Hauptgewinn Visum für Frankreich
Mitte Februar erwähnte der französische Innenminister Nicolas Sarkozy ein Gesetzesvorhaben, das schärfere Regelungen für die Aufenthalts- und Eintrittsbedingungen für Ausländer vorsieht. Dabei steht schon heute jeder, der ein Visum für Frankreich beantragt, unter dem Generalverdacht, ein potenzieller illegaler Einwanderer zu sein.
Von MAURICE T. MASCHINO *
HYDRA. Ein Wohnviertel in der Oberstadt von Algier. Entlang der Mauer um den Park, wo die französische Botschaft und das Konsulat Quartier bezogen haben – es ist eine hohe, stacheldrahtbewehrte Mauer –, zieht sich die Schlange endlos hin. Seit vier Uhr morgens warten hunderte Algerier aus fast allen Regionen des Landes, in das festungsartige Gebäude eingelassen zu werden, manchmal den ganzen Tag. Eine Mappe mit Papieren in der Hand, stehen sie, von Polizei bewacht, hinter einer Schranke. Die meisten schweigend. Erschöpft. Gedemütigt. „Man behandelt uns wie Tiere“, sagt ein Ingenieur. „Ist es menschenwürdig, uns stundenlang unter der brennenden Sonne oder im Regen warten zu lassen? “
Zwei Lehrerinnen, die im Morgengrauen aus Laghouat – 300 km südlich von Algier – angereist sind, fragen sich beunruhigt, ob sie heute noch an die Reihe kommen werden. Oder müssen sie, wie es in den Vorschriften steht, in einer Woche am gleichen Tag, zur gleichen Stunde, wieder vor dem Konsulat erscheinen? Auf einer Zeitung sitzend, rezitiert ein alter Mann Verse aus dem Koran. Er habe seinen Sohn fünf Jahre nicht gesehen, erklärt er, aber dank Gottes sei sein jüngster Antrag – der dritte – bewilligt worden. Trotzdem gibt es keine Garantie, dass ihm das Visum nicht im letzten Augenblick verweigert wird. Wer weiß, ob es doch nicht an den Urkunden, die er im Original vorlegen muss, wieder etwas auszusetzen geben wird?
Sein Nachbar, ein Arzt, hat diesbezüglich schlechte Erfahrungen gemacht: Sein von der Société générale ausgestellter Bankauszug hatte keinen Stempel. „Normalerweise reicht der Bankauszug. Keine Ahnung, welcher Teufel den Beamten geritten hat, der mich auf die Warteliste setzte. Jedenfalls musste ich meinen Flug stornieren und mich ein zweites Mal anstellen. Vierzehn Tage sind mir verloren gegangen, und als ich in Paris ankam, war der Kongress, zu dem ich eingeladen war, schon fast vorbei.“
Ein Visum für Frankreich? „Ein einziger Hürdenlauf“, klagen die Algerier. Zuerst gilt es, alle notwendigen Papiere zu beschaffen, und zwar dergestalt, dass das erste nicht verfallen ist, wenn man das letzte endlich bekommt. Dann muss man jedes einzelne Stück fotokopieren, ein Formular in oft unverständlicher Verwaltungssprache ausfüllen, einen Scheck mit den (im Falle der Ablehnung nicht zurückerstatteten) „Bearbeitungsgebühren“1 beilegen und vor dem Postschalter Schlange stehen, um seine Unterlagen einzureichen. Lauter mühselige Prozeduren, als solche schon ärgerlich genug.
Aber das Schlimmste steht noch bevor: Warten ohne Ende – einen Monat, zwei Monate, drei Monate. So lange eben, bis das Konsulat die zuständigen Polizeidienststellen und eventuell die anderen Konsulate, etwa das spanische oder das deutsche, konsultiert hat, bis die Urkunden auf ihre Echtheit überprüft sind und die Zustimmung der Ausländerbehörde von Nantes vorliegt. Anders als der Generalkonsul behauptet, kommt es auch vor, dass der Antragsteller gar keine Antwort bekommt. Leila, die ihre Unterlagen im Februar 2002 eingereicht hatte, wusste im Dezember immer noch nicht, was daraus geworden war. Da sie telefonisch nie eine Verbindung bekam, fragte sie schriftlich nach. Der Brief wurde ihr zurückgeschickt, ohne ein Wort der Erklärung.
