem Beitritt zur Europäischen Union scheint Polen sich seiner osteuropäischen Seite bewusst zu werden – und der Folgen einer allzu brutalen Abschottung gegen seine östlichen Nachbarn jenseits der Grenzen.
In Lwiw, das von 1340 bis 1772 polnisch, bis 1919 österreichisch und dann bis 1939 wieder polnisch war, bevor es 1944 von der Sowjetunion vereinnahmt wurde, ist die Last der Geschichte entscheidend für die Einschätzung der EU-Erweiterung bis zum Bug, dem Grenzfluss zwischen Polen und der Ukraine. Andrij Pawlyschyn ist Herausgeber des Ji Magazine, einer unabhängigen Zeitschrift, die sich vorrangig mit polnisch-ukrainischen Beziehungen beschäftigt (www.ji-magazine.lviv.ua/). „Unser Vorbild ist die deutsch-französische Aussöhnung“, erklärt er. „Wenn das gelingen soll, müssen wir uns Polen annähern, aber die Visumpflicht erschwert unsere Bemühungen. Wir sind nicht gegen den Beitritt Polens zur Europäischen Union. Wir fragen nur: Und was wird aus uns? Welche Perspektiven hat Brüssel uns zugedacht? Gegenwärtig entscheidet die Europäische Union auf ihrem Marsch nach Osten nichts ohne Zustimmung Russlands. Man macht uns Ukrainer zu Vasallen Russlands, und damit sind alle zufrieden: die EU, weil sie keineswegs die Absicht hat, uns eines Tages die Tür zu öffnen; und Russland, weil man dort sehr glücklich ist über den wiedergewonnenen Einfluss auf das verlorene Imperium. Es besteht durchaus die Gefahr, dass die Ukraine sich als Reaktion auf die Osterweiterung der Europäischen Union nach Osten wendet. Wer weiß, ob die Abschottung an der Grenze nicht das Misstrauen zwischen Ost und West neu entfacht?“
Oder ob sie die zentrifugalen Kräfte innerhalb der Ukraine stärkt. Seit die Ukraine 1991 unabhängig wurde, vertieft sich der Graben zwischen dem traditionell auf Russland ausgerichteten russischsprachigen Osten des Landes und dem ukrainischsprachigen, nationalistischen Westen, der seinen Blick auf Polen und die Europäische Union richtet. In Lwiw, dem Zentrum der westlich orientierten Ukraine mit Hang zu Autonomiebestrebungen, wächst die Unzufriedenheit mit der Zentralgewalt in Kiew, deren politische und ökonomische Entscheidungen die Ukraine immer mehr vom restlichen Europa isolieren.3
Insgesamt werden die Ukraine und Weißrussland immer abhängiger von den Beziehungen zwischen der EU und Russland werden. Das Gebiet zwischen Ostsee und Schwarzem Meer wird wieder zu dem, was es jahrhundertelang war: Grenzraum und Pufferzone. Früher geprägt durch die Rivalität zwischen Polen und Russland, wird nun das Gleichgewicht zwischen den beiden Riesen des europäischen Kontinents, der Europäischen Union und der Russischen Föderation, bestimmend werden. Das beweist etwa die im November 2002 vom Rat der Europäischen Union im Hinblick auf die Osterweiterung beschlossene Initiative „Neue Nachbarn“. Der Ausschuss für gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik erklärte, die Erweiterung sei „eine wichtige Chance, die Beziehungen zu den neuen Nachbarländern auf der Grundlage gemeinsamer politischer und wirtschaftlicher Werte auszubauen“; es gelte, „Stabilität und Wohlstand innerhalb der neuen Grenzen der EU und darüber hinaus zu fördern“. Aber er fügt auch gleich hinzu: „Diese Initiative ist Ausdruck der festen Absicht der Europäischen Union, die Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation, die als wichtiger Partner zu betrachten ist, zu intensivieren.“4
Die Schattenseite der neuen Mauer
AUCH jenseits offizieller Verlautbarungen verhehlen höchste europäische Funktionsträger keineswegs ihren Wunsch, die geopolitische Lage in einer immer noch grauen Zone der europäischen Landkarte rasch zu klären. So erklärte der Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, kurz vor dem Kopenhagener Gipfel, er sehe „nach der großen Erweiterung“ für einen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union „keinen Grund“. „Wir müssen über unsere Beitrittskriterien diskutieren“, fügte er hinzu. „Dass Ukrainer und Armenier sich als Europäer fühlen, hat nichts zu bedeuten. Schließlich fühlen sich auch die Neuseeländer als Europäer.“5
Kurz, für die „neuen Nachbarn“ ist kein Platz im zukünftigen Haus der Europäischen Union. Chris Patten, der Europäische Kommissar für Außenbeziehungen, sagte kürzlich kaum weniger unverblümt: „Man sollte der Ukraine und Moldawien nicht den Eindruck vermitteln, man ließe sie auf der schlechten Seite einer neuen Mauer zurück.“6
An Ort und Stelle geht es in erster Linie um die Sicherung der Grenze. „Finanziert mit Mitteln der Europäischen Union“, verkünden Aufkleber auf den Computern des polnisch-ukrainischen Grenzübergangs Hrebenne. Seit 1997 hat Warschau 55 Millionen Euro für die Verstärkung der Grenzpolizei erhalten. In Kopenhagen versprach die EU weitere 280 Millionen für die Modernisierung der 1 200 Kilometer langen Grenze zwischen Polen und der Ukraine, Weißrussland sowie Russland (d. h. der Enklave Kaliningrad). Damit sollte Warschau in die Lage versetzt werden, den Stand der Vorgaben des Schengener Abkommens zu erreichen.
