14.03.2003

Die Ignoranz und das Mittelmeer

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Die Ignoranz und das Mittelmeer

Von MOHAMMED ARKOUN *

ISLAM und Moderne: Es ist dringend notwendig, diese gegenwärtig so wichtigen Schlüsselbegriffe neu zu überdenken, um die vorhandenen Missverständnisse zu überwinden. Der polemische und ideologisch aufgeladene Gebrauch, der von diese Begriffen laufend gemacht wird, hat dazu geführt, dass sie als Gegensatz, als antagonistische Kräfte erscheinen. Diese Vorstellung entbehrt jeder historischen Grundlage und setzt sich über sämtliche soziologischen, anthropologischen, theologischen und philosophischen Analysen hinweg.

Doch all diese Disziplinen müssen befragt werden, um zu begreifen, was sich mit dem Denken, der Kultur und der Zivilisation der islamischen Welt verbindet, und um genau zu formulieren, was gewöhnlich nicht wahrgenommen wird – auch von den selbst ernannten Experten und Vertretern der beiden Antipoden dessen, was ich als „Geschichte der Gegenwart“ bezeichnen würde.

Obwohl die Auseinandersetzung zwischen „dem Islam“ und „dem Westen“ bereits in den Zeilen des Koran zu finden ist, darf die Wirkung der wiederholten folgenschweren Kriege nach 1945 nicht unterschätzt werden: Erst sie haben die Leidenschaften entfacht und den unüberwindlichen Hass, den gegenseitigen Ausschluss betrieben – auf der Basis alter islamischer, jüdischer oder christlicher Theologeme, die seit dem Mittelalter als intellektuelle, „spirituelle“, moralische und juristische Exklusionssysteme funktionieren.

Diese Systeme, von den jeweiligen Gemeinschaften erdacht, um sich als Auserwählte Gottes und alleinige Inhaber der geoffenbarten Wahrheit zu präsentieren, liefern bis heute die Legitimation für die zahlreichen „gerechten Kriege“: für den algerischen Befreiungskrieg (1954–1962) wie für den Suezkrieg (1956), für den Sechstagekrieg (1967), den Jom-Kippur-Krieg (1973), den Golfkrieg (1990) und neuerdings eben den Krieg gegen den Terrorismus. Es fällt auf, dass es etwas gibt, was die Protagonisten all dieser Kriege gemeinsam haben: nämlich das kollektive religiöse, kulturelle und symbolische Erbe des Mittelmeerraums, das erst aufhörte, ein gemeinsames zu sein, als dieser Kulturraum mit dem Aufkommen des Islam in „jüdisch-christliche“ (später dann modern-laizistische) Küsten auf der einen, und muslimische arabisch-türkisch-iranische Küsten auf der anderen Seite zerfiel. Die verschiedenen Historiografien spiegeln die Ausbildung unterschiedlicher kollektiver Gedächtnisse in abgeschotteten „mythohistorischen“ Zitadellen, immer von demselben dichotomischen Grundmuster geprägt: Es gelte, das Gute und Wahre gegen das Böse und die Verirrung zu verteidigen.

Das zu diesem Zwecke im „modernen“ europäischen Westen verwendete Vokabular beschwört mittelalterliche Vorstellungen und Konnotationen, während es sich aus der orthodoxen westlichen Wertevulgata bedient: Demokratie, Laizismus, Humanismus … Wie kann es gelingen, mit dem Islam in Eintracht zu leben? Um diese Frage zu beantworten, muss man zwischen dem geopolitischen, geoökonomischen und monetären Konzept „Westen“ und dem geohistorischen und geokulturellen Konzept „Europa“ unterscheiden: Der „Westen“ hat sich ab 1945 unter der immer deutlicher hervortretenden Führung der Vereinigten Staaten herausgebildet, besonders in Abgrenzung gegen das, was die anglo-amerikanische Terminologie als „Middle East“ bezeichnet; „Europa“ ist eng mit Ersterem verbunden, teilt aber mit dem Islam bis ins frühe Mittelalter zurückgehende historische, intellektuelle und kulturelle Bezüge.

Auf diese Bezüge wird immer wieder verwiesen, sowohl auf der Ebene bilateraler, zwischenstaatlicher Beziehungen als auch auf der Ebene der Europäischen Union, insbesondere im 1995 in Barcelona begonnenen europäisch-mediterranen Dialog. Denn es gibt sie ja, die alten, geografisch bedingten, nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen dem mediterranen Europa und der arabisch-türkischen Welt des früheren Mare Nostrum. Angesichts der Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum wird deutlich, weshalb die EU dringend politisch aktiv werden muss: Es gilt, das Stadium der ungleichen, nur sporadisch gepflegten Beziehungen zu überwinden und diese immer wieder neu auszuhandeln – und zwar mit Staaten, die sich um ihre demokratische Legitimität nicht kümmern.

Nur so kann eine gemeinschaftliche Geschichte aller Völker des Mittelmeerraumes geschrieben werden. Grundlage einer solchen Gemeinschaft wäre, dass alle Parteien ausnahmslos die jeweiligen Werte der anderen respektieren, obwohl sie diese in den Kriegen der vergangenen 50 Jahre bekämpft haben. Diese von den Staaten und den Völkern sorgfältig zu entwickelnde und zu schützende Gemeinschaft setzt die Inauguration einer Präventivdiplomatie voraus, die sich außerhalb von Krisenzeiten dafür einsetzt, dass sich im Bereich der Human- und Gesellschaftswissenschaften eine gemeinsame Forschungspolitik entwickeln kann. Wenn die Ergebnisse dieser Forschung sowohl durch die Medien als auch als gemeinsame Bildungsgrundlage weite Verbreitung finden, ist diese Gemeinschaft auch überlebensfähig. Im Vordergrund sollten dabei jene Disziplinen stehen, die in der Lage sind, unvoreingenommene wissenschaftlich begründete Lösungen für jene Streitfragen zu erarbeiten, an denen sich in den vergangenen Jahrhunderten die staatlichen, nationalen und religiösen Geister geschieden haben.