Es kommt vor, dass Unterlagen verloren gehen oder in einem Büro am falschen Platz landen. Kader hat alles vorbereitet, um in Toulouse zu studieren: Er hat sich mit Erfolg an der Universität beworben, verfügt über ein ansehnliches Bankkonto und kann bei einem Onkel wohnen. Im September wird er unruhig, weil sein Visum noch nicht eingetroffen ist. Zum Glück kennt sein Vater einen Angestellten im Konsulat von Annaba, der sich der Sache annimmt, auf eigene Faust Nachforschungen anstellt und Kaders Unterlagen in einem Haufen Staub bedeckter ungeprüfter oder abgelehnter Anträge in einer Abstellkammer findet.
Manche bekommen im Abstand von ein paar Wochen widersprüchliche Bescheide. Nicht, weil sie zwei Anträge eingeschickt hätten, wie der Generalkonsul behauptet – was auch keine Rechtfertigung für entgegengesetzte Bescheide wäre. Böse Absicht oder Überlastung der Behörde? Wahrscheinlich Letzteres, aber darum nicht weniger beunruhigend: Welche Daten hat der Computer gespeichert? Welche Folgen wird das für spätere Anträge haben?
Andere erhalten eine positive Antwort: Im Prinzip all diejenigen – Ärzte, Anwälte, Journalisten –, die ihre Papiere einem Vertreter beim Konsulat übergeben und nur rund drei Wochen auf ihr Visum warten. Sie brauchen nicht Schlange zu stehen. Aber auch sie müssen oft kleinliche Prozeduren über sich ergehen lassen. Ein bekannter Radiologe, der mit Familie von einem Pharmalabor nach Frankreich eingeladen war und keineswegs die Absicht hatte, auszuwandern, musste seine Frau und seine beiden Kinder als Geiseln zurücklassen – sie bekamen kein Visum.
Insgesamt werden sehr wenige Anträge positiv beschieden. Von fast einer Million im Jahr – „Jeden Tag gehen tausend bei uns ein“, präzisiert der Botschafter – waren es 2002 nur 277 000. Das ist besser als 1995, dem Jahr, in dem die Zahl der erteilten Visa auf ihren Tiefststand sank, aber doch kaum mehr als ein Viertel der geprüften Anträge.
Woran liegt das? Unmöglich, es herauszufinden: Die Ablehnung wird nie begründet, außer in Einzelfällen, wenn der Antragsteller Vor- oder Nachfahre gebürtiger Franzosen ist. Bei den einen mag das Konsulat der Ansicht sein, dass das Geld nicht reicht (eine Person ohne Unterkunft muss 914 Euro monatlich, mit Unterkunft 457 Euro nachweisen), bei den anderen ein „Migrationsrisiko“ vermuten. Wie auch immer, die Entscheidung wird sehr schnell gefällt – im Durchschnitt bearbeitet jeder der 40 Angestellten 25 Anträge am Tag –, oft ohne triftige Gründe.
Habibs Mutter ist Witwe. Ihr verstorbener Mann hat in Frankreich eine Rente bezogen, die sie weiter beziehen könnte, wenn sie vor Ort die nötigen Schritte in die Wege leiten könnte. Aber sie bekommt kein Visum. Seit fünf Jahren wurden ihre Anträge allesamt abgelehnt. Ismahane lebt bei ihrer Tante in Tlemcen. Ihre Großeltern haben sich 1990 in Frankreich niedergelassen, ihre Mutter und ihre Schwester Amal sind 1992 nachgezogen, aber Ismahane, die volljährig ist, darf nicht folgen. Obwohl Paragraf 8 der europäischen Menschenrechtskonvention jedem das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zuerkennt.