Heute wissen wir jedoch, dass Polen die Bedingungen dieses Abkommens bis zum Beitrittstermin am 1. Mai 2004 nicht wird erfüllen können. Man wird sich also noch gedulden müssen. Wie lange? „Das wissen wir noch nicht“, erklärt die Journalistin Sofia Onufriw. „Die Rede ist von drei oder sogar fünf Jahren … Aber schon die Ungewissheit ist eine Last für uns. Denn in der Übergangszeit werden die von Polen ausgestellten Visa im Schengen-Raum keine Geltung haben. Wenn ich also nach Berlin fahre und ein paar Tage in Warschau Zwischenstation mache, brauche ich zwei Visa, eines für Polen und eines für die Schengen-Staaten. Können Sie sich vorstellen, wie viel das kostet?“ Um das Verfahren zu erleichtern, denkt man in Polen an ein flexibles, billiges und eventuell mehrfach gültiges Visum.
Außerdem ist die Frage der für die Ausstellung der Visa nötigen Infrastruktur immer noch ungeklärt. „Die polnischen Konsulate sind nicht darauf vorbereitet, 13 Millionen Visa pro Jahr auszustellen“, meint Sofia Onufriw. „So viele Ukrainer und Weißrussen sind 2001 nach Polen gereist. Bei einer solchen Belastung wird es nicht schwer sein, sich ein Visum durch Bestechung zu verschaffen. Das gibt es übrigens ohnehin schon in manchen Konsulaten von Ländern der Union.“
Nach Ansicht vieler Beobachter könnte die Einführung der Visumpflicht auf dem Gebiet der Korruption leicht zu einem Bumerang werden. Leon Tarasewicz lebt seit seiner Kindheit in Waliły, einem polnischen Dorf, das zehn Kilometer von der weißrussischen Grenze entfernt liegt. Der bekannte Maler, der zur weißrussischen Minderheit gehört, verfolgt aufmerksam die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Ländern. „Die Kleinkorruption wird verschwinden“, sagt er. „Wahrscheinlich wird man dann keinen Geldschein mehr in den Pass legen, um nicht durchsucht zu werden und die drei Flaschen Wodka zu verlieren, die man unter dem Mantel versteckt hat. Aber je dichter die Grenze, desto größer die Korruption. Die Mafia wird nicht zögern, hohe Preise zu zahlen. Sie dürfen nicht vergessen, dass die polnischen Grenzbeamten im europäischen Vergleich immer noch wenig verdienen. Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Weißrussland geht den Bach runter.“
In Weißrussland ist das Gefühl der Isolierung besonders stark, weil das autoritäre Regime von Präsident Lukaschenko die EU immer wieder zu Sanktionen herausfordert. Seit dem 19. November 2002 darf er nicht einmal mehr das Gebiet der Fünfzehn betreten. Zugleich fehlen aber auch die Voraussetzungen für eine dauerhafte Annäherung zwischen Minsk und Moskau. Putin scheint nicht bereit, die leere Hülle der russisch-weißrussischen Union mit Leben zu erfüllen, die beide Länder in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre eingegangen sind. Der russische Präsident nutzt Lukaschenkos Isolierung, um seine Sicht der russisch-weißrussischen Beziehungen durchzusetzen und um seinen Einflussgebiet abzustecken.7
In Grodno unweit der Grenze zu Polen fasst ein Schuldirektor, der lieber nicht namentlich genannt werden möchte, das Gefühl zusammen, das er mit vielen seiner Landsleute zu teilen glaubt: „Da die Europäische Union uns nicht will, ist die Union mit Russland keine so schlechte Idee. Aber Moskau kann sich diese Union nur als vollständige Integration Weißrusslands in die Russische Föderation vorstellen. Und das wollen die Weißrussen nicht. Die Lage ist düster: Mit der Aufnahme Polens und der baltischen Staaten in die Nato und die Europäische Union haben wir Weißrussen das Gefühl, dass sich da im Westen ein neuer Block bildet, der bis an unsere Grenze reicht. Und uns bleibt keine andere Wahl, als mit gesenktem Kopf in die Russische Föderation einzutreten …“
Noch 1993 hatte der damalige weißrussische Außenminister Pjotr Krawtschenko voller Optimismus erklärt: „In zehn oder zwölf Jahren werden in Europa zwei große Einheiten koexistieren und einander schrittweise annähern: die erweiterte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die, wie ich sie nennen möchte, Wirtschaftsgemeinschaft Osteuropas, die aus Russland, der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan bestehen wird. Um das Jahr 2003 werden wir unsere internen Veränderungen abgeschlossen haben und bereit sein, uns zu einem gesamteuropäischen Markt zusammenzuschließen.“8
Zehn Jahre später steht die Europäische Union vor ihrer Erweiterung und schließt die Ostgrenze. Integration im Westen reimt sich auf Desintegration im Osten. Da erscheint diese Vision nur noch als Utopie.
deutsch von Michael Bischoff
* Journalist und Redakteur des Projekts „Lisières d‘Europe“.