Viel zu lange war dieses Feld beherrscht von einer mythoideologischen Geschichtsschreibung die dem Konflikt ständig neuen Stoff geliefert hat und jederzeit bereit war, die alten Waffen gegen den Erbfeind zu erheben. Das geschieht nach wie vor – nicht zuletzt in diversen interreligiösen und interkulturellen Dialogen, in denen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der so genannten Entkolonisierung nichts als moralisierende Appelle zur Toleranz sowie wohlfeile Respektbekundungen gegenüber den fremden Werten wiedergekäut werden. Die Reden, die auf den unzähligen Veranstaltungen dieser Art, an denen ich teilgenommen habe, geschwungen wurden, waren allenfalls aufschlussreich im Hinblick auf die Ignoranz der religiösen Tradition des anderen, und erst recht im Hinblick auf die Bedeutung der Religion als anthropologische Dimension der Conditio humana.

Nur vor dem Hintergrund einer in diesem Sinne gemeinschaftlichen Geschichte der Mittelmeervölker könnten der Islam und die Muslime sich erstmals in ihrer Geschichte den großen Herausforderungen der Moderne stellen und von dem universalistischen Ansatz wissenschaftlichen Denkens und der philosophischer Fragestellungen profitieren.

Bis heute hat der Islam die freiheitlichen Errungenschaften des modernen kritischen Denkens regelmäßig zurückgewiesen. Er hat sich in dogmatischer Klausur verschanzt, mit einer aggressiven Haltung gegen jenen selbstsicheren, alles beherrschenden Westen, wie die Völker der muslimischen Welt ihn ja auch tatsächlich erlebt, wahrgenommen und interpretiert haben. Darin fand sich Nahrung genug für die blühenden Widerstandsfantasien in den Zufluchtsnestern einer an den Rand gedrängten Identität.

Es ist falsch, die abstrakten Einheiten „Koran“ oder „Islam“ als Kampfideologie zu inkriminieren. Kampfideologie ist vielmehr eine Reaktion auf den äußeren Druck, der mindestens seit dem 19. Jahrhundert auf diese Gesellschaften ausgeübt wurde und denen keine Chance blieb, ihre eigene Geschichte um ihrer selbst willen und aus sich selbst heraus zu bearbeiten und zu gestalten. Dieser Prozess war durch den Willen fremder Mächte mit offenen Eroberungsabsichten stets unterbrochen, verfälscht und umgelenkt worden. Kampfideologie ist das Produkt einer Dialektik der Herrschaft, der politischen und kulturellen Aggression sowie der geopolitischen Kontrolle auf der einen Seite und des verzweifelten Gefühls der Schwäche, der Erniedrigung, der Rückständigkeit, der Unterdrückung und des Scheiterns auf der anderen.

Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass diese doch sehr offenkundige Dialektik von der westlichen Seite nie als solche verstanden wurde und dass regelmäßig der umgekehrte Schluss aus der Existenz dieser Ideologie gezogen wird – sogar von einflussreichen Historikern wie Bernard Lewis1 , der die Attentate vom 11. September mit Triebkräften, Faktoren und „freien Entscheidungen“ erklärt, die allesamt den inneren Verhältnissen des „Islam“ und der arabischen Regime entspringen.

Auch wenn man das Zusammenspiel zwischen fernen Ursachen und unmittelbaren Ereignissen, das die Strukturen der islamischen Gesellschaften geformt hat, nie außer Acht lassen darf, stehen im Vordergrund doch die verstärkende Wirkung und die erschwerten Bedingungen der offenen Intervention des Westens seit dem symbolischen Datum 1492 – der Entdeckung Amerikas und der Vertreibung der Juden und Muslime aus Spanien.

Es gäbe noch viel zu sagen über all die Missverständnisse und die Ignoranz, die in den Traditionen der Geschichtsschreibung kultiviert wurden; über die wiederholten Kriege, in denen sich das Verhältnis zwischen Täter und Opfer immer wieder umkehrte; über die stets und ständig hochgehaltenen Werte, mit deren Hilfe man irgendeine obsolete Legitimität wiederbeleben will und die von den eigenen Leuten längst verraten und missachtet werden. Der maßlose Eifer, die mörderische Wut, die gegenseitige Verurteilung, die radikale Ablehnung, die wir seit dem 11. September allenthalben beobachten, lassen kaum noch Raum für Stimmen und Zeugnisse, die der Wahrnehmung, dem Wissen und dem historischen Handeln neue Horizonte öffnen könnten.

Das Wichtigste wäre ein kritisches Denken, das über das nötige begriffliche Instrumentarium und über genügend Vernunft verfügt, um eine gemeinschaftliche und sinnvolle Geschichte der vom manichäischen Dualismus befreiten Völker zu schreiben. Eine Geschichte, die verzichten kann auf Zuschreibungen wie gut und böse, wahr und falsch, auserwählt und verworfen, zivilisiert und barbarisch, aufgeklärt und in Finsternis lebend.

deutsch von Grete Osterwald

* Autor u. a. von „Que s‘est-il passé le 11 septembre“?, Malakoff (Desclée de Brouwer) 2002.

Fußnote: 1 Bernard Lewis: „Der Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt die Vormacht verlor“, München (Lübbe), 2002.

Le Monde diplomatique vom 14.03.2003, von MOHAMMED ARKOUN