Es gibt zahlreiche Algerier, denen dieses Recht vorenthalten wird. Wie viele Kinder sind von ihren Eltern, wie viele Frauen von ihrem Ehemann getrennt! Ein besonders tragischer Fall ist der des politischen Flüchtlings Abdenour H., der seit 1998 in Frankreich Asyl genießt, seine Verlobte, Hanifa L., jedoch in der Kabylei zurücklassen musste. Sie wollte ihm folgen, aber das Konsulat ließ es nicht zu. Also haben sie per Ferntrauung geheiratet, und Hanifa hat ein neues Visum beantragt, diesmal als Ehefrau. Das Konsulat blieb hart: Nach dem französischen Gesetz, dem Abdenour unterworfen sei, müssten beide Partner vor einem Standesbeamten erscheinen, hieß es. Nun, daran sollte es nicht liegen. Hanifa stellte einen Antrag auf ein Kurzzeitvisum, um in Frankreich ein zweites Mal – nach dortigem Recht – zu heiraten. Wieder lehnte das Konsulat ab. Unterdessen hat Abdenour seinerseits die französische Staatsbürgerschaft beantragt, ist aber vom Ministerium mit der Begründung abgewiesen worden, seine Frau lebe in Algerien, er habe seine „wichtigsten Bindungen“ also nicht in Frankreich. Für die eine Behörde verheiratet, für die andere unverheiratet, lässt das Schicksal dieses seit fünf Jahren getrennt lebenden Paares den Generalkonsul kalt. „Wer sagt Ihnen denn, dass diese Dame nicht einem Ring von Prostituierten angehört?“, stellt er als Frage in den Raum.
Entscheidende Fürsprachen
HÄTTE Abdenour Beziehungen zu einer einflussreichen französischen Persönlichkeit, die am Quai d‘Orsay ein gutes Wort für ihn einlegen könnte, wäre Hanifa wahrscheinlich längst bei ihm. Für manche sind solche „Beziehungen“ die einzige Möglichkeit, an ein Visum zu kommen. Latifa beispielsweise, die seit zehn Jahren in Frankreich lebt und die französische Staatsbürgerschaft erworben hat, kann dank der Fürsprache eines Staatsrats jeden Sommer Besuch von ihren Kindern erhalten. Es kommt allerdings vor, dass der hohe Beamte vom Quai d‘Orsay, der sich der Sache auf Bitten des Staatsrats annimmt, zwei oder drei nachdrücklich fordernde Telegramme nach Algier schicken muss, ehe das dortige Konsulat pariert. Glück hatte auch eine singhalesische Großmutter, die auf Intervention eines ehemaligen Ministers zu ihrer Familie nach Frankreich reisen durfte. Aber wehe dem alten algerischen Handwerker, der keine „Beziehungen“ hat und seinen jüngsten Enkel kennen lernen möchte. „Warum kann der Enkel nicht mit seinem Vater nach Algier kommen?“, fragt argwöhnisch das Oberverwaltungsgericht – und bestätigt die Ablehnung des Visums.
Selbst in Notfällen bleibt das Konsulat stur. „Ein Anruf bei meiner Sekretärin genügt“, behauptet der Konsul. Aber die Mutter des kleinen Abderrahmane Zidane wollte sich darauf nicht verlassen. Sie hatte vorgesorgt und, während sie ihren Hilferuf per Telegramm an den besagten Konsul schickte, die Aufmerksamkeit der Medien auf den Fall ihres sieben Monate alten Babys gelenkt, das dringend eine Lebertransplantation brauchte, die nur in Frankreich möglich war. Die Öffentlichkeit reagierte bewegt, der Regierungschef bot an, die Kosten zu übernehmen. Doch das Konsulat stellte sich taub und rechtfertigte seine Unnachgiebigkeit mit dem Hinweis auf unvollständige Unterlagen. Der bürokratische Starrsinn setzte dem Streit ein Ende: Der kleine Zidane ist tot.2
Ausbleibende Antworten, unverständliche Ablehnungen, Gesetzesbrüche (Verstöße gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention und gegen Artikel 5 der Anordnung vom 2. November 1945, der die Verwaltung verpflichtet, Ablehnungsbescheide zu begründen, sofern es sich bei den Antragstellern um Ehegatten bzw. Vor- oder Nachfahren gebürtiger Franzosen handelt), Gerüchte über Korruption – all das ist unvermeidlich, nicht nachprüfbar, geschieht ohne die geringste Transparenz. Die Verhältnisse im Konsulat von Algier sind so skandalös, dass die Liga für Menschenrechte, jedes Jahr mit etwa dreißig tragischen Fällen befasst, in einem Brief das Quai d‘Orsay aufgefordert hat, eine Untersuchung einzuleiten. „Das französische Konsulat in Algier ist – genau wie manche anderen, besonders in Fes (Marokko), Nouakchott (Mauretanien) und Saint-Louis (Senegal) – ein rechtsfreier Raum. Die Beamten machen, was sie wollen. Lehnen Anträge ab oder stellen Visa aus, ganz nach Belieben“, erklärt ein juristischer Vertreter der Liga für Menschenrechte.
