14.03.2003

Überwachen und Schengen

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Überwachen und Schengen

ÜBERALL auf der Welt erhalten Polizei und Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit den Attentaten vom 11. September 2001 mehr Befugnisse und mehr technologische Mittel. Die US-Behörden unterziehen die Bevölkerung einer breit gefächerten Überwachung. Auf dem Gebiet der Schengen-Staaten werden polizeirelevante Daten mit Hilfe des Schengener Informationssystems SIS, dessen Zentralcomputer sich in Straßburg befindet, gesammelt und überprüft. Eine der Hauptaufgaben des SIS ist die Kontrolle über Ein- und Ausreise von Nicht-EU-Bürgern. Mit der technologischen Aufrüstung zum SIS II wird es möglich sein, Inhaber von abgelaufenen Besuchervisa sofort zu benennen und auf der Stelle auszuweisen. Zudem soll das System mit Daten von Banken, Gesundheits- und anderen Institutionen gefüttert werden.

Von JELLE VAN BUUREN *

Im Straßburger Stadtteil Neuhof befindet sich in einem streng bewachten Hochsicherheitsgebäude der Zentralcomputer des Schengener Informationssystems (SIS). Auf den Festplatten des Servers, des digitalen Herzstücks der polizeilichen Zusammenarbeit in Europa, lagern Millionen von Daten – über Ausländer, die in der Europäischen Union (EU) unerwünscht sind, über gesuchte Kriminelle, gestohlene Autos, Waffen und Verdächtige, die künftig zu überwachen sind.

Zugriff darauf haben tausende europaweit installierte Behördencomputer, die sofort herausfinden können, ob ein bestimmter Ausländer im SIS verzeichnet ist. Nach neuesten Informationen (Stand: Ende 2001) enthält die SIS-Datenbank über 10 Millionen Einträge, darunter rund 15 Prozent personenbezogene Angaben. 90 Prozent davon betreffen die Kategorie „unerwünschte Ausländer“.

Wie effektiv das System tatsächlich ist, lässt sich nur schwer beurteilen. Offiziellen Angaben zufolge wurden 1999 54 000 verknüpfte Anfragen durchgeführt.1 Seither haben die Mitgliedstaaten des Schengen-Abkommens2 keine Tätigkeitsberichte mehr veröffentlicht.

Zu erwarten steht freilich, dass die Datenabfragen in den kommenden Jahren deutlich zunehmen werden. Unter höchster Diskretion arbeiten die Schengen-Länder derzeit an weitreichenden Veränderungen des SIS. Als Begründung wird offiziell das starke Anwachsen der Informationsströme angeführt, ein Problem, das sich mit dem Beitritt der neuen EU-Mitglieder weiter verschärfen wird.

Doch der Ausbau des Schengener Informationssystems – im Euro-Jargon SIS-II genannt – beschränkt sich keineswegs auf einige neue Computer und größere Festplatten, um die anwachsenden Datenmengen bewältigen zu können. Die Technik dient nur als Vorwand für eine substanzielle Aufrüstung des Systems und seiner Fähigkeiten.

So ist beispielsweise geplant, jeden Ausländer zu registrieren, der mit Visum in die EU einreist. Die nationalen Zoll- und Einwanderungsbehörden wollen überprüfen können, ob der Besucher die Union nach Ablauf seines Visums auch tatsächlich wieder verlässt – falls er das nicht tut, soll ein Eintrag im SIS erfolgen. Der Ausländer würde dann in ganz Europa als „Illegaler“ gelten und könnte nach seiner Festnahme sofort ausgewiesen werden. Angeblich sei eine derartige Maßnahme nach den Anschlägen vom 11. September 2001 unumgänglich. In einem internen Arbeitspapier der Schengen-Gruppe heißt es hierzu, eine „bessere Kontrolle von Personen, die in den Schengen-Raum einreisen, wird zu einer Verbesserung der inneren Sicherheit führen“.3

Als weitere Zielgruppe hat SIS-II die Globalisierungsgegner ausgemacht. Sie gelten als „potenziell gefährliche Personen, die an der Beteiligung an bestimmten internationalen Kundgebungen zu hindern sind“4 . In den seltenen Fällen, in denen die EU-internen Landesgrenzen in den vergangenen Jahren vorübergehend geschlossen wurden, ging es beinahe immer darum, Demonstrationen anlässlich europäischer oder internationaler Gipfeltreffen zu behindern. Die Personendaten der festgenommenen Globalisierungsgegner werden inzwischen regelmäßig im SIS gespeichert.