In Bamako (Mali) geht es seit dem Bau des neuen Konsulats etwas menschlicher zu: Man muss nicht mehr fürchten, mit dem Kopf gegen das Plexiglas am Schalter zu stoßen, und die unter besseren Bedingungen arbeitenden Beamten behandeln die Antragsteller einigermaßen korrekt. Auch das Verfahren selbst ist einfacher: Morgens stehen die Bewerber Schlange, um sich anzumelden – nachmittags stehen sie wieder Schlange, um ihre Papiere vorzulegen und bei einem „Gespräch“ Fragen zu beantworten. Am nächsten Tag holen sie sich ihren Bescheid ab, und wenn er positiv ausfällt, kurz danach ihr Visum. Das Ganze dauert nur eine Woche. Die Vizekonsulin ist lange nicht so verkrampft wie der Generalkonsul in Algier und erlaubt uns, einen Vormittag an der Seite einer Beamtin zu verbringen, die Anträge entgegennimmt und Befragungen in Form so genannter Gespräche durchführt. Vor ihr, im Wartesaal, sitzen schweigend und angespannt etwa fünfzig Personen.
Eine Frau tritt vor den Schalter. „Das ist meine Tante“, sagt der Mann, der sie begleitet. „Sie spricht kein Französisch. Sie möchte ein Visum, um nach Mekka zu fahren, und auf dem Rückweg würde sie gern ein paar Tage in Frankreich bleiben, bei ihrem Schwiegersohn.“ Die Beamtin sieht die Unterlagen durch – der Handel mit gut gemachten Fälschungen ist ein so blühendes Geschäft, dass die Echtheit der Papiere meist ungewiss bleibt. Aber etwas anderes macht sie stutzig: Die Frau hat zwar ein Ticket für den Hin- und Rückflug nach Mekka vorgelegt, aber für den Streckenabschnitt Paris–Bamako ist kein Datum eingetragen. Sie wisse noch nicht genau, wie lange sie sich bei ihrem Schwiegersohn aufhalten werde, lautet die Erklärung. Die Beamtin schreibt die Antwort auf und macht eine Notiz wegen ungeklärter Sachverhalte. „Ein Visum wird es für sie wahrscheinlich nicht geben.“
Der nächste Kandidat ist wieder eine Frau, traditionell gekleidet, die weder Französisch noch Bambara spricht. Also wird ein Dolmetscher geholt, der Peul versteht. Das Publikum schmunzelt – alle im Saal hören mit: Die Fragen werden über Mikrophon gestellt. Diese Frau will ihren kranken Mann in Frankreich besuchen, erklärt der Dolmetscher. Wo er denn sei, an welchem Ort genau? Sie weiß nicht recht. In welchem Krankenhaus? Schulterzucken. Ob sie die erste Frau ist, die zweite? Die einzige. Ob sie Geld hat? (Wer privat unterkommt, muss zusätzlich über 25 Euro pro Tag verfügen.) Sie streckt der Beamtin ein paar Scheine entgegen, die kaum noch zur Kenntnis genommen werden. Klar, dass der Antrag keine Chance hat.
Selbstsicher, mit einem breiten Grinsen, folgt ein hoher malischer Staatsbeamter: „Es ist für die Schwägerin des Premierministers“, sagt er. „Sie konnte nicht selbst kommen, sie arbeitet.“ Die Beamtin ruft ihm in Erinnerung, dass jeder, der ein Visum beantragt, persönlich vorsprechen muss, bittet aber dann, etwas verunsichert, ihre Abteilungsleiterin um Rat. Auch diese lehnt spontan jede Bevorzugung ab, schlägt jedoch im nächsten Moment versöhnlichere Töne an. „Machen Sie nur, sonst bekommen wir Ärger. Aber sagen Sie ihm, dass wir es das nächste Mal nicht wieder so machen.“
Unvermeidliche Kompromisse, wie in allen Konsulaten Zugeständnisse an die Notablen, an ihre Angehörigen, ihre Freunde: Sie kommen fast immer zum Ziel. „Man kann nicht die ganze Nomenklatura des Landes gegen sich aufbringen“, erklärt die Abteilungsleiterin. „Schließlich brauchen wir sie auch, Polizei, Zöllner, Minister …“ Aber trotz allem versucht das Konsulat, Widerstand zu leisten. So etwa gegenüber dem Botschafter, der darum bittet, die Unterlagen eines Studenten, der von einem Minister empfohlen worden ist, wohlwollend zu prüfen. Die Verantwortliche lehnt ab: Die Papiere sind nicht in Ordnung, der Botschafter steckt zurück. Doch nach einem kurzen Wortwechsel am Telefon bekommt er einen anderen Antrag durch, der ebenfalls nicht ganz wasserdicht ist. „Schreiben Sie: ‚Mit Empfehlung des Botschafters.‘ Für den Fall, dass wir eine Inspektion bekommen …“
Die „Basis der Bevölkerung“ bereitet den Konsularagenten nur wenig Kopfzerbrechen. Einmal am Tag, wenn der morgendliche Publikumsansturm vorbei ist, versammeln sie sich und prüfen die Anträge. „Von 100 Anträgen werden 50 auf der Stelle abgelehnt, und von den übrigen scheiden bei der Prüfung nochmals 35 aus.“
Die Kriterien? „Es gibt nur eines: das Auswanderungsrisiko“, antwortet der Botschafter. „Ob die Papiere echt sind oder falsch, spielt kaum eine Rolle. Astreine Unterlagen liefern noch keine Garantie, dass der Betreffende zurückkommen wird, und nur weil einer zweifelhafte Unterlagen hat, heißt das nicht, dass er nicht wiederkommt. Die einzige Frage, die sich stellt, wenn jemand ein Visum beantragt, ist die: Besteht ein Risiko, dass er nicht wiederkommt?“
Aber wie soll man das Risiko richtig einschätzen, wenn das über Mikrophon durch die Plexiglasscheibe geführte „Gespräch“ nur fünf bis sieben Minuten dauert? Wenn die meisten Mitarbeiter, ob Einheimische (mit 1 220 Euro Monatsgehalt) oder Beamte des Auswärtigen Amts (zwischen 3 050 und 3 800 Euro im Monat), keinerlei Ausbildung genossen haben, bei der sie gelernt hätten, eine vertrauensvolle Beziehung zu anderen Personen herzustellen, ja nicht einmal mit anderen zu sprechen, ohne sie zu verletzen oder zu brüskieren. (Wie der Schalterbeamte, der einem Malier seinen Pass zurückgibt und dabei ins Mikrophon posaunt: „Visum abgelehnt!“)
Die Beamten sind in der Regel pingelige Sachbearbeiter, haben wenig Neigung, den oft wirren Erklärungen einen Sinn zu entnehmen, und beschäftigen sich in erster Linie damit, verdächtige Papiere auf ihre Echtheit zu untersuchen. Sie wenden sich den Antragspapieren zu, ohne groß von der Person, die sich am Schalter präsentiert, Notiz zu nehmen. Sie beurteilen die Menschen nach flüchtigen Eindrücken – dem Aussehen, der Art zu reden – oder nach ihrer eigenen Stimmungslage: Morgens früh hat man die beste Chance, sie bei guter Laune zu erwischen.