Doch damit nicht genug. Nach der in Brüssel zirkulierenden Wunschliste der EU-Staaten sollen die personenbezogenen Datensätze um Fotos, Fingerabdrücke, DNA-Abdrücke und biometrische Daten ergänzt werden. In Verbindung mit Gesichts- und Iriserkennungssystemen ließe sich damit die Identifizierung der überprüften Personen perfektionieren. Wie es heißt, fordern polizeiliche Stellen seit langem Abfragemöglichkeiten auf der Grundlage „unvollständiger“ Informationen.

Aber erst durch die Einbeziehung der Nachrichtendienste würde sich die Zielsetzung des Schengen-Systems auch qualitativ verändern. Die Geheimdienste sähen es nicht ungern, wenn sie in der SIS-Datenbank alle für sie interessanten Informationen recherchieren dürften – ein Ansinnen, das dem ursprünglichen Zweck der Datensammlung als begleitendes Instrumentarium des freien Personenverkehrs innerhalb des Schengen-Raums widerspricht.

Wieder einmal zeigt sich, dass die Verwendung personenbezogener Informationen zu Zwecken, die bei ihrer Erhebung gar nicht vorgesehen waren, ein Hauptproblem von Datenbanken ist. Steht die Tür erst einmal offen, werden andere Behörden ihr Interesse anmelden: die Kfz-Stellen, um nach gestohlenen Autos zu fahnden, die zentralen Finanzbehörden, um Informationen zur Steuerhinterziehung zu sammeln, die für Flüchtlinge und Asylbewerber zuständigen Ämter, um gefälschte Papiere zu erkennen, die Sozialämter, um Sozialhilfebetrug aufzudecken. Auch Europol, die Dachorganisation der europäischen Polizeibehörden, soll nach offiziellen Angaben Zugang zu der elektronischen Goldmine erhalten.5

Sollten die geplanten Neuerungen verabschiedet werden, würde sich das SIS von einem EU-internen Grenzkontrollorgan zu einem eher „proaktiv“ orientierten Polizei- und Ermittlungsinstrument entwickeln. Dass die Beteiligten das System fortwährend mit neuen Informationen füttern würden, um die laufenden Ermittlungen voranzutreiben, liegt in der Natur der Sache. Und so dürfte es nicht lange dauern, bis neben Tatbeständen auch Verdachtsmomente und Gerüchte Eingang in die Datensammlung finden.

Schon das „alte“ SIS zeichnet sich durch mangelnde Transparenz und fehlende Kontrollmöglichkeiten aus. Beim künftigen SIS-II besteht zudem die Gefahr einer Überladung mit ungeprüften Informationen. Nach einem Bericht des niederländischen Rechnungshofs von 1999 fanden sich im niederländischen Teil des SIS zahlreiche „schmutzige“ Daten, weil die Staatsanwaltschaft die Polizei nicht davon in Kenntnis setzte, wenn sie ein Verfahren einstellte. Die Schengen-Kartei führte die Betreffenden folglich weiterhin als „Verdachtspersonen“. Jeder EU-Bürger hat ein Recht darauf, die wahrheitsgemäße Führung seiner Schengen-Karteikarte zu überprüfen. Die hierfür vorgesehenen Verfahren unterscheiden sich von Land zu Land, und nur wenige Bürger sind über ihre diesbezüglichen Rechte im Bilde.