Um die Willkür bei den Entscheidungen in Grenzen zu halten, hat das Konsulat gewisse Anhaltspunkte gesetzt, die es für objektiv hält. „Unter den Antragstellern gibt es bestimmte Kategorien, die ich im Auge behalte: junge Männer unter dreißig, die arbeitslos oder potenziell straffällig sind, ledige junge Frauen, die vielleicht hoffen, sich einen Weißen zum Heiraten zu angeln, oder auf dem Strich landen könnten, alte Leute, die leicht eine teure Last für die Gemeinschaft werden, und Studenten, bei denen man nie sicher ist, ob sie wiederkommen werden. Wer zum Beispiel in Frankreich Wirtschaftswissenschaft studieren will, bekommt von mir kein Visum: Für Ökonomie gibt es in Dakar oder in Gabun ausgezeichnete Universitäten – sollen sie sich da einschreiben! Die anderen müssen, auch wenn sie von einer französischen Universität angenommen sind, ein Diktat schreiben und ihren Antrag schriftlich begründen. Das nennen wir Bewerbungsschreiben. Das Ergebnis kann natürlich das Aus bedeuten!“
Willkürliche Entscheidungen
OBJEKTIVE Kriterien oder Vorurteile? Wie viele Fehleinschätzungen, wie viele Ungerechtigkeiten haben sie schon hervorgebracht? Die Vorschriften sind so rigide, dass sie die Arbeit nicht beschleunigen, sondern eher behindern und oft unnötige Probleme bereiten. Die Verantwortlichen des Konsulats versichern, dass sie nicht leichtfertig damit umgehen. Aber so gewissenhaft sie ihren Beruf auch ausüben, wenn sie über einen Antrag zu entscheiden haben, stehen doch die restriktiven Momente vor dem Bemühen um Verständnis im Vordergrund. So ist das System. Folglich fällt die Antwort häufiger negativ als positiv aus, das stets streng ausgelegte Reglement behält die Oberhand gegenüber einer „menschlicheren“, den Einzelfall und seine Besonderheiten berücksichtigenden Haltung.
„Sie machen mir das Leben nicht leicht“, sagt die Vizekonsulin zu einer Geschäftsfrau, die um ein Visum bittet, aber einen schwierigen Fall darstellt: Vor einigen Jahren hat sie ein Visum dazu benutzt, ihre vier Kinder nach Frankreich zu bringen und bei ihrer Schwester in Obhut zu geben. Seither ist es ihr gelungen, die Kinder mehrfach zu besuchen, sie konnte jedes Mal anstandslos zurückkehren. Doch inzwischen hat das Konsulat Wind von der Sache bekommen, und jetzt hat die Vizekonsulin ein Problem. „Ich verstehe sie ja, es ist normal, dass sie ihre Kinder in die Arme nehmen will“, entfährt es ihr, erschrickt aber gleich darauf über ihre eigene Rührseligkeit und korrigiert sich: „Aber ich muss mich am Riemen reißen, ich kann mich nicht zur Komplizin eines Betrugsmanövers machen. Wenn sie ihr so fehlen, soll sie die Kinder doch nach Hause holen!“ – „Ganz recht“, stimmt der Botschafter zu. „Ein gutes Herz ist manchmal ein schlechter Ratgeber.“
Die Vizekonsulin scheint gegen diese Versuchung gefeit, auch wenn es manchmal schwer fällt. Wie etwa im Fall eines nach Mali geflüchteten Studenten von der Elfenbeinküste, der eine Gönnerin gefunden hat, eine vermögende alte Dame, die Französin ist und sich seiner annehmen, ihn vielleicht sogar adoptieren will. „Das bricht mir das Herz“, sagt die Vizekonsulin, „aber was tun?“ – „Ihm ein Visum geben!“ – „Unmöglich, wir haben unsere Anweisungen.“ Sie könnte ihren Einfluss geltend machen. Praktisch spräche nichts dagegen. Was riskiert sie schon, drei Jahre vor dem Ruhestand? Sie gibt zu, dass sie in diesem Fall etwas tun könnte. Ihre Kollegen ermutigen sie, die richtige Entscheidung zu treffen. Vergebens. „Wenn wir die Einwanderungswelle stoppen wollen, können wir keine Ausnahmen dulden.“ Auf dem Vorposten der französischen Republik hält die Vizekonsulin mit scharfem Blick Wache: Der junge Ivorer wird die Grenze nicht passieren.
Von Algier bis Bamako, von Fes bis Conakry oder Yaunde – überall bietet sich das gleiche Bild. Man muss feststellen, dass „Frankreich keine offizielle Einwanderungspolitik hat“, wie einer meiner Gesprächspartner es ausdrückt. „Eine politische Linie ist nicht zu erkennen“, sagt der ehemalige französische Industrieminister Roger Fauroux. „Statt dessen haben wir es in den Konsulaten mit willkürlichen Entscheidungen zu tun, mit dem Gutdünken noch nicht einmal des verantwortlichen Konsuls, sondern des einfachen Angestellten, der ermächtigt ist, Visa auszustellen.“
Didier Bigo, französischer Politologe, Konfliktforscher und Verfasser einer bemerkenswerten Untersuchung über das Schengen-Visum3 , weist darauf hin, dass es „keine juristische Erörterung, keine Analyse der Konsulatspraktiken“ gibt. Sein Fazit: „Die Ausstellung der Schengen-Visa hängt von internen Regeln der nationalen Konsulate und von lokalen Gewohnheiten ab. Wegen der zahlreichen Möglichkeiten, die Regeln auszulegen, gibt es die unterschiedlichsten Varianten. Fast alles wird auf die Schnelle entschieden, in einem Zusammenspiel zwischen den Vorschriften der nationalen Behörde, dem Ermessensspielraum, der ihrem Vertreter bleibt, und dem Eindruck, den die das Visum beantragende Person vermittelt.“
Weist jemand nach, dass seine Familie wohlhabend ist, wirkt das nicht unbedingt beruhigend, sondern kann den Sachbearbeiter sogar alarmieren: Wenn die Verwandten die Möglichkeit haben, ihn großzügig aufzunehmen, kommt er vielleicht nicht zurück. „In solchen Fällen“, sagt ein hoher Beamter in Brüssel, „fällt die Entscheidung des Kosularagenten negativ aus. Und er trifft sie auf der Stelle, ohne Widerruf. Die Einschätzung des Auswanderungsrisikos erfolgt unmittelbar, nach dem spontanen Eindruck, ohne lange nachzudenken. Das geht ganz schnell, im Handumdrehen. Die Entscheidung, ob ein Ausländer einreisen darf, wird meist auf die Schnelle von unqualifizierten Angestellten gefällt, unter erbärmlichen Bedingungen und in schäbigen Lokalitäten.“
„Aber was sollen wir machen?“, fragt ein Vertreter des Konsulats von Bamako. „Wir bekommen am laufenden Band widersprüchliche Anweisungen. Man fordert uns auf, die Papiere streng zu prüfen, aber sobald wir die Zahl der bearbeiteten Anträge herunterfahren, droht man uns mit Stellenstreichungen. Wir manövrieren uns so durch …“
Sicher, aber die Richtung bleibt immer die gleiche. So unterschiedlich sie auch sein mögen, die Praktiken der Konsulate folgen doch alle derselben Logik, einer „Logik der Abschreckung“, wie Didier Bigo es nennt. Alles an der Prozedur, um in den Besitz eines Visums zu kommen, ist abschreckend: Die Papiere, die verlangt werden, die Bearbeitungsgebühr, die meist hohen Summen, die nachgewiesen werden müssen, das ewige und wiederholte Schlangestehen, die lange Wartefrist von durchschnittlich 4 bis 5 Monaten. „Über die Ausstellung der Visa wird der Mangel organisiert“, sagt der hohe Brüsseler Beamte. „Es weht ein scharfer Wind heute.“
Jeder, der ein Visum beantragt, ist a priori suspekt, erst recht, wenn er aus einem „Risikoland“ stammt, wie es in den offiziellen Anweisungen heißt. Gemeint sind die Länder Afrikas, des Maghreb und des Mittleren Ostens – besonders Algerien, Iran, Irak und Afghanistan. „Das sind die Verdammten dieser Erde, die Armen, die man verdrängt“, empört sich der Präsident der Liga für Menschenrechte, Michel Tubiana. „Die Visa sind absolut diskriminierend.“ Eine Diskriminierung, die wieder einmal jene Menschen trifft, die durch Jahrhunderte der Sklaverei, über hundert Jahre der Kolonisation und die aktuelle neokoloniale Ausbeutung zum größten Elend verurteilt sind.