Virtuelle Persönlichkeitsprofile

DIE „Gemeinsame Supervisionsbehörde Schengen“ (JSA), die für die Überwachung der Rechtskonformität des Schengen-Abkommens mit den Personenrechten zuständig ist, hat zu diesem Thema eine Informationsbroschüre erarbeitet.6 In den Niederlanden wurde sie erst vor kurzem verteilt, in Belgien bereits zweimal, in Frankreich noch nie. Ein Ausländer, dem die Einreise in die EU verwehrt wird, sieht sich mit einem schier undurchdringlichen Gewirr an Bestimmungen konfrontiert. Verweigert ihm zum Beispiel Italien wegen eines von Frankreich getätigten SIS-Eintrags die Einreise, könnte er nur vor einem französischen Gericht Widerspruch einlegen – aber nach Frankreich darf er nicht einreisen. Zu befürchten steht überdies, dass aus heterogenen Datenbeständen „virtuelle Persönlichkeitsprofile“ angelegt werden, die mit der Realität wenig zu tun haben – eine Gefahr, die nach Schutzvorkehrungen ruft. Eine öffentliche Debatte über die innereuropäische Zusammenarbeit der Polizeibehörden findet jedoch nicht statt. Nur ein paar Experten treffen sich regelmäßig, um die Ziele der polizeilichen Kooperation festzuschreiben und in die Tat umzusetzen.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 legten Experten Forderungen auf den Tisch, die sich nahtlos in die von Asyl- und Ausländerrechtsfragen dominierte Sicherheitsdiskussion einfügen. Die Idee stammt aus den Vereinigten Staaten. Dort wurde Admiral John Poindexter trotz seiner Verwicklung in „Irangate“ mit dem Projekt „Total Information Awareness“ betraut. Demnach sei jede Person mit einer „informationellen Signatur“ (human ID) zu versehen, um die Zielfahndung nach potenziellen Terroristen zu erleichtern.

Das umstrittene Projekt, in dessen Rahmen alle verfügbaren personenbezogenen Daten gesammelt und ausgewertet werden sollen, sieht die Entwicklung „revolutionärer Technologien zur Verwaltung riesiger Datenmengen“ vor. Das System soll mit Informationen aus dem Datenbestand von Banken, medizinischen Einrichtungen, Telekommunikationsanbietern und Transportunternehmen gefüttert werden und die Möglichkeit bieten, die gesammelten Daten mit Informationen der Geheimdienste gegenzuchecken. Ein Rechtshilfeabkommen mit der EU wurde ohne vorherige parlamentarische Prüfung bereits unterzeichnet. Von Datenschutz ist darin nicht die Rede. Auch über geeignete Abhörtechniken gibt es zwischen Amerikanern und Europäern enge Kontakte. In diesem Sinne wurde am 19. Februar 2003 ein Abkommen unterzeichnet, das Luftfahrtgesellschaften verpflichtet, den US-amerikanischen Behörden sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Daten ihrer Passagiere auf Transatlantikflügen weiterzugeben.7

In einem internen Arbeitspapier der Schengen-Gruppe heißt es: „Über die Verwendung der SIS-Datenbestände für anfänglich nicht vorgesehene Absichten, insbesondere für polizeiliche Informationszwecke im weitesten Sinn, herrscht inzwischen ein breiter Konsens, der mit den Schlussfolgerungen des Rats aus den Ereignissen vom 11. September übereinstimmt.“8 Der „breite Konsens“, von dem die europäischen Polizeibeamten hier sprechen, ist freilich nicht das Ergebnis einer öffentlichen Diskussion, sondern das Produkt geheimer Verhandlungen in den Hinterzimmern der Europäischen Union.

deutsch von Bodo Schulze

* Journalistin, Mitarbeiterin des Amsterdamer Büros von Eurowatch.

Fußnoten: 1 Justice, „The Schengen Information System – a human rights audit“, London 2000, http://www.justice.org.uk 2 Dem 1985 von Frankreich, Deutschland, Luxemburg, Belgien und den Niederlanden unterzeichneten Abkommen sind bis auf Großbritannien und Irland inzwischen alle fünfzehn EU-Mitgliedstaaten beigetreten. Die Vertragsbestimmungen sind Teil des „acquis communitaire“ und müssen daher auch von den neuen EU-Migliedern erfüllt werden. 3 Europäischer Rat, „New functions of the SIS II“, Dokument 6164/5/01 Rev 5, Limite, Brüssel, 6. Nov. 2001. 4 Europäischer Rat, „New functions of the SIS II“, Dokument 5968/02, Limite, Brüssel, 5. Februar 2002. 5 Management Board of Europol, „Europol‘s operational needs for access to SIS“, Dossier 2510-70r1, Den Haag, 28. Mai 2002. 6 www.cnp.d.pt/schengen 7 Vgl. The International Herald Tribune, Paris, 20. Februar 2003. 8 Europäischer Rat, s. FN 4.

Le Monde diplomatique vom 14.03.2003, von JELLE VAN BUUREN