Sicher, die gut Betuchten, Geschäftsleute, Händler und Notabeln natürlich, ihre Familien und die Freunde ihrer Familien, alle, die eine Aufenthaltsgenehmigung oder ein Jahresvisum besitzen, haben es leichter, wenn sie sich über die Grenzen bewegen wollen. Ganz zu schweigen von denen, die durch Bestechung an ein Visum kommen – ohne Wissen der Konsulate, manchmal aber auch mit deren aktiver oder passiver Komplizenschaft. In zwei Jahren sind acht Korruptionsklagen gegen französische Mitarbeiter im diplomatischen Dienst eingegangen: in Iran, Armenien, Togo, Tunesien, Benin, Ruanda und Bulgarien.4
Ein wirksames Bollwerk, das Visum? Keine Statistik beweist, dass die Zahl der illegalen Einwanderer seit Einführung des Schengen-Visums 1986 nennenswert zurückgegangen wäre. Und keine Abschottung wird Menschen, die vor dem Hunger auf der Flucht sind, daran hindern, Grenzen zu überschreiten. Die höchsten Staatsbeamten sind sich dessen wohl bewusst, doch um die öffentliche Meinung nicht gegen sich aufzubringen, kultivieren sie das Phantasma der „Invasion“. („Wir werden allerdings nicht so weit gehen, Le Pen in die Hände zu spielen“, sagt ein Abgeordneter.)
„Es ist unsere Aufgabe, die Existenz und die Rechte von 60 Millionen Franzosen zu schützen“, erklärt ungerührt ein Würdenträger vom Quai d‘Orsay, dem wir eine Reihe offensichtlich willkürlicher Konsulatsentscheidungen vorlegen. Willkür! Dieses Wort lässt unseren Gesprächspartner aus der Haut fahren. „Es gibt keine Willkür. Es gibt Gesetze – und die hat der Gesetzgeber erarbeitet, das heißt, das französische Volk.“ Ob dieses Volk etwa beschlossen habe, dass eine Großmutter ihre Enkelin nicht am Krankenbett besuchen dürfe? „Wir behandeln keine individuellen Fälle.“ Auch nicht, wenn es um ein Baby geht, das in Todesgefahr schwebt? „Können unsere Krankenhäuser denn alle Babys der Welt aufnehmen?“ Mit Einzelschicksalen konfrontiert, flüchtet sich unser Gesprächspartner in Allgemeinplätze, schiebt Statistiken vor, beruft sich auf Das Gesetz (welches?) und schließt: „Es ist nicht Aufgabe der Visapolitik, erlittenes Unrecht wieder gutzumachen.“
Die Zukunftspläne der Regierung werden, ganz im Gegenteil, für eine Verschärfung der Ungerechtigkeiten sorgen. Die Einführung von Quoten, noch strengere Maßstäbe für die Liste der „sicheren Drittländer“, eine engere Zusammenarbeit der Konsulate innerhalb der Europäischen Union – sollten die jüngsten Vorschläge des französischen Innenministers Nicolas Sarkozy5 tatsächlich umgesetzt werden, wird es bei der Visaerteilung noch undemokratischer zugehen als bisher.
deutsch von Grete Osterwald
* Journalistin und Autorin des internationalen Bestsellers „No logo!“, München (Riemann) 2002. Zuletzt erschien „Über Zäune und Mauern. Berichte von der Globalisierungsfront“, Frankfurt (Campus Verlag) 